Die ganz normale Katastrophe

Bei dem Amoklauf eines Schülers am Erfurter Gymnasium kamen 17 Menschen ums Leben. Die ganze Nation war schockiert und zutiefst betroffen. Am selben Tag wurden auch ca. 19 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet - so wie jeden Tag. Doch hiervon nimmt keiner Notiz. Warum eigentlich?

Wir alle haben die Bilder gesehen: Bilder von entsetzten Schülern, Bilder von verzweifelten Angehörigen, von betroffenen Passanten auf Trauerkundgebungen. Es sind immer ähnliche Bilder, teilweise dieselben, die im Fernsehen ständig wiederholt werden. Wir schauen sie uns dennoch an, weil wir das, was wir sehen, nicht fassen können. Das Massaker von Erfurt hat uns alle tief erschüttert. Die Frage, warum das so ist, stellt sich gar nicht - 17 Menschen wurden plötzlich, gewaltsam und scheinbar ohne jeden Sinn in den Tod gerissen. Völlig normal, dass wir schockiert sind.

Doch was ist mit den ca. 19 Verkehrstoten, die am gleichen Tag starben. Auch sie starben plötzlich, gewaltsam und sinnlos. Sie werden in keiner Nachrichtensendung erwähnt, ebenso wenig wie die durchschnittlich ca. 1.400 Verletzten, die es an diesem Tag durch Verkehrsunfälle gab. Sie sind uns egal.

Aber warum lassen uns ca. 7.000 Tote und 500.000 Verletzte durch Verkehrsunfälle pro Jahr völlig kalt und warum erschüttern die 17 Toten von Erfurt die ganze Nation?

Doch damit nicht genug. Das Attentat hat Folgen: Viele Menschen befürchten, dass sich solche Massaker wiederholen könnten und haben Angst. Es herrscht ein Konsens darüber, dass Politik und Gesellschaft jetzt unbedingt Maßnahmen ergreifen müssen, die derartige Massaker künftig unterbinden.

Wie kommt es nun, dass z.B. viele Lehrer fürchten, selbst das Mordopfer eines rachsüchtigen Schülers zu werden, aber keine Angst haben, auf der Fahrt zur Schule mit ihrem Auto tödlich zu verunglücken, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür viel größer ist?

Solche Fragen beschäftigen auch Psychologen und Soziologen. Diese Risikoforscher haben etliche Faktoren herausgefunden, die bewirken, dass wir bestimmte Ereignisse oder Gefahren für schlimmer, tragischer und bedrohlicher halten und andere weniger.

Einige der gefundenen Kriterien:

  • Kontrollierbarkeit des Risikos
    Beim Autofahren hat der Fahrer im wahrsten Sinne "das Steuer in der Hand". Er entscheidet, wie schnell er fährt, wann er bremst und wie riskant er fährt. Zudem sind ca. 90% aller Autofahrer davon überzeugt, besser als ihre Mitmenschen zu fahren. Es herrscht die Überzeugung: "Unfälle passieren immer nur den anderen." Durch das Gefühl, selbst Herr der Lage zu sein, wird das tatsächliche Risiko erheblich unterschätzt. Bei einem Amoklauf hingegen ist man der Willkür des bewaffneten Täters völlig ausgeliefert. Die Situation ist für das potenzielle Opfer nicht beherrschbar - es erlebt einen kompletten Kontrollverlust. Dies führt zu einer Überschätzung des tatsächlichen Risikos.
  • Freiwilligkeit der Risikoübernahme
    Risiken, die man freiwillig auf sich nimmt, werden unterschätzt (z.B. Rauchen). Viele Risiken im Straßenverkehr werden freiwillig und aus eigenem Willen eingegangen (z.B. gefährliche Überholmanöver oder mit 180 km/h über die Autobahn) - die Begegnung mit einem Amokläufer ist jedoch immer unfreiwillig.
  • Verständnis des Grundes
    Die Ursachen von Verkehrsunfällen sind für uns nachvollziehbarer (z.B. Vorfahrt missachtet; nicht aufgepasst), die Motive eines Amokläufers sind jedoch keinem psychisch gesunden Menschen begreiflich. Dieses "Unfassbare" lässt uns die Gefahr größer erscheinen.
  • Auswirkungen auf Kinder
    Besonders schlimm werden Gefahren wahrgenommen, von denen Kinder unmittelbar bedroht sind. Hätte der Mörder seine Tat nicht in einer Schule, sondern in einem Altenheim begangen, wäre die Betroffenheit geringer gewesen. Hier laufen wohl instinktiv uralte Berwertungsmechanismen ab, die dem Schutz der Nachkommen oberste Priorität geben.
  • Ausmaß der Verursachung durch den Menschen
    Unglücksfälle, deren Ursache der Mensch ist (z.B. Tschernobyl), werden als schlimmer und gefährlicher wahrgenommen als solche, deren Ursache die Natur oder eine vermutete höhere Macht (Schicksal, Gott) ist (z.B. Wirbelstürme, Erdbeben). Am schlimmsten sind solche Schäden, die vom Menschen absichtlich herbeigeführt werden - wie beim Erfurt-Massaker. Bei einem Verkehrsunfall wird dagegen keine Absicht unterstellt und es werden zusätzlich nicht-menschliche Ursachen verantwortlich gemacht (z.B. Glatteis, dummer Zufall, Schicksal).
  • Konzentriertheit des Schadens
    19 Tote auf einmal bei einer Massenkarambolage erschüttern uns mehr als 19 Tote, die unabhängig voneinander, irgendwo auf Deutschlands Straßen ums Leben kamen. Dasselbe gilt für den Amoklauf: 17 einzelne Ermordete wären sehr schlimm, aber erst 17 Ermordete auf einmal machen die Tat zur Katastrophe.
  • Beachtung in den Medien
    Je mehr die Medien über ein bestimmtes Risiko berichten, desto mehr überschätzen wir die tatsächliche Gefahr. Zwar weisen Medienvertreter die Verantwortung gerne von sich und argumentieren, sie würden einfach nur das berichten, was die Zuschauer bewegt. Das ist zwar nicht falsch, aber dennoch lässt sich eindeutig belegen, dass eine starke Berichterstattung in den Medien zu einer drastischen Überschätzung eines Risikos führt.

All diese Faktoren tragen dazu bei, dass der Verkehrsunfall - eines der größten Risiken überhaupt - in seiner Bedeutung völlig unterschätzt wird und das extrem geringe Risiko eines Amoklaufs dramatisch überschätzt wird.

"So ist der Mensch nun mal!" könnte man jetzt achselzuckend sagen. Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn die Art und Weise, wie wir Risiken wahrnehmen, hat gesellschaftliche und politische Konsequenzen: Die Bürger einer Nation sind nach dem Amoklauf bestürzt und in Sorge. Darauf reagieren Politiker (unabhängig von ihrem Parteibuch) - insbesondere im Wahlkampf. Auf Trauerkundgebungen vor Ort äußern sie nicht nur ihre Betroffenheit, sondern übertrumpfen sich gegenseitig mit aktionistischen Maßnahmen, "damit sich so was nicht wiederholt". Die Vorschläge reichen von einer Reformierung des Thüringer Abiturs über ein höheres Mindestalter beim Schusswaffenkauf, Waffenkontrollen an Schulen, Zensur gewaltverherrlichender Videos und Computerspiele bis hin zur Zensur des Internets.

Das Problem dabei: Solche Maßnahmen bringen nichts, denn die statistische Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Amokläufers zu werden, ist schon jetzt nahezu bei Null und deswegen kaum noch weiter zu senken - egal gleichgültig durch welche Maßnahmen.

Ganz anders bei den Verkehrstoten: 7.000 Tote pro Jahr und eine halbe Million Verletzte sind ein enormes Potenzial. Viele Maßnahmen sind zwar teuer (z.B. sicherere Straßen), doch auch ohne großen finanziellen Aufwand ließe sich viel ausrichten: Durch ein generelles Tempolimit auf Autobahnen (wie in allen europäischen Ländern), Tempo 30 in geschlossenen Ortschaften, einer 0,0-Promille-Grenze oder verstärkten Alkoholkontrollen mit höheren Strafen müssten jedes Jahr mehrere Hundert Menschen weniger sterben und Zehntausende weniger würden verletzt werden.

Solche Maßnahmen laufen jedoch den Interessen einiger gesellschaftlicher Gruppen zuwider (z.B. Automobilindustrie: Tempolimit auf Autobahnen, Gastronomie: Alkoholverbot, manchen Autofahrern: "freie Fahrt für freie Bürger!"), werden also von Politikern nur dann in Angriff genommen, wenn von Seiten der Wähler ein starkes Interesse danach besteht. Doch es interessiert uns ja nicht. Viel mehr interessieren uns dagegen extrem unwahrscheinliche, aber dafür spektakuläre Katastrophen wie jene von Erfurt.

Solange dies so ist, bleibt für einen Lehrer das gefährlichste an seinem Job die Autofahrt zu seinem Arbeitsplatz.

Beitrag von Martin Gründl

Links zum Thema

  • Bundesamt für Statistik

Zur Person

Der Autor studierte Psychologie in Regensburg und schrieb seine Diplomarbeit über Risikowahrnehmung. Zur Zeit arbeitet er in der Unfallforschung und untersucht die Entstehung von Verkehrsunfällen.

Literatur

  • Fischhoff, B; Lichtenstein, S. u.a. (1993). Acceptable risk. Cambridge: University press.
  • Jungermann, H & Slovic, P. (1993a). Charakteristika individueller Risikowahrnehmung. In: Bayerische Rück (Hrsg.). Risiko ist ein Konstrukt. München: Knesebeck.
  • Jungermann, H. & Slovic, P. (1993b). Die Psychologie der Kognition und Evaluation von Risiko. In: Bechmann, G. (Hrsg.). Risiko und Gesellschaft. Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin/New York: 1991
  • Renn, O. & Zwick, M. (1997). Risiko- und Technikakzeptanz. Heidelberg: Springer-Verlag.
  • Zimmer, A. (1994). Warum müssen Wissenschaftler über Risiko reden? In: Blick in die Wissenschaft, Vol. 5, 94, S. 4-13.

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Themen: Psychologie
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