Soziale Netzwerke: Worthülse oder wissenschaftliche Kategorie?
In der anwendungsorientierten Sozialwissenschaft scheinen Netzwerkansätze inzwischen die Modethemen Mentalitäten und Milieus abzulösen. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff "Netzwerk" eine inflationär verwendete Worthülse, dahinter steckt jedoch eine etablierte sozialwissenschaftliche Methode.
Soziale Netzwerke kann man empirisch einfangen, vermessen, berechnen und analysieren. Es gibt ein mathematisches Instrumentarium, das es erlaubt, Kennzeichen von und Personen in Netzwerken zu errechnen und zu interpretieren. Vor allem in den USA existiert eine lange Forschungstradition, die neben einem ausdifferenzierten Instrumentarium auch viele empirische Untersuchungen hervorgebracht hat. In der amerikanischen Mailingliste SOCNET des "International Network for Social Network Analysis" gab es vor kurzem eine Diskussion, ob sich in der antiken Mythologie eine Figur finden lässt, die man quasi als "Gott der Netzwerke" bezeichnen könne. Und man wurde fündig: Indra ist der hinduistische Gott der Atmosphäre, des Sturm, des Regens und der Schlacht. Er hat vier Arme, einer hält einen Blitz, der zweite einen Speer, der dritte Pfeile und der vierte ein magisches Netz.
Das Netz besteht aus einer unendlichen Zahl von geschliffenen Edelsteinen mit einer Vielzahl von Facetten, in denen sich die Edelsteine widerspiegeln und bis ins Unendliche reflektiert werden. Dieses Netz des Gottes Indra wird als eine symbolhafte Darstellung für die Verbundenheit aller Dinge und Ereignisse im Kosmos interpretiert. Ein Netzwerk von unendlicher Ausdehnung mit Edelsteinen als verbindende Knotenpunkte. Kein Knotenpunkt existiert für sich, jeder ist verbunden und spiegelt sich in allen anderen wider.
Die Beschreibung des magischen Netzes des Gottes Indra charakterisiert trefflich die Allgegenwart und Komplexität von sozialen Netzwerken. Unsere gesamten sozialen Beziehungen sind ineinander verwoben. Das Problem ist die Analyse dieser Netze. Ich kenne zwar mein Netzwerk z.B. meine Freunde, aber kenne ich die Freunde meiner Freunde, oder deren Freunde? Oder die klassische Frage: "Wer kennt jemanden, der wen kennt, der einen Handwerker kennt!" Somit steht Indras Netz für den ersten zentralen Aspekt sozialer Netzwerken: die Netzwerkanalyse.
Dafür muss zuerst ein Netzwerk erhoben werden. Die obenstehende Grafik ist ein Beispiel für ein Gesamtnetzwerk, das die engen Arbeitskontakte von Akteuren in einem Stadtteil abbildet. Die verschiedenen Farben symbolisieren die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sektoren. Der Gretchenfrage "Handelt es hier sich um ein produktives Netzwerk?" kann der Netzwerkforscher ein ebenso beliebtes wie entschiedenes "Das kommt darauf an!" entgegensetzen. Deshalb zwei Bemerkungen zur Komplexität:
- § Grundsätzlich sind eine hohe Vernetzungsdichte eher förderlich, während Vernetzungslücken negativ beurteilt werden. Viele Netzwerkkontakte stellen sicher, dass wichtige Information ihren Weg finden. Andererseits erzeugt ein Zuviel an Vernetzung auch den gegenteiligen Effekt. Wer in zu vielen Netzwerken engagiert ist, bekommt die gleiche Information mehrfach. In der Konsequenz führt dies zum Rückzug aus dem Netzwerk, da kein Informationsgewinn zu erwarten ist. Diesen Effekt nennt man auch Netzwerkrauschen. Wichtige und unwichtige Informationen sind dann schwer zu trennen.
- § In langjährig existierenden Netzwerken bilden sich oft Cliquen, die sehr gut miteinander vernetzt sind und wichtige Positionen besetzen. Diese sogenannten Old-Boys-Networks können sich als blockierend für neue Ideen und Innovationen erweisen. Andererseits können sie sehr förderlich sein, wenn sie selbst Innovationen in einem Netzwerk durchsetzen wollen, weil sie selbst über die notwendigen Verbindungen verfügen.
Zusammengefasst lässt sich also die Frage, welche Eigenschaften ein Netzwerk erfolgreich machen, nicht nach an einem Indikator festmachen, sondern erfordert umfangreiche Analysen.
Arachne ist eine andere Figur aus der griechischen Mythologie und hat sich durch ihre Kunstfertigkeit als Weberin einen Namen gemacht. Sie vermochte es, filigrane Bilder in ihre Stoffe zu weben und übertraf mit ihrer Webkunst alle Sterblichen, so dass sie von der Göttin Athene zum Wettkampf herausgefordert wurde. Als Athene merkte, dass sie Arachne in der Webkunst nicht übertreffen kann, verwandelte sie Arachne in eine Spinne. Die verwandelte Arachne symbolisiert den zweiten zentralen Aspekt von Sozialen Netzwerken.
Neben der Analyse bestehender Netzwerke interessiert auch die Frage: Wie baue ich ein Netzwerk auf oder wie mache ich ein Netzwerk produktiv? Hier geht dann um das Netzwerkmanagement. Da die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt, gibt es dafür bisher keine Patentrezepte oder einen Methodenkanon.
Eine typische Aufgabe des Netzwerkmanagement besteht darin neue Netzwerke zu bilden, zum Beispiel Arbeitskreise. Solche themenorientierten Netzwerke lassen sich am einfachsten aus bereits bestehenden, losen Netzwerken bilden. So kann es zweckmäßig sein, eine Kultur von locker verbundenen Netzwerken zu pflegen, um bei Bedarf themenbezogene Netzwerke daraus zu bilden. Ein Instrument dafür sind Veranstaltungen, die eher Freizeitcharakter haben und die Möglichkeit zu entspanntem Small-talk zwischen den Akteuren erlauben. Regelmäßige Events lassen eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens entstehen, die eine Basis für gezielte Netzwerkaktivitäten bilden kann.
Links zum Thema
- http://www.sozial-raum-management.de
- http://www.sozial-raum-management.de/netz .
- International Network for Social Network Analysis
Zur Person
Holger Spieckermann, geb. 1964, ist Soziologe und arbeitet an der Fachhochschule Köln. Dort untersucht er derzeit soziale Netzwerke im Stadtteilmanagement.
Literatur
- Herbert Schubert, Dietrich Fürst, Ansgar Rudolph, Holger Spieckermann, Regionale Akteursnetzwerke, Analysen zur Bedeutung der Vernetzung am Beispiel der Region Hannover, Leske + Budrich Opladen 2001