VIPs und Very-VIPs
Professor: Der Lachs ist nichts Besonderes. Aber die frittierten Garnelen sind nicht schlecht, vor allem mit dieser braunen Sauce da!
Student: Und das ist wirklich alles kostenlos?
Professor: Ja sicher! Ist ja schließlich alles Werbung für den Aussteller. Aber dafür sollten Sie auch so fair sein und sich den Namen des edlen Spenders einprägen.
Student (greift nach dem Dipp für seine Garnele) : Ah ja.
Professor: Früher war alles besser. Da gab’s noch richtige Buffets – und alles umsonst. Aber jetzt wird ja überall gespart. Kongresse sind eben auch nicht mehr das, was sie mal waren. (Nimmt einen Schluck von seinem frisch gepressten Orangensaft) Und – was ist so Ihr bisheriger Eindruck von der Veranstaltung hier?
Student: Na ja, irgendwie finde ich mich hier noch nicht so zurecht. Es gibt so viele Veranstaltungen, die zur gleichen Zeit stattfinden, da weiß man ja gar nicht, wo man hingehen soll. Gestern Abend im Hotel habe ich mir bestimmt anderthalb Stunden lang das Veranstaltungsheft durchgesehen und die Abstracts gelesen, aber das hat ja bei weitem nicht gereicht.
Professor: So, Sie haben sich also vorher schon darüber informiert, worum es in den Vorträgen geht?! Das ist vernünftig. Damit gehören Sie hier schon zu einer Minderheit. Dann haben Sie ja sicherlich die richtigen Sachen rausgesucht, oder?
Student: Ich weiß nicht. Entweder war ein Vortrag ziemlich banal, so dass ich schon alles gewusst habe, oder es betrifft mich einfach nicht, weil es einfach nicht mein Bereich ist. Etwas wirklich Interessantes erfahren habe ich eigentlich nicht. Aber ist ja auch kein Wunder, wo doch ein Vortrag immer nur maximal sechs Minuten dauern darf!
Professor: Mein Lieber, da verstehen Sie aber den Sinn eines Kongresses falsch! Das ist doch keine Vorlesung, bei der die Zuhörer etwas lernen sollen! Das ist eigentlich nur so etwas wie Show! Die Botschaft ist: „Hey Leute, hier sind wir vom Lehrstuhl Soundso der Uni Soundso und wir forschen ebenfalls zum Thema Soundso. Und wir sind echt gut!“
Student: Aber davon habe ich doch nichts! Das ist doch alles total oberflächlich! Auf dem letzten Kongress, auf dem ich war, da waren die Vorträge wenigstens noch 25 Minuten lang, da war noch Information drin.
Professor: Na ja, aber mal ehrlich: Die meisten dieser Vorträge sind doch zum Einschlafen langweilig. Vor allem dann, wenn die Referenten einfach ihren Vortrag vom Blatt ablesen. Das können Sie insbesondere dann erleben, wenn der Veranstalter die Leute zwingt, schon vorab eine schriftliche Langversion für den Tagungsband abzugeben. Da sind diese Kurzreferate hier schon besser.
Student: Stimmt schon. Aber es waren nicht alle Vorträge so langweilig. Vor allem von den englischsprachigen Referenten waren etliche Referate dabei, die wirklich gut und verständlich waren. Teilweise sogar richtig geistreich und witzig!
Professor: Ach hören Sie mir auf mit diesen anglo-amerikanischen Referenten! Die wollen sich doch nur bei den Zuhörern einschleimen! Ist doch reiner Populismus! Sicher, durch einen prägnanten, kurzweiligen oder gar humorvollen Vortragsstil ist das Publikum schon aufmerksamer ...
Student: ... Ja, und man versteht und behält auch viel mehr, wenn alles viel einfacher und klarer dargestellt wird!
Professor: Aber darauf kommt’s doch gar nicht an!
Student: Worauf denn dann?
Professor: Es ist gar nicht wichtig, dass die Zuhörer etwas mitnehmen. Wichtig ist nur, dass Sie als Referent sich gut darstellen. Das heißt, die Leute müssen merken, dass Sie sich in Ihrem Fach gut auskennen. Je mehr Fachausdrücke Sie denen um die Ohren schlagen, desto besser ...
Student: ... Auch so Abkürzungen, englische Modeausdrücke und so was?
Professor: Genau! Und Sie müssen schnell sprechen und die Leute mit vielen Zahlen und Tabellen zuschütten – das strahlt Kompetenz und Souveränität aus. Sie müssen möglichst viele PowerPoint-Folien durchjagen, mit richtig viel Information drauf, so schnell, dass die Leute das gar nicht alles aufnehmen können.
Student: Und wie viele genau?
Professor: Na ja – also bei sechs Minuten Redezeit müssen Sie mindestens dreißig Folien durchklicken. Und wenn die Leute wegen der Informationsdichte und Schnelligkeit gar nicht alles aufnehmen können, dann trauen sie sich auch nicht, hinterher allzu kritische Fragen zu stellen – könnte ja ein Punkt sein, auf den Sie in Ihrem Vortrag eingegangen sind.
Student: Also ich weiß nicht so recht ...
Professor: Na, Sie sehen doch, wie die Vorträge hier laufen! Die meisten der Referenten hier haben schon viel Kongress-Erfahrung, die haben die Regeln schon alle längst verinnerlicht. Die machen das schon ganz automatisch richtig. Nehmen Sie sich ein Beispiel an denen!
Student: Aber da kommt vom eigentlichen Inhalt des Vortrags ja kaum was rüber!
Professor: Mein Lieber, sie sollten den Inhalt nicht so wichtig nehmen. Auf einem Kongress ist in erster Linie wichtig, dass Sie einen Vortrag halten und nicht so sehr, was Sie darin sagen. Und dass für Sie eine Publikation im Tagungsband dabei rausspringt. Das ist zwar auch nichts so Besonderes, aber besser ein Artikel in einem Tagungsband als gar keine Veröffentlichung!
Student: Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht.
Professor: Aber wichtig ist ja nicht nur, was etwas einem selbst bringt. Sie müssen auch an den Nutzen für den Lehrstuhl denken! Und da zählt auch schlicht und einfach die Quantität, nicht nur die Qualität.
Student: Wie meinen Sie das?
Professor: Ist doch klar: Je mehr Beiträge ein Lehrstuhl auf einem Kongress vorweisen kann, desto besser ist es natürlich. Deswegen sind wir auch besser als zum Beispiel die Kollegen aus München vom Lehrstuhl Meier, denn wir sind mit vier Vorträgen vertreten und die bloß mit drei! So einfach ist das.
Student: Mit anderen Worten: Es geht ums Prestige, oder?
Professor: Aber sicher, mein Lieber! Es geht hier hauptsächlich ums Prestige: Für die Referenten, die sagen können, dass sie hier einen Vortrag gehalten haben. Für die Besucher, die hierher kommen dürfen und Tagungspauschale, Fahrt- und Reisekosten von ihrem Arbeitgeber bezahlt bekommen. Sie brauchen ein paar Tage nicht zu arbeiten und können dann herumerzählen, dass sie sich auf den führenden Kongressen ständig über die neuesten Entwicklungen weiterbilden ...
Student: ... Oder auch für die Professoren, die die Einführungsreferate der Vortragssektionen halten dürfen und dafür zwölf statt sechs Minuten Redezeit bekommen!
Professor: Genau, Junge! Sie haben’s begriffen! Und schauen Sie mal da draußen! Sehen Sie die Edel-Limousinen da?
Student: Sie meinen den Shuttle-Service? Was ist damit?
Professor: Wenn Sie das Privileg haben, in einem solchen Wagen vom Flughafen abgeholt oder zum Hotel chauffiert zu werden – kostenlos, versteht sich – dann haben Sie Glück, denn dann sind Sie wirklich wichtig!
Student: Deswegen parken die Wagen wohl auch unmittelbar vor dem Gebäude, damit jeder sehen kann, wer da einsteigt, oder?
Professor: Genau. Hier scheiden sich die VIPs von den Very-VIPs. Natürlich könnte sich jeder von denen auch einfach eines der Taxis nehmen, die da draußen warten – die Fahrtkosten könnte er sogar als Reisekosten abrechnen, aber darum geht es ja nicht. Es geht darum, dass Sie in den Genuss eines Privilegs kommen. Und darum, dass die anderen es sehen, damit alle wissen, dass Sie wichtig sind!
Student: Und ich dachte schon, es würde hier um Wissenschaft gehen.
Professor (lacht) : Ach mein Lieber! Sie müssen noch viel lernen! Die Wissenschaft ist eigentlich nur der Anlass, aber nicht der Zweck dieser Veranstaltung.
Student: Was ist denn dann der Zweck?
Professor: Das Wichtigste ist, dass Sie hier Leute treffen, – Kollegen, Freunde und Bekannte, mit denen Sie sich austauschen können – natürlich auch über fachliche Dinge. Sie können Beziehungen pflegen und neue Kontakte knüpfen.
Student: Das ist ja wie auf einer Party!
Professor: Klar, im Prinzip genau das Gleiche. Und das ist auch der Grund, warum ich so viel hier draußen im Foyer bin, denn da drin in den Hörsälen kann man sich ja nicht unterhalten.
Student: Hm.
Professor: Auch Sie sollten die Gelegenheit nützen, Kontakte zu knüpfen, vor allem wenn sie es mal zu etwas bringen wollen. Ohne Beziehungen läuft auch in der Wissenschaft nicht viel.
Student: Und was ist mit den Vorträgen?
Professor: Ach – was da erzählt wird, können Sie genauso gut in aller Ruhe zu Hause nachlesen – in ein paar Wochen, wenn der Tagungsband mit den schriftlichen Fassungen erschienen ist!
Student: Tja, wenn Sie meinen.
Professor: Was mir an Ihnen gefällt, mein Lieber, ist Ihre rasche Auffassungsgabe. Aus Ihnen wird noch mal ein richtiger Wissenschaftler!