Auf der Suche nach dem Mitgefühl

Buchtipp: Revolution im Kopf. Die Zukunft des Gehirns Mitgefühl kann man sehen. Hirnforscher in Parma zeigen es uns. Eine Reportage…

Was ist Mitgefühl? Und was ist Wirklichkeit? Wie funktionieren unsere Gedanken? In seinem Buch "Revolution im Kopf. Die Zukunft des Gehirns" beantwortet der Wissenschaftsjournalist Bas Kast diese und andere Fragen mit Erkenntnissen der modernen Hirnforschung. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch.

Das soll eine Suche werden. Eine Reise in unser Ich. Eine Suche nach dem Mitgefühl.

Parma, Italien, Mitte September 2001. Es sind nur wenige Tage nach dem Terrorangriff auf die USA, als ich ein Labor besuche, wo man eine spektakuläre Entdeckung gemacht hat: die Entdeckung der „Spiegelzellen“. Die Welt hält den Atem an. Bilder von Menschen, die aus den Fenstern der Twin Towers hängen, den Abgrund vor Augen, Bilder vom Tod in Manhattan. Feuerwehrmänner, am Ende ihrer Kraft, Menschen auf der Suche nach Angehörigen – Szenen, die uns ergreifen, die uns Tausende von Kilometern entfernt zu Gedenkfeiern und Gottesdiensten gehen lassen. Was spielt sich bei diesen Bildern in unserem Gehirn ab?

Es soll aber auch eine Reise werden in die Welt von drei Männern und einer Frau, Hirnforschern in Italien, die manchmal verzweifeln an dem Projekt, die Welt im Kopf zu verstehen. „Was ist Mitgefühl?“, frage ich sie. Wie kommt es, dass wir uns in andere Menschen einfühlen können?

Christian Keysers Auf der Suche nach dem Mitgefühl: Der 29-jährige Christian Keysers forscht am Institut für Humanphysiologie in Parma. Copyright: privat.

Anruf bei der Hauptfigur, Christian Keysers, einem jungen Deutschen, 29, den die Liebe nach Italien verschlagen hat. „Das ist alles noch extrem neu, somit spekulativ…“ Die Stimme am Telefon, fast im Flüsterton: „Aber Mitgefühl, Sie werden es selbst erleben, es ist körperlich, wir können es sehen, wir können es hören, mit unseren Elektroden können wir es messen.“ Die Seele zum Anfassen. „Hallo? Sind Sie noch dran? Kommen Sie nach Parma!“

Vier Tage später. Keysers, weißer Kittel, langes Haar, steht neben einem Oszilloskop, seufzt, sieht die junge Frau an. Sie, Evelyne Kohler, rotes Haar, ebenfalls weißer Kittel, sitzt schräg vor einem Affen, nimmt eine Erdnuss aus einem Vier-Kilo-Sack und legt sie auf ein Tablett.

Der Affe mustert die Nuss. Die Augen huschen hin und her. Dann führt Frau Kohler das Tablett immer näher an den Affen heran … Zack! Blitzschnell hat das Tier die Nuss geschnappt, geknackt, in den Mund geführt, verschlungen nach zwei flüchtigen Kaubewegungen.

Im Hintergrund hat das Oszilloskop aufgeleuchtet, hellgrün, es knattert, es kracht. Im Hirn des Affen steckt eine hauchdünne Elektrode. Sie registriert die Aktivität einer einzelnen Hirnzelle. Kabel führen von der Elektrode zum Oszilloskop, auf das Keysers starrt, schweigend.

Mitgefühl. Was den meisten von uns selbstverständlich vorkommt, ist Hirnforschern ein Mysterium, dem sie mit Mikroelektroden, Oszilloskopen und Scannern auf die Schliche zu kommen versuchen. Mitgefühl mit Menschen, die uns nahe stehen, aber auch mit Menschen, die wir nie gesehen haben, Mitgefühl mit den Menschen in Manhattan – wie funktioniert das? Und wie funktioniert, umgekehrt, das Hirn eines gefühlskalten Terroristen? (Sind Terroristen gefühlskalt?)

Das Institut für Humanphysiologie in Parma, nur ein paar Schritte vom hübschen Stadtzentrum entfernt („leicht zu finden, ein hässlicheres Gebäude werden Sie in Parma kaum antreffen“): hier soll es Antworten geben. „Spiegelzellen“, hatte die Stimme am Telefon gesagt, „das ist unsere Antwort.“

Spiegelzellen sind der letzte Schrei der Hirnforschung. Der berühmte Neurologe Vilayanur Ramachandran von der Universität von Kalifornien in San Diego hat die Entdeckung der Spiegelzellen sogar mit der Entdeckung der DNA verglichen, einer Revolution.

Und so sieht es aus, das revolutionäre Labor, in dem man angeblich kurz davor steht, das Rätsel Mitgefühl zu knacken: zwei Hirnforscher im Kittel und ein Affe, der Nüsse knackt, peanuts.

„Ein bisschen Geduld müssen Sie schon aufbringen“, sagt der junge Forscher, „immerhin haben wir schon eine Greifzelle gefunden.“ Er sieht die Frau an. „Dann lass uns mal sehen, ob es auch eine Spiegelzelle ist.“ Eine neue Nuss, ein neuer Versuch. Diesmal aber lässt Frau Kohler den Affen nicht an die Nuss heran, diesmal ist sie es, die sich die Nuss schnappt.

Stille. Keysers dreht an den Knöpfen des Oszilloskops – es tut sich nichts. Der Affe beobachtet, wie Kohler noch einmal zur Nuss greift. Aber die Messgeräte messen nichts. Irritiertes Drehen an den Instrumenten. Ein dritter Versuch. Pause. Vierter Versuch. Nichts. „Vergiss es“, sagt Keysers irgendwann zu seiner Kollegin, senkt den Kopf, greift sich an seinen kleinen Bart, während Kohler immer wieder zur Nuss greift. Schließlich gibt sie auf, lässt den Affen die Nuss schnappen – sofort leuchtet und kracht es wieder. „Okay“, sagt Keysers (leicht genervter Tonfall), „eine schöne Greifzelle, aber keine Spiegelzelle. Scheiße.“

Versuchsabbruch. Der Forscher platziert die Elektrode neu, der Affe nascht ein paar Trauben. Fast schämt man sich, dass es einem nicht sofort einleuchtet, aber wo liegt eigentlich der Zusammenhang zwischen einer „Greifzelle“ und Mitgefühl? „Warten Sie’s ab“, sagt Keysers fast unwirsch.

Im Flur des Labors: Keysers seufzt, er beißt in eine Pizza mit Parmaschinken. „Wir fischen“, sagt der Forscher. „Manchmal finden wir fünf Wochen keine Spiegelzelle, manchmal finden wir drei an einem Tag.“ Kurzes Lächeln. Der junge Mann nimmt einen Schluck aus seiner Coca-Cola-Flasche. „Wissenschaft ist eine grausame Geliebte.“

Wissenschaft, Hirnforschung – wie ist das eigentlich, wenn man sich Tag für Tag auf die Suche nach der Welt im Kopf macht? Gibt das nicht ohnehin Anlass zu chronischem Frust? Wie weit kann man überhaupt dabei kommen, Gefühle zu verstehen, Liebe, Angst, Mitgefühl … Ja, sagt Keysers, eben das sei es doch: Das Nicht-Verstehen ist es, was ihn irritiert, fast weh tue es ihm, diese geheimnisvolle Welt im Kopf zu erleben, jeden Tag, und noch nachts im Traum, sie aber nicht zu begreifen – eine Irritation, die er loswerden will. Forschung als Schmerztherapie.

Plötzlich öffnet sich die Tür des Labors, Kohler, die Frau mit dem roten Haar, steckt den Kopf heraus, sagt mit Schweizer Akzent: „Christian, kommst du mal?“ Keysers schlingt die Pizza hinunter, schnappt seine Cola-Flasche und verschwindet ins Labor. „Spiegelzelle?“, fragt er, links der Affe, rechts die Instrumente. Die Frau schweigt, wortlos wiederholt sie das Affentheater von eben, lässt das Tier die Nuss greifen: Auf dem Oszilloskop leuchten wieder die Hirnpotenziale. Dann – Phase zwei – greift sie, wie vorhin, selbst zur Nuss. Doch im Gegensatz zu eben leuchtet auch jetzt das Messgerät, aus einem kleinen Lautsprecher knattert es. „Gut“, sagt Keysers, „gut“, stellt die halb leere Cola-Flasche auf einen Computermonitor, „noch mal.“

Die Frau greift abermals zur Nuss; es leuchtet, es kracht. Obwohl der Affe selbst nichts macht – er sieht nur zu, wie die Frau zur Nuss greift –, gewittert es in seinem Gehirn. „Warte“, sagt Keysers aufgeregt, und mit einer demonstrativen Armbewegung, die auch der Affe nicht übersehen kann, greift er zur Cola-Flasche – wieder knattert es. „Toll, endlich.“ Der Forscher lächelt. „Eine Spiegelzelle.“

Die Spannung im Labor löst sich, fast macht sich eine gewisse Gemütlichkeit breit. Ungemütlich nur, dass keiner das Bedürfnis zu haben scheint zu erklären, was das Ganze soll: Greifzelle, Spiegelzelle, was, bitte schön, hat das zu bedeuten? Was hat das mit Einfühlungsvermögen zu tun? „Ich erklär’s Ihnen“, sagt Keysers und setzt sich hinter den Computer. „Muss nur noch kurz das Programm für die Datenerhebung starten.“

Keysers nippt an einem Kaffee, der verkabelte Affe bekommt Orangensaft aus einer Injektionsspritze, mehr Mitgefühl ist für ihn nicht drin. „Die herkömmliche Vorstellung vom Hirn ist, dass es eine strenge Arbeitsteilung vornimmt“, sagt Keysers. „Manche Hirnteile kümmern sich um das Sehen, andere steuern unsere Muskeln.“ Die Wahrnehmung, dachte man lange, ist von der Motorik streng getrennt. Bei Spiegelzellen aber hebt sich die strenge Arbeitsteilung auf, diese Zellen können beides gleichzeitig: Muskeln steuern und die Welt wahrnehmen.

Die gerade gefundene Spiegelzelle etwa gibt nicht nur – in Zusammenarbeit mit anderen Zellen – das Kommando, das den Affen zu einer Greifbewegung veranlasst. Sie fängt auch dann an zu feuern, wenn der Affe beobachtet, wie ein anderer eine Greifbewegung macht. „Einer Spiegelzelle ist es egal, wer die Handlung ausführt: der Affe selbst, ich, Sie, jemand im Fernsehen“, sagt Keysers. Er grinst. „Ich weiß schon, Sie wollen wissen, was das mit Mitgefühl zu tun hat.“ Der junge Mann kneift die Augen zu, als müsse er scharf nachdenken, als kenne er diese Gedanken nicht längst in- und auswendig. „Stellen Sie sich eine Hirnzelle vor, die grundsätzlich nicht unterscheidet, ob Sie es sind, der weint, oder Ihr Gegenüber oder ein Feuerwehrmann in New York.“

Spiegelzellen gibt es nicht nur für Greifbewegungen, sondern für so gut wie alles. Man kann von einem regelrechten „Spiegelsystem“ in unserem Hirn sprechen: Jedes Mal, wenn wir etwas sehen, wird unser Hirn so aktiviert, als würden wir die wahrgenommene Handlung selbst ausführen. Das Hirn spiegelt so unser Gegenüber. Und zwar immer. Wenn wir sehen, wie jemand greift. Wenn wir sehen, wie jemand gähnt. Oder lacht. Ohne dass wir uns dagegen wehren können, werden, sobald wir einen anderen Menschen sehen oder hören, nicht nur Hirnzellen für das Sehen oder Hören aktiv, sondern auch solche, die unsere Muskeln steuern. Schon sind wir versucht, selbst zu greifen, gähnen, lachen. Wir nehmen unsere Mitmenschen nicht nur wahr, wir simulieren sie. Doch wozu?

„Es macht mühsame Erklärungen überflüssig“, sagt Keysers. „Wie können Sie die Motive Ihrer Freundin nachvollziehen, ihre Gefühle? Indem Sie Ihre Freundin innerlich imitieren, sich mental in sie hineinversetzen, als würden Sie selber das machen, was sie macht. Um sie zu verstehen, müssen Sie nur noch sich selbst verstehen.“ In diesem „neuronalen Nachvollziehen“ des anderen liege, so Keysers, der Ursprung des Mitgefühls.

Blick in den Duden. Nachvollziehen: sich in jmds. Gedanken, Vorstellungen, Handlungsweise o. Ä. hineinversetzen u. sie sich [geistig] zu Eigen machen, sie so verstehen, als hätte man selbst so gedacht, gehandelt.

„Keysers! Keysers!“, schallt es aus dem Flur. Sekunden später steht ein älterer Herr in der Tür, graues halblanges Haar, grauer Schnurrbart, graue Brille, zappelnd, er winkt. Keysers springt auf, der Mann nuschelt etwas. „Das ist unser Chef, Giacomo Rizzolatti“, sagt Evelyne Kohler (sie sitzt neben dem Affen, wiederholt die Greifbewegung, im Hintergrund das Knattern). Der grauhaarige Mann sieht aus wie Einstein.

Eine Frage, Professor Rizzolatti: Wenn wir unser Gegenüber immer simulieren, warum sind wir dann nicht alle motorische Marionetten des anderen? Warum imitieren wir nicht hemmungslos, was wir sehen? „Es gibt Hirnpatienten, die genau das tun“, sagt Rizzolatti, von einem Fuß auf den anderen tretend. Das Syndrom habe sogar einen eigenen Namen: Echopraxie.

Wir imitieren, aber ein Riegel im Hirn verhindert im letzten Moment, dass wir die Imitation tatsächlich ausführen. Wir sehen eine Bewegung unseres Gegenübers, die Spiegelzellen werden aktiviert, aber eine Hemmung sorgt dafür, dass die Zellen unsere Muskeln nicht in Bewegung setzen – zumindest meistens. „Bei der Echopraxie fehlt diese Hemmung.“ Rizzolatti nimmt seine Brille ab. „Ein Echopraxie-Patient hätte jetzt längst auch die Brille abgenommen.“ Wie der ehrgeizige Fußballfan, der, vorm Fernseher sitzend, den Fuß gegen das Tischbein rammt, sobald der Stürmer in Tornähe kommt? „Ja, ja“, sagt Rizzolatti lächelnd, „ein klarer Fall von Echopraxie.“ Auch das Lächeln erinnert an Einstein.

Zwei Stockwerke tiefer: Keysers im Labor eines Kollegen, eine kleine, schalldichte Zelle, Schaumgummi an den Wänden, in der Mitte ein Liegestuhl wie beim Zahnarzt. „Rizzolatti sagt, ich soll Ihnen das hier zeigen.“ Der Forscher hält ein weißes Gerät in der Hand, eine Spule in der Form eines Schmetterlings, die er an seinen Kopf führt. „Magnetstimulation“, sagt er und drückt einen Knopf, verschiebt die Spule ein Stückchen, drückt abermals, schiebt und drückt – bis einer seiner Finger leicht zu zucken anfängt.

Keysers erklärt den Versuch eines Kollegen aus Ferrara: Mit der Magnetspule stimuliert er Hirnzellen, die Fingermuskeln zucken lassen. Dann aber schwächt er die Stärke der Stimulation so weit ab, dass sie die Finger nicht mehr zucken lässt. Zeigt er nun Versuchspersonen Videobilder von Fingern, die Greifbewegungen machen, reicht diese schwache, unterschwellige Stimulationsstärke, um die Finger zum Zucken zu bringen. „Sehen Sie? Ein bisschen magnetische Nachhilfe“, sagt Keysers, „und schon wären Sie die motorische Marionette, von der Sie sprachen.“

Im Kopf einer Frau, die sich in Toronto einer Hirnoperation unterzog, hat man Zellen entdeckt, die feuerten, wenn der Versuchsleiter der Frau eine Nadel in den Finger stach. Zur großen Überraschung fand man unter diesen Zellen eine, die auch dann aktiv wurde, wenn die Frau sah, wie der Versuchsleiter sich selbst die Nadel in den Finger bohrte – „als würde das Hirn keinen Unterschied zwischen dem eigenen Schmerz und dem Schmerz des Gegenübers machen“, sagt Keysers. „Im Hirn wird dein Schmerz zu meinem Schmerz, und zwar ganz wörtlich.“

Und doch wird keiner bestreiten, dass es zwei Paar Stiefel sind, ob man sich selbst in den Finger schneidet oder das gleiche Manöver beim Gegenüber sieht. „Das ist nur ein Unterschied der Quantität“, sagt Keysers. Beim eigenen Finger würden vielleicht Tausende von Schmerzzellen aktiv – längst nicht alle davon seien Spiegelzellen, die auch reagieren, wenn sie den Schmerz bei einem anderen Menschen wahrnehmen. „Beim Mitgefühl wird der andere Mensch Teil unseres Ich, er wird nicht unser ganzes Ich.“

Gibt es auch Hirne, die den anderen nicht Teil des Ich werden lassen? Wie ausgeprägt ist die Spiegelfähigkeit eines Mörders? Wie viel Mitgefühl besitzt ein Terrorist, der ein Passagierflugzeug in eine tödliche Waffe verwandelt?

Psychologische Versuche deuten darauf hin, dass die Gefühlswelt bestimmter Verbrecher tatsächlich hochgradig gestört ist. Für die Verarbeitung von Begriffen, die starke Gefühle auslösen, etwa „töten“ oder „verstümmeln“, brauchen wir normalerweise mehr Zeit als für neutrale Wörter wie „Tisch“ oder „Butter“. Gefühlsarme Verbrecher verarbeiten beide Wortkategorien gleich schnell. Für die emotionale Ebene der Begriffe ist dieser Verbrechertypus blind, wie für das Leid anderer Menschen.

„Vielleicht“, spekuliert Keysers, „mangelt es manchen gefühlskalten Verbrechern auch an Spiegelzellen?“ Der Killer sieht das angsterfüllte Gesicht seines Opfers, er hört die Schreie – das führt aber nicht dazu, dass seine eigenen Angst- oder Schmerzzellen aktiviert werden. „Eine Theorie“, sagt Keysers, „mehr nicht …“

Und der Terrorist, der eine voll besetzte Boeing gezielt in einen Wolkenkratzer steuert? Wie tickt ein solches Hirn? „Genau werden wir es wohl nie wissen“, sagt Keysers. „Aber vermutlich anders als das des typischen gefühlsarmen Mörders.“ Der gefühlsarme Killer zeichne sich ja gerade dadurch aus, dass ihn die Konsequenzen seiner Tat kalt lassen. „Den Terroristen von New York aber war die Konsequenz ihrer Tat nicht egal, im Gegenteil: Die tödliche Konsequenz war ihr Ziel.“

Viel mehr, meint der Wissenschaftler, kann man aus Sicht der Forschung derzeit nicht sagen. Die Hoffnung auf ein Paradies, auf 72 Jungfrauen, die Überzeugung, es gebe ein Leben nach dem Tod, ein besseres Leben, für das sich das „Opfer“ lohnt – da kommt eine kulturelle Komponente ins Spiel, wenn man so will: eine „Hirnwäsche“, die viel zu komplex ist, als dass man sie mit einzelnen Elektroden erfassen könnte.

Abend in Parma. Die Wissenschaftler haben sich in einer der kleinen Weinstuben im Stadtzentrum verabredet. Keysers ist der Erste, der eintrifft, ohne Kittel, dafür im pastellfarbenen Armani-Anzug, zwischen den Holzregalen mit Rotweinflaschen – man erkennt ihn kaum wieder. Er erzählt von seinem Kollegen Vittorio Gallese, der die erste Spiegelzelle entdeckt hat. Das war 1991. Gallese ist zu der Zeit nicht mal an der Uni angestellt. Verdient sein Geld als Gefängnisarzt. Verbringt seine Abende und Sonntage damit, Hirnzellen zu suchen und zu untersuchen. „Er kommt auch gleich.“

Das Spiegelsystem, so gut es funktioniert, manchmal, erzählt Keysers, führt es auch zu Fehlinterpretationen. Beispiel: Das „Lächeln“ des Delfins. Sehen wir einen Delfin, aktiviert das unsere Spiegelzellen – schon sind wir versucht, selbst zu lächeln, was uns wiederum fröhlich stimmt. „Wir schließen von uns auf den Delfin, und zwar ganz automatisch, wir können gar nicht anders.“ Dass die Mundwinkel eines Delfins immer angehoben sind und nichts über seinen Gemütszustand aussagen, das wissen unsere Spiegelzellen nicht. Der intuitive Schluss geht in die Irre.

Plötzlich steht Dr. Gallese in der Tür, schwarzer Bart, schwarzes Haar, gedrungene Gestalt. „Did you order wine already?“, fragt er in italienischem Englisch. Keysers nickt. Etwas später fragt Vittorio Gallese seinen jungen Kollegen, ob er in letzter Zeit etwas von seiner Ex-Freundin in Turin gehört habe, der Frau, für die der junge Mann nach Italien kam. Keysers schüttelt den Kopf. Er schweigt. „Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie eine Verhaltensweise Ihrer Freundin einfach nicht verstehen?“, sagt er dann. Das Hirn versucht, das Gegenüber zu spiegeln – und scheitert. „Erst wenn das Spiegelsystem versagt, müssen Sie bewusste Erklärungen für das Verhalten suchen, Hypothesen, eine Theorie.“ Das Du wird nicht mehr Ich, es bleibt Du. „Was dann entsteht, ist neuronale Distanz.“

Keysers nimmt sein Weinglas. Gefühle auf dem Oszilloskop, vermessene Gefühle – ob die Wissenschaftler finden, dass uns die Hirnforschung entzaubert? Gallese guckt verwundert. „Nein, je mehr ich das Wunder Hirn entdecke, desto faszinierender wird es, desto deutlicher wird der Raum, den ich bewundern kann.“ Keysers stimmt zu; Beispiel Mitgefühl. „Erstaunlich, mit welch einfacher Eleganz das Hirn das gelöst hat“, sagt er und hält das Rotweinglas unter seine spitze Nase. „Atemberaubend.“

Beitrag von Bas Kast

Links zum Thema

  • Das Institut in Parma
  • Christian Keysers Website mit seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen.

Zur Person

Der Text ist ein Auszug aus dem kürzlich erschienenen Buch "Revolution im Kopf. Die Zukunft des Gehirns" von Bas Kast (Berliner Taschenbuch Verlag 2003). Der Autor arbeitet als Wissenschaftsredakteur für den "Tagesspiegel" in Berlin.

Kategorien

Themen: Biologie | Psychologie
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