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Zitat des Tages: Atemschaukel

"Es war noch Krieg im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht etwas nützt, wenn es schon nichts hilft. Weil nichts auf der Welt etwas half. Weil ich unabänderlich auf der Liste der Russen stand, hat mir jeder etwas gegeben und sich sein Teil dabei gedacht. Und ich habe es genommen und mir gedacht mit meinen siebzehn Jahren, dass dieses Wegfahren zur rechten Zeit kommt. Es müsste nicht die Liste der Russen sein, aber wenn es nicht zu schlimm kommt, ist es für mich sogar gut. Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten. Statt Angst hatte ich diese verheimlichte Ungeduld. Und ein schlechtes Gewissen, weil die Liste, an der meine Angehörigen verzweifelten, für mich ein angenehmer Zustand war. Sie fürchteten, dass mir etwas zustößt in der Fremde. Ich wollte an einen anderen Ort, der mich nicht kennt. (...)"

 Herta Müller: Atemschaukel. Hanser, München 2009.  

"Es ist Deutschland hier"

Noch nicht im Amt, beweist der künftige deutsche Außenminister bereits souveräne Weltläufigkeit. Noch unklar ist hingegen, wie das wirtschaftspolitische Profil der neuen Bundesregierung aus sozialdemokratisierter Merkel-CDU und marktradikalen Freidemokraten aussehen wird. Ginge es allein nach der FDP, dürfte sich die Bevölkerung wohl auf verschärfte "Deregulierung" und Entstaatlichung in puncto Bildung und Wohlfahrt einstellen - und auf neue Freifahrtscheine für die entfesselte Weltwirtschaft.

Wer immer noch rätselt, wie kurz nach Ausbruch der größten Wirtschaftskrise seit den 1920er Jahren eine neoliberale Partei in diesem Land mit derartigem Aplomb an die Macht kommen konnte, dem sei die spannende, nicht nur stilistisch ansprechende Lektüre der von Christoph Buterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak unter Mitarbeit von Tim Engartner verfassten Kritik des Neoliberalismus - für 12,90 Euro inzwischen schon in der 2. Auflage erhältlich - sehr ans Herz gelegt.

Die Autoren rekonstruieren geistige Grundlagen, Geschichte und das gesellschaftspolitische Programm der weltweit heute vermutlich wirkungsmächtigsten Ideologie, deren Ziel nicht weniger als die "Entthronung der Politik" (Friedrich August von Hayek) ist. Sie erklären, wie es zur globalen Hegemonie des Neoliberalismus gekommen ist, obwohl bereits dessen Prämissen wirklichkeitsfremd und obskur sind, und führen anhand zahlreicher Beispiele aus, wie Privatisierung, Deregelierung und Flexibilisierung aus demokratischen Gemeinwesen postfeudale und repressive Konkurrenzgesellschaften machen.

Das Buch der Kölner Forscher ist ein Musterbeispiel kritischer und engagierter Wissenschaft und ein wertvoller Navigator für die kommende Legislaturperiode und darüber hinaus.

Déjà-vu...

"Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs."

Walter Benjamin - Über den Begriff der Geschichte (1939)

Die Realität der Massenmedien

Es gibt keine Politikverdrossenheit -- sondern nur falsche Mediennutzung. Die Politiker reden nicht so, weil sie so reden: sie reden IM FERNSEHEN so, weil das Fernsehen die boulevarleske Struktur vorgibt. Wer sich bequemt gute Bücher oder eine überregionale Zeitung zu lesen oder sogar den Deutschlandfunk einzuschalten, der wird eine ganz andere Medienrealität teilen. Das ist noch immer nicht die Realität, aber auch Medienkonstruktionen kennen gewaltige Niveauunterschiede. Die erste Wahl findet also nicht an der Wahlurne statt, sondern zwischen Medienrealitäten. Wer Schimpfen will, der halte sich ans TV, wer etwas über Politik erfahren will, lieber an gute Tageszeitungen oder das Qualitätsradio. 

Politiker mühen sich ab an der Steuerung komplexer Systeme; diese Aufgabe ist wesentlich schwieriger als die Fernbedienung eines Fernsehens. Auf vielen Ebenen ist Politik konsensorientiert, sachlich, bedacht und fachlich. Die Unterhaltungsmedien nennen das "langweilig". Aber ist Politik eine Unterhaltungssendung? Politikern wird hierzulande alles vorgeworfen, aber auf welcher Grundlage? Ist die bundesdeutsche Demokratie so schlecht? Gibt es Alternativen zur Demokratie? Ein Blick ins Geschichtsbuch oder in viele andere Länder mahnt zur Zurückhaltung. Die fortgeschrittene Demokratie braucht Kritik, keine wohlständige Verdrossenheit. Sie braucht auch Zuspruch. Und vor allem: anspruchsvolle Medien, die anspruchsvoll genutzt werden -- und das sind bisher die "alten Medien" und weniger Fernsehen und Internet. 

Der kleine Unterschied

*

Gefunden unter http://xkcd.com/242/

Angriff auf die Freiheit

Juli Zeh und Ilija Trojanow gehören nicht zu den Autoren, die sich mit popkulturellem Befindlichkeitsschrott aufhalten. Ihrem Ruf als politisch engagierte Schreiber werden sie nun mit einem streitbaren Essay für die bürgerliche Freiheit gerecht. Ihre 170 Seiten Tour durch Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und den Abbau von Freiheitsrechten in der Folge des "Anti-Terror-Kampfes" wird vor den anstehenden Wahlen hoffentlich noch zum Bestseller. Der polemische Stil macht das Buch leicht lesbar. Hier wird nicht seicht abgewogen, sondern zurückgeschlagen. Dass Juli Zeh auch eine preisgekrönte Juristin ist und beide Autoren akribisch haben recherchieren lassen, zeigt der umfangreiche Anmerkungsteil. Es wird nicht auf Sand gebaut. Das Buch steckt voller erschreckender Fakten, die eine getrübte Massenwahrnehmung korrigieren sollen: Der Grundrechtestandard ist keine Sicherheitslücke! Nicht die Kritiker des Abbaus von Freiheitsrechten sind hysterisch, sondern die Überreaktion auf den Terrorismus. Seit 2001 hat sich das Verhältnis westlicher Staaten zu ihren Bürgern grundlegend verändert. Er garantiert weniger deren Rechte, er misstraut und überwacht seine Bürger. Einige Jura-Professoren in Deutschland (also Lehrende!) fordern den Ausstieg aus den Menschenrechtskonventionen, weil diese die Folter verbieten. Jura-Professoren, die für die Wiedereinführung der Folter plädieren, werden von Wolfgang Schäuble ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Wie schleichend der Prozess des Grundrechteabbaus verläuft, darauf machen Zeh und Trojanow aufmerksam -- und von ihrem Buch werden die Innenminister Europas sicher abraten. Eigentlich ist es fatal, dass es in Deutschland keine liberale Kraft, schon gar keine liberale Partei gibt. Die FDP bleibt in Fragen der Freiheit zuverlässig opportunistisch. Der streitbare Essay zeigt aber, dass wir uns auch heute auf den erkämpften Freiheiten nicht ausruhen können. Die bürgerliche, nicht die wirtschaftliche Freiheit braucht Fürsprecher! Und dieser Essay braucht viele Leser.

Juli Zeh / Ilija Trojanow: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Hanser, München: 2009

 

Der Mond bei 360°

Aus Anlass des 40. Jahrestages der Apollo 11-Mission und der ersten Mondlandung wurden beim moon-panorama-project 360°-Panoramen der Mondoberfläche angefertigt. Die Panoramen wurden aus originären Fotos der NASA zusammengesetzt.
Jedes der Panoramen zeigt eine Rundumsicht der Umgebung einer der sechs Apollo-Missionen, so dass man selber einen kleinen Mondspaziergang unternehmen kann.

Aufgerufen werden kann die Animation unter:
http://www.panoscope.de/mond/moon-panorama-project.html

moon.jpg

James Bond ist ein Physikgenie

"Glaubt eigentlich irgendjemand ernsthaft, dass James Bond ohne Physikkenntnisse noch leben würde?" Diese Frage stellen Metin Tolan und Joachim Stolze, Physikprofessoren an der TU Dortmund und eingefleischte Bond-Fans, in ihrem Buch Geschüttelt, nicht gerührt. James Bond und die Physik.

Tolan und Stolze überführen mit stupendem Detailwissen, eleganten Überlegungen und leichter Feder den Meisterspion und seine halsbrecherischen Aktionen in wissenschaftlich solide Analysen. Auf der Grundlage von Bonds Körpergröße (1,83 Meter) und Gewicht (76 Kilogramm) – der ,James-Bond-Einheit‘ – berechnen die Physiker die Wahrscheinlichkeit von Knochenbrüchen bei Sprüngen von Kranauslegern (hoch), die Möglichkeit von Verfolgungsjagden auf senkrechten Stahlträgern (vorhanden) und in 5000 Meter Höhe ohne Fallschirm (dito!) sowie die Notwendigkeit von allerlei Spezialanfertigungen (meistens gegeben, aber wenig realistisch). Sie rekonstruieren die Wirkung des mysteriösen ,Atomgeräts‘ aus dem wohl berühmtesten aller Bond-Filme, Goldfinger, und der Röntgenbrille aus Die Welt ist nicht genug, von Raketenrucksäcken (Feuerball) und Laserwaffen (Stirb an einem anderen Tag) und klären so nebenbei auch einige peinliche Filmfehler auf. Außerdem lüften sie das Geheimnis um den wohl berühmtesten Drink der Filmgeschichte (der sich als wahrer Gesundbrunnen entpuppt).

Jede besprochene Filmszene wird zunächst nacherzählt, anschließend "so quantitativ und so detailgenau wie möglich ausgewertet". Am Ende jedes Abschnitts können sich besonders Wissenshungrige dann noch in die "Details für Besserwisser" vertiefen. Dabei geht es den Autoren nicht darum, James Bonds spektakuläre Stunts als Humbug zu entlarven (was sie aber nicht selten dennoch tun...). Vielmehr versuchen sie, Bedingungen anzugeben, unter denen die Filmszenen tatsächlich klappen könnten – oder eben auch nicht.
So dürfte sich, wenn sie denn funktionieren sollte, zum Beispiel die Magnet-Uhr, die Bond zu Beginn von Leben und sterben lassen dazu benutzt, einen Löffel von der Untertasse seines Vorgesetzten M anzuziehen, nicht auf 40 Millionen Grad aufheizen. Dies geschähe jedoch, sobald Bond die für die Magnetwirkung nötige Spezialbatterie von 9.000 Ampere einschalten würde. "Als Konsequenz würde James Bond kurz nach dem Einschalten der Uhr in seine atomaren Bestandteile zerlegt werden und verdampfen." Nach rund 300 Seiten ist für Tolan und Stolze jedenfalls klar, "dass eine solide Physikausbildung für jeden Doppelnull-Agenten offensichtlich lebensnotwendig ist." Manchmal auch etwas mehr als das. Immerhin muss James Bond gelegentlich sogar gekoppelte nichtlineare Differentialgleichungen lösen – in wenigen Sekunden und auf einem Motorrad sitzend, das einem Abhang entgegenrast.

Das reich bebilderte, anspruchsvoll aufgemachte und humorvoll geschriebene Buch ist nicht nur für Bond- und Physik-Freunde ein äußerst kurzweiliger Lesegenuss!
Im Piper-Verlag erschienen, kosten seine 302 Seiten 16,90 Euro. Inzwischen gibt es von Metin Tolans physikalischer Bond-Vorlesung auch eine DVD.

In der Eifel fischen

 

"Vater ging, wann immer Zeit war, mit Hermann und mir zusammen fischen." Im neuen Roman von Norbert Scheuer, der die Eifel zu einem etablierten Distrikt der europäischen Literatur macht, kommt der Protagonist zurück in die felsige Heimat. Er will sich um seinen Bruder kümmern, der sein Zimmer nicht mehr verlässt; wenn er überhaupt in diesem Zimmer sein sollte. So richtig tun kann er nichts, außer fischen zu gehen. Und aus dem Fluss zieht er die Erinnerung, die Geschichten und Geschichtchen der verschrobenen Eifelbewohner, also auch seine eigene. Dieser Roman ist nicht nur Fischern zu empfehlen, aber die werden ihre besondere Freude daran haben -- nicht allein wegen der beigefügten Strichzeichnungen der Fische. "Denn wenn wir am Fluss ankamen, dann hörte Vater auf zu reden. Er hielt seinen Finger vor dem Mund (...) um anzudeuten, dass die Fische jetzt alles hörten." Fischer können schweigen, Leser auch. Der Roman "Überm Rauschen" ist keine verschwafelte Stadtgeschichte, sondern er ist ruhig (wie die Fischer), subtil (wie das Angeln), metaphernfrei und karg (wie die Eifel). Dem Vorbild William Faulkner wird still gehuldigt, erneut läuft eine Figur namens "Satorius" durch den Roman -- den kennen die, die den rauen Landburschen im Süden der USA folgen. Und auch die greifen oft zur Angel. 

Norbert Scheuer: Überm Rauschen. Roman.

167 Seiten, 20 schwarz/weiß-Abbildungen, gebunden, C.H. Beck / München. 

Open, Closed, or Clopen Access?

Ein interssanter Beitrag zum Spannungsfeld von Open Access Publishing und Closed Access Publishing in der Wissenschaftswelt: Open, Closed, or Clopen Access?.

Wissenschaft, Planung, Vertreibung

Eine Ausstellung in Trier erinnert an die Verstrickungen der Wissenschaft in die Machenschaften der Nationalsozialisten
Im Juni 1942 übergab der Berliner Agrarwissenschaftler Prof. Konrad Meyer den Nationalsozialisten eine als "Generalplan Ost" bekannt gewordene Denkschrift zur "Germanisierung" der Ostgebiete. Der Plan sah vor, innerhalb von 25 Jahren fast fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen und im Westteil der eroberten Sowjetunion anzusiedeln. Millionen slawischer und jüdischer Bewohner dieser Region sollten versklavt, vertrieben und ermordet werden. Die Pläne der Nationalsozialisten waren bezeichnend für den verbrecherischen Charakter ihrer Politik. Zugleich belegen sie die Skrupellosigkeit der daran beteiligten Experten, deren Arbeiten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in beträchtlichem Umfang finanziert wurden.

Unter dem Titel "Wissenschaft, Planung, Vertreibung - Der Generalplan Ost der Nationalsozialisten" zeigt die Deutsche Forschungsgemeinschaft vom 1. Mai bis 29. Juli 2009 in der Universitätsbibliothek Trier eine Ausstellung, die von der engen Verbindung akademischer Forschung, rationaler Planung und Forschungsförderung im Dienste der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik berichtet. In drei Abteilungen skizziert die Ausstellung die Vorgeschichte des Generalplans Ost, beleuchtet die Rolle der Wissenschaft sowie die Planungen für eine ethnische Neuordnung Osteuropas während des Zweiten Weltkriegs und wirft einen Blick auf die Realitäten von Umsiedlung, Vertreibung und Völkermord zwischen 1939 und 1945.

"Wissenschaft, Planung, Vertreibung - Der Generalplan Ost der Nationalsozialisten", eine Ausstellung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 1. Mai bis 29. Juli 2009 in der Universitätsbibliothek Trier, Universitätsring 15, Trier, geöffnet montags bis freitags von 8 bis 24, samstags von 8 bis 19 und sonntags von 11 bis 15 Uhr, der Eintritt ist frei. Zur Ausstellung erscheint ein kostenloser Katalog.

Quelle: IDW

Q

Wer glaubt, dass die Erfindungen von Q für 007 völlig aus der Luft gegriffen sind, dem sei der Beitrag Top 10 real-life spy gadgets empfohlen. Auch für alle anderen gilt: Lesen und wundern.

Ein neues Deutschland?

Zu Beginn dieses Jahres bat das Feuilleton der FAZ den Schriftsteller Jörg Albrecht, in Anklang an Stefan Zweigs Umbruchserfahrungen ("Die Welt von gestern") die Brüche in seiner eigenen Lebenswelt zu schildern. Leider ist nicht nur die Vermessenheit, den Erinnerungen eines schicksals- und leidgeprüften Exilanten des Zweiten Weltkrieges diejenigen eines in den BRD-Wohlstandsspeck der achtziger Jahre geborenen Jungautors gegenüberzustellen, der Redaktion anzulasten.

In seinem verhedderten Patchwork-Text "The world of morgen" beweist Albrecht vor allem, dass man im Jahr 2009, anders als in seinem Geburtsjahr 1981, weder Deutsch noch Englisch schreiben muss, um von der FAZ gedruckt zu werden. Ansonsten beschränken sich die Umbruchserfahrungen Albechts in erster Linie auf banale Beschleunigungserlebnisse vor der Videospielkonsole. Ob sich diese stark eingeschränkte Wahrnehmung daraus erklärt, dass Albrecht die meiste Zeit seines Lebens im Internet, vor dem Fernseher oder im "Strukturwandel" steckengebliebenem Ruhrgebiet verbracht hat, wissen wir nicht. Dass der Buchautor die dramatischen Zeitenwandel, die sich während seiner Lebensspanne inmitten Europas ereigneten, auf das Web 2.0 und die Erfindung der Digitalkamera reduziert, ist zweifelsohne mehr als ärgerlich. Als Altersgenosse schämt man sich ein wenig für derlei Nabelschau. Wäre doch so viel darüber zu sagen gewesen, wie sich das Deutschland, in das wir geboren wurden, in unseren Jugend- und Studienjahren einschneidend und atemberaubend rasch veränderte. (Auch für West-Deutsche.)

So bleibt es einem alten Hasen überlassen, von außen einen Blick auf "New Germany" zu werfen. Der Historiker Perry Anderson ergreift in der aktuellen Ausgabe der "New Left Review" die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der tiefgehenden Veränderungen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur in Deutschland. In einem umfassenden Essay, dessen Ausführungen vom neoliberalen Schockprogramm der Schröderjahre, über den Bevölkerungsexodus in Ostdeutschland und die neuen Kriege bis hin zu gegenwärtigen Tendenzen im politischen Denken reichen, zeichnet Anderson ein Portrait der deutschen Gesellschaft, das befreit vom alltäglichen Nachrichten-Klein-Klein die gewaltigen Veränderungen aufzeigt, die uns aus der Nahperspektive so leicht zu entgehen drohen.

Wählen gehen, Geld verschenken

Dass es neuerdings ein von der Wirtschaft gefördertes "demokratisches Stipendium" gibt, für das sich jede/r bewerben kann, haben wir im letzten November angezeigt. Jetzt soll nach altem demokratischen Brauch das (Web-)Volk entscheiden und zur Abstimmung darüber schreiten, wer von den 543 Kandidatinnen und Kandidaten der ersten Runde ein Stipendium erhält - darunter Mechatronikerinnen, BWLer, Sozialpädagogen und Lehramtsstudentinnen, die von 59 Euro Büchergeld bis hin zu mehreren Tausend Euro Auslandskostenzuschuss alles mögliche beantragen und in ihren Wahlkampagnen gelegentlich sogar zu multimedialer Hochform auflaufen (siehe hier oder dort).

Killer Kant

Immanuel Kant gilt lektüretechnisch als harter Knochen. Ein ordentlicher Brocken ist auch der jüngste Wissenschaftskrimi des Berliner Schriftstellers Jens Johler, der den Titel Kritik der mörderischen Vernunft trägt. Ein scheinbar emotionsloser Killer mit dem Decknamen des großen Aufklärers hat es darin auf Hirnforscher abgesehen, die den freien Willen leugnen. Der Thriller, der in Berlin und London spielt, ist sauber recherchiert und liest sich runter wie die Abschrift eines gut gemachten TV-Krimis mit Henry Hübchen und Maria Furtwängler in der Hauptrolle. Keine Spitzenprosa, aber wirklich gute Unterhaltung. Nur das gelegentliche Product Placement nervt, gehört aber offenbar zum fernsehkompatiblen „Sound“ des Buches.

Selbst wer die Debatte um den freien Willen und die Hirnforschung nicht oder nur kaum verfolgt hat, kommt auf seine Kosten bei diesem 500 Seiten-Schmöker, der die einschlägigen philosophischen Probleme auf spannende Weise mit dem Fortgang der Story verwebt. Im Zentrum steht dabei die Frage: Was darf eigentlich die Wissenschaft? Killer „Kant“ meint: Wir müssen ihren „Terror“ stoppen, weil sie im Verbund mit Pentagon und Wirtschaftslobbyisten (Achtung: Verschwörung!) danach trachtet, den Menschen in einen gefügigen, leicht kontrollierbaren und manipulierbaren Roboter zu verwandeln. Der latent melancholische Wissenschaftsjournalist Troller und seine smarte Freundin Jane heften sich unter Lebensgefahr und mit einschneidenden Folgen für ihre Beziehung an „Kants“ Fersen, der erstaunlich gut ins Raster jener Hirnforscher passt, die mit dem freien Willen auch die Schuldfähigkeit des Menschen radikal in Abrede stellen. Der veritable Showdown des Buches legt einen anderen Schluss nahe.

Jens Johler (2009): Kritik der mörderischen Vernunft. Berlin: Ullstein, 544 Seiten, 9,95 Euro.

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