Kindlers Neues Literaturlexikon quergelesen
Man kann, wenn man einen Kurs im Schnelllesen absolviert, "Krieg und Frieden" in 20 Minuten lesen. Anschließend weiß man: das Buch handelt von Russland. Ich habe Kindlers Literaturlexikon gelesen, allerdings - meine Lebenszeit ist begrenzt - vorerst nur quantitativ.
> Tabelle 1: Durchschnittliches Lebensalter von Autoren im Kindler Literaturlexikon 2000 nach Jahrhunderten
Aber die Analysen können noch sehr viel detaillierter werden: So gibt die Nationalität der Autoren Auskunft über die Literaturproduktion der einzelnen Länder durch die vergangenen Jahrhunderte und die Angaben über Geburts- und Sterbedaten ermöglichen Aussagen über die Lebenserwartung von Schriftstellern.
Im Kindlers Neuem Literaturlexikon von 2000 werden 19.304 Veröffentlichungen von 10.5016 Autoren aus 130 Ländern besprochen. Immerhin fast 3 % der Autoren verfügten entweder über doppelte Staatsbürgerschaften oder fühlten sich zumindest in zwei Ländern heimisch. Der jüngste Autor ist 10 Jahre (Ábu L-Farag Abdallah ibn At-Taiyib Al- Iraaqi, 1033 bis 1043) und der älteste 120 Jahre alt geworden (Ramanuja, um 1017 bis 1137), der "letzte" Autor Arnon Grunberg wurde 1971 in Amsterdam geboren.
> Tabelle 2: Autoren in Kindler Literaturlexikon 2002 nach Jahrhunderten und Herkunftsländeren
Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden in Tabelle 2 nur die 24 Herkunftsländer von Autoren aufgenommen, aus denen 100 und mehr Autoren stammen. Wenn man die Anzahl der Autoren als Maß für die Literaturproduktion nimmt, so zeigen sich keine Überraschungen: Die erste Welt dominiert zahlenmäßig das Feld. Die neue Welt (USA, Brasilien) ist "naturgemäß" eher unterrepräsentiert. Dort überwiegen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Arabien und China waren dagegen lange davor besonders produktiv. Arabien hatte seine Hochphase weit vor dem 14. Jahrhundert. Ähnliches gilt in abgeschwächtem Maße auch für Italien und Spanien, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Autoren des römischen Reiches (Ranglistenplatz 25!) hier noch nicht berücksichtigt sind.
Aber wie alt werden Schriftsteller eigentlich im Durchschnitt und woran liegt das? Die letzte Frage kann die statistische Auswertung der Geburtsdaten zwar auch nicht liefern, aber es zeigen sich interessante Tendenzen, die zu einigen Arbeitshypothesen führen.
> Tabelle 3: Durchschnittliches Lebensalter von Autoren im Kindler Literaturlexikon 2000 nach Jahrhunderten und Übereinstimmung von Geburts- und Sterbeorten.
Ein Vergleich der Lebenserwartung von Schriftstellern in den verschiedenen Jahrhunderten zeigt eine überraschende Tendenz. Entgegen der Erwartung spiegeln sich die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge und die Wohlstandsentwicklung der Moderne hier nicht wieder. Schriftsteller haben über die Jahrhunderte eine bemerkenswert konstante Lebenserwartung, die beispielsweise im 11. Jahrhundert schon über der im 19. Jahrhundert lag (das 20.Jahrhundert eignet sich wegen der Weltkriege und der Verzerrung durch die zur Zeit noch lebenden Autoren nicht als Vergleichsmaßstab). Es liegt die Vermutung nahe, dass Autoren schon zu allen Zeiten in privilegierten Verhältnissen gelebt haben.
Eine wesentliche Einflussgröße auf die Lebenserwartung hat die Art der Lebensführung und das soziale Umfeld. Einen Hinweis auf die unterschiedliche Lebensführung kann der Vergleich zwischen dem Geburts- und Sterbeort liefern. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass Personen, die in einem "intakten" sozialen und familiären Umfeld leben, ein höheres Alter erreichen. So gilt beispielsweise bei Verheirateten das private Umfeld als wohltuender Ausgleich zum beruflichen Stress.
Durch den Wechsel des Wohnortes muss dagegen das soziale Umfeld neu konstruiert werden, so dass erhöhte Mobilität ein Indikator für wechselhafte und stressgeladene Lebensweisen sein kann. Von den Autoren sind nur 8 % in ihrer Geburtsstadt gestorben. Demnach sollte man erwarten, dass sie auch länger gelebt haben.
Die Ergebnisse der Analyse zeigen ein ganz anderes Bild. Die Autoren, die ihre Geburtsstadt verlassen haben, sind durch die Jahrhunderte hinweg älter geworden als die Nesthocker. Wie kann das sein? Sind die Autoren mit der höheren Lebenserwartung so alt geworden, weil sie weggezogen sind oder wären die Autoren mit der niedrigen Lebenserwartung ebenfalls weggezogen, wenn sie nur nicht vorher gestorben wären. Zumindest scheint sich die erhöhte Mobilität nicht negativ auf die Lebenserwartung ausgewirkt zu haben.
Die Möglichkeit des Datenexportes provoziert zu intelligenten Spekulationen und spielerischer Hypothesenbildung. Man kann eine Vielzahl von witzigen Begründungen und Erklärungen finden. Allerdings trifft die Erkenntnis einer leider in Vergessenheit geratenen soziologischen Utopie von Michael Young zu, der zum Thema Statistik schreibt: "Dr. Jasons Kaulquappentheorie besagt, dass sämtliche Kaulquappen im Durchschnitt glücklicher sind als die einzelne, weil sie wissen, dass wenigstens einige von ihnen Frösche werden".
Links zum Thema
- www.kindlers.de
Literatur
- Kindlers Neues Literaturlexikon 2000, CD-ROM, (203 €)
- Kindlers Neues Literaturlexikon, herausgegeben von Walter Jens, 22 Bände, München: Kindler (2065 €; die 20bändige Studienausgabe von 1998 kostet z.Zt nur 349 €)
- Michael Young, Es lebe die Gleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie, Düsseldorf: Econ 1961 (vergriffen)
- Walter Krämer: So lügt man mit Statistik. Piper, München: 2000
- Walter Krämer: Statistik verstehen. Eine Gebrauchsanweisung. Piper, München 2001