Warum Studiengebühren sozial gerecht sind
„Das Studium muss weiterhin kostenlos bleiben – keine Studiengebühren!“ Es dürfte wohl kaum ein Thema geben, über das bei Studierenden ein so breiter Konsens besteht. Das ist verständlich, denn wer zahlt schon gerne Geld für etwas, was er auch kostenlos haben kann. Doch in der politischen Diskussion ist diese allzu menschliche Denkweise natürlich kein Argument. Also müssen andere her. Das mit Abstand beliebteste ist: „Studiengebühren sind sozial ungerecht!“ Begründung: „Studiengebühren schrecken Jugendliche aus wirtschaftlich schwächeren Familien vom Studium ab und beeinträchtigen damit die Chancengleichheit im Bildungsbereich“.
Das Argument klingt plausibel, ist aber dennoch falsch. Warum? In Deutschland ist die Hochschulbildung „frei“. Doch „frei“ bedeutet nicht, dass sie nichts kostet (– sie kostet jährlich ca. 15 Milliarden Euro), sondern dass nicht die Nutznießer selber, sondern Dritte dafür zahlen. Die allermeisten Studierenden stammen aus der Mittel- und Oberschicht – nur wenige aus der Unterschicht. Über Steuern und Abgaben zahlen aber alle Bürger für eine freie Hochschulbildung – auch Bürger der Unterschicht, deren Kinder meist nicht studieren. Im Klartext: Der Bäcker und die Friseurin finanzieren über ihre Steuern das Studium der Kinder aus den besserverdienenden Familien. Und das ist sozial ungerecht. Dieser Auffassung war schon Karl Marx. In seiner „Kritik des Gothaer Programms“ schrieb er 1875: „Wenn in einigen Staaten [...] auch 'höhere' Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“
Das bedeutet: Je weniger Kinder aus einkommensschwachen Familien studieren, desto ungerechter ist eine Finanzierung des Studiums durch die Allgemeinheit, weil davon überwiegend die einkommensstarken Familien profitieren. Dieser Schluss ist völlig logisch – dennoch wird er von den Gegnern von Studiengebühren auf den Kopf gestellt. So schreibt beispielsweise die PDS (in offensichtlicher Unkenntnis der Worte ihres eigenen Ideologiestifters Marx): „Heute studieren nur noch acht von 100 Kindern aus einkommensschwachen Familien, bei einkommensstarken Familien sind es 72 von 100.“ Daraus wird der falsche Schluss gezogen, dass man Studiengebühren verbieten müsse, weil sie ungerecht seien und diese Schieflage noch weiter verstärken würden.
Doch das ist Unsinn. Denn zu einem Studium gehört nicht nur Geld, sondern auch das Abitur. Und hier liegt das Problem: Nur ca. 10 % der Kinder aus Arbeiterschicht-Familien besuchen das Gymnasium und haben damit überhaupt die Chance, die Erlaubnis für das Studium – das Abitur – zu erwerben. Das ist der wahre Grund für den geringen Anteil von Studierenden aus Arbeiterfamilien. Wer mehr Kindern aus Arbeiterfamilien ein Hochschulstudium ermöglichen will, muss dafür sorgen, dass die in der PISA-Studie völlig zu Recht angeprangerte Verflechtung von sozialer Herkunft und Schulleistung/Schulbesuch endlich ein Ende hat. Das alles hat jedoch mit Studiengebühren überhaupt nichts zu tun. Aus diesem Grund verwundert es auch überhaupt nicht, dass die Abschaffung der Studiengebühren in Deutschland und Österreich Anfang der 70er Jahre in beiden Ländern bis heute keinerlei Auswirkungen auf den Anteil der Studierenden aus der sozialen Unterschicht hatte.
Auch was die Gesamtzahl der Studierenden betrifft, scheinen Gebühren keineswegs die Studierfreudigkeit zu hemmen. Im Gegenteil: In den Ländern, in denen das Studium etwas kostet, studieren mehr als in solchen Ländern, in denen das Studium gebührenfrei ist (z.B. in den USA 50 % eines Jahrgangs im Vergleich zu Deutschland mit 30 %). Je niedriger der private Finanzierungsanteil an den Gesamtkosten einer Hochschulausbildung, desto weniger Leute studieren. Dies ist das Ergebnis der OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“. Was Erziehungswissenschaftler lange wissen, bewegt das ganze Land, seit eine Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit die PISA Studie veröffentlicht hat. Und da man Angst hat vor negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, wird der Schule plötzlich viel Interesse entgegengebracht. Die etablierte Monokultur des Schulsystems erscheint jetzt in einem ganz anderen Licht. Die konservativen Schulformen machen nämlich strukturelle Vorgaben, die Lernen und auch effektives Lehren verhindern. Die Politik individualisiert das Problem leider erfolgreich, es geht plötzlich wieder einmal um die Lehrer. Aber die belastende Arbeitssituation, die sinnlosen 45-Minuten Schulstunden, die Halbtagsschule oder die behördengesteuerte Vorgabe von Curricula sind wirksame negative Rahmenbedingungen. Und in Bezug auf diese Struktur gilt noch immer: Keine Experimente!
Die Auffassung, dass Studiengebühren keinen Effekt auf die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft haben, vertritt auch Christoph Ehmann in seinem Buch „Bildungsfinanzierung und soziale Gerechtigkeit“. Als Beispiel dient die erste deutsche Privatuniversität Witten/Herdecke, die für ein Studium von jedem Studierenden insgesamt 15.000 Euro kassiert. Dort stammen 41 Prozent der Studierenden aus niederen oder mittleren Einkommensschichten – an den staatlichen Hochschulen sind es 42 Prozent.
Ein weiteres oft zitiertes Argument von Studiengebühren-Gegnern: Die Besserverdienenden zahlen mehr Steuern als die ärmeren Schichten. Dies würde den höheren Anteil von Akademiker-Kindern unter den Studieren mehr als ausgleichen. Doch auch das stimmt nicht. Zwar zahlen die Besserverdienenden tatsächlich mehr Steuern, doch die Kosten, die dem Staat durch deren studierende Kinder entstehen, liegen deutlich darüber. Dies rechnet der Dortmunder Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik Walter Krämer in seinem „Neuen Lexikon der populären Irrtümer“ (S. 313f.) vor. (Die genaue Rechnung würde hier etwas zu weit führen.) Das Ergebnis: „Die Armen zahlen zwar weniger Steuern, schicken aber auch überproportional weniger Kinder auf die Universitäten, so dass sie netto die Erziehung der Reichen finanzieren.“
Krämers Fazit: „Akademiker verdienen über das Leben gerechnet rund 50 % mehr als unstudierte Bürger, zahlen aber weniger als die Hälfte ihrer Studienkosten über höhere Steuern an die Solidargemeinschaft zurück. Wie man den Ruf nach mehr Gerechtigkeit in diesen Dingen [gemeint sind Studiengebühren, Anm. d. Verf. ] als Sozialabbau bezeichnen kann, wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben.“
Doch an der derzeitigen Situation dürfte sich so schnell nichts ändern. Der Grund ist simpel: Von der derzeitigen Studiumsfinanzierung auf Kosten der Allgemeinheit profitiert die zahlenmäßig größte Gruppe, nämlich die Familien der sozialen und wirtschaftlichen Mittelschicht – mit anderen Worten: jene vielbeschworene „Neue Mitte“, die von den beiden großen Volksparteien CDS/CSU und SPD so stark umworben wird. Eine Änderung des Status quo würde Scharen von Wählern verprellen. Und die Wähler der Arbeiterschicht (die klassischen SPD-Wähler) ahnen ohnehin nicht, dass sie bei der derzeitigen Regelung die Dummen sind. Aus diesem Grund wird in Deutschland auch weiterhin der Fließbandarbeiter das Studium des Managersohns finanzieren.
Links zum Thema
- PDS-Papier gegen Studiengebühren
- Zusammenfassung der PISA-Studie
- Zusammenfassung OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“
Literatur
- Marx, K. & Engels, F. (1875). Kritik zum Gothaer Programm.
- Krämer, W, Trenkler, G. u.a. (2000). Das neue Lexikon der populären Irrtümer. München: Piper
- Ehmann, Ch. (2001). Bildungsfinanzierung und soziale Gerechtigkeit. Vom Kindergarten bis zur Weiterbildung. Hrsg.: DIE, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. Bielefeld: Bertelsmann.
- Ceri (2001). Bildung Auf Einen Blick. OECD-Indikatoren 2001 Edition. Hrsg.: OECD.