Künstliche Intelligenz aus Holz
Schon nach wenigen Seiten Luhmann Lektüre fragt man sich, wie der berühmte Soziologe sein Wissen organisiert hat. Was einem dort in Fußnoten und Anmerkungen begegnet passt in keinen Kopf und wer sich aufmacht, die zitierten Quellen auch nur eines Aufsatzes im Volltext zusammenzutragen, der stößt bald an die Grenzen seiner bibliographischen Fähigkeiten. Ob spanisches Adelsmanifest aus dem Mittelalter oder Fachzeitschriftenaufsätze nahezu jeder Disziplin der letzten 200 Jahre, alles wird verwertet. Studienanfängern wird der Verweis- und Quellenreichtum von wissenschaftlichen Texten suspekt vorkommen: Wie kann eine Person dermaßen viele Bücher und Zeitschriften finden, lesen, bewerten und schließlich zur rechten Zeit im Kopf haben? Neben Übung und zunehmender (Lektüre-)Erfahrung steckt dahinter eine einfache Methode: Zettelkästen. Es geht also weniger darum, was ein Wissenschaftler im Kopf hat, sondern ob er sein Ordnen, Finden und Suchen gut organisiert.
Neben den Methoden herkömmlicher Recherche werden daher normalerweise Zettelkästen angelegt, in denen auf Karteikarten notiert ist, was ständig zitiert werden muss. Studenten erproben dies oft zum ersten mal intensiv für ihre Diplomarbeit. Nach Schlagworten und Autoren werden Notizen alphabetisch geordnet und was in den Kasten einsortiert wurde, kann man auch wieder herausholen. Der Zettelkasten weiß tendenziell immer weniger als man selbst, aber immer soviel, wie wir auf Karten geschrieben haben.
Betritt man die systemtheoretische Welt Luhmanns, kommt man schnell zu der Erkenntnis, das nichts so ist, wie man dachte. Auch sein Zettelkasten, der nach seinem Tod zur Untersuchung in ein Bielefelder Archiv gebracht wurde - ein Umzugsunternehmen war dafür nötig - gehorcht nicht dem üblichen Alphabet. In seinem Aufsatz "Kommunikation mit Zettelkästen" hat der Soziologe mitgeteilt, was geschieht, wenn wir Systemtheorie praktisch werden lassen.
Luhmann behandelt im "Erfahrungsbericht" seinen Zettelkasten wie einen eigenständigen Kommunikationspartner, den er aufgezogen hat, der wächst und schließlich eigenständig Ideen produziert. Eine Voraussetzung für diese Zauberei, - sein Kasten weiß nicht nur, was man einsortiert hat, sondern immer mehr -, ist eine gewisse Wachstumszeit. Erst nach einigen Jahren entfaltet sich die Eigenkomplexität, die für die Diplomarbeit leider kaum erreicht werden kann.
Dem ausgebildeten Verwaltungsjuristen lag systematisches Arbeiten zwanghaft nah, also überlegte er sich früh eine Systematik zur Ordnung seiner Notizen. Er entschied sich jedoch nicht für eine alphabetische, sondern für eine numerische und daher von Inhalten abstrahierende Ordnung. Im laufe der Jahre hat er seine Lektüre fortlaufend in Notizzettel verwandelt, da Karteikarten ihm bald zu dick waren, benutze er normales Papier im Oktav-Format. Oben links werden die Karten nummeriert, auf ihnen selbst sind aber Notizen zu verschiedenen Themen zu finden. Die Notizen folgen der Lektüre oder den Gedankenbewegungen. Mit der Nummer hat jede Karte einen festen Stellplatz im Kasten, die sich nicht mehr verändert.
Vorteil dieser Ordnung ist die Verzweigungsfähigkeit und die Fähigkeit des Zettelkastens nach innen endlos Wachsen zu können. Die einzelnen Nummern können beliebig erweitert und fortgeführt werden: "Ein Zettel mit der Nummer 57/12 kann dann im laufenden Text über 57/13 usw. weitergeführt werden, kann aber zugleich von einem bestimmten Wort oder Gedanken aus mit 57/12a ergänzt werden, fortlaufend über 57/12b usw.; wobei intern dann wieder 57/12a1 usw. angeschlossen werden kann." Auf den Zetteln können die Anschlussstellen und Verweise farbig markiert werden. Um bestimmte Begriffe herum bilden sich so langsam Cluster, weil wir in viele Richtungen verzweigen und fortführen, andere Notizen erweisen sich als isoliert und werden mit der Zeit (vom Zettelkasten) vergessen.
Das Loslösen von Inhalten ermöglicht auch, dass es nur einen Kasten gibt, der die Notizen zu allen Themen und Arbeitsbereichen enthält und der durch die Vernetzung den kreativen Zufall bereits eingebaut hat. Die Notizen befinden sich eindeutig in Unordnung, allerdings in einer "Unordnung mit nichtbeliebiger interner Struktur". Da wir uns Nummern schlecht merken können, dient ein Register alphabetischer Schlagworte dazu, um Notizen wiederzufinden.
Wenn wir unter einem Schlagwort im Register etwas suchen, so finden sich Nummern. Wir steigen dann ein und ziehen die Karte mit einer dieser Nummern und verfolgen die Verzweigungen: also zum Beispiel von 57/12 zu 57/13 und 57/13a usw. So kann man, wenn man den Kasten nach "Moral" fragt auf die Erinnerungen von "Marlene Dietrich" kommen, die ihre Mutter als von "Immanuel Kant" und dessen "Pflichtbegriff" geprägte Persönlichkeit beschrieb, oder schließlich auf Kants "Kategorischen Imperativ".
In einer anderen Richtung jedoch kommen wir von "Moral" über "Marlene Dietrich" zu "Goethe", weil Dietrichs Erinnerungen "So nehmt nur mein Leben ..." heißen und dies eine Zeile aus einem Goethe Gedicht ist. Wir können nun aber sowohl der Spur folgen, die von "Goethe" weiterführt als auch die ausgehend von "Mutter" weiter zu "Muttertag" und "Feiertage im Nationalsozialismus" oder "Horrorfilm". Diese je nach Anfrage und Vernetzung entstehenden Ketten sind mehr, als wir auf einzelne Karten schrieben und mehr als eine nur alphabetische Ordnung hergibt. Der numerische Zettelkasten kann uns daher mit seiner Eigenkomplexität ständig irritieren. In einem alphabetischen System hätte der Zusammenhang zwischen Marlene Dietrich und Immanuel Kant nicht entstehen können, es sei denn, er wäre dem Nutzer zufällig eingefallen. Die Ordnung Luhmanns jedoch archiviert nicht nur die Zusammenhänge, die uns irgendwann einmal in den Sinn gekommen sind, sondern erzeugt auch ständig neue.
Zu welcher Verzweigungstiefe dieses Zweitgedächtnis, mit dem man kommunizieren kann, über die Jahrzehnte führt, entblößt eine Fußnote im Luhmann Aufsatz: "Mein Zettelkasten gibt unter der Nummer 21/3d26g104,1 hierzu die Verweise ...". Wer sich also solch einen hölzernen Lebenspartner aufzieht, wird nach einigen Jahren immer interessantere Antworten auf seine Fragen bekommen ...
Links zum Thema
- Informationen zum 'Verzetteln'
- Ein kostenloser Online-Zettelkasten von Joachim Richter
Literatur
- Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht. In: ders.: Universität als Milieu. Kleine Schriften. Haux Verlag, Bielefeld: 1992, S.53-61.