Lernen statt Pauken

"Irren ist menschlich"Leerbücher und Lehrbücher II: „Irren ist menschlich“, das legendäre Lehrbuch der Psychiatrie, gibt es jetzt endlich als erschwingliches Taschenbuch. Und das außergewöhnliche Lehrbuch lohnt sich mehr denn je...

Erich Fried hat in einem Gedicht geschrieben, dass sich der irrt, der von einem Gedicht die Rettung erwarte – es irre aber auch der, der davon keine Rettung erwarte. Ähnliches könnte man über das Lehrbuch Irren ist menschlich sagen. Es ist inzwischen 25 Jahre alt, wird ständig aktualisiert und bleibt ein Solitär unter den deutschsprachigen Lehrbüchern. Thema des Buches ist ein herausforderndes, ja extrem anspruchsvolles Arbeitsfeld: die Psychiatrie, die traditionell ein Arbeitsfeld der Medizin ist. In der Psychiatrie werden Psychopharmaka verabreicht (mit denen sich die Ärzte auch schon einmal selbst im harten Alltag über Wasser halten) und da werden nach eng definierten Standardlisten Diagnosen gestellt. Die Dominanz der (Hoch)Schulmedizin hat lange zu einer Dominanz der pharmakologischen Sichtweise geführt. Die Antwort auf psychische Störungen sind demnach, etwas polemisch ausgedrückt, an Laborratten getestete Medikamente. Aber das ist nur eine Seite des Problems, wenn auch die kommerziell interessanteste. Über die Macht der Pharmakonzerne sind viele düstere Kriminalromane geschrieben worden, und wahrscheinlich entspringen nicht alle übertriebenen Fantasien.

Vor 25 Jahren endete das Monopol einer einseitig praktizierten Medizin, und das lag auch am Lehrbuch „Irren ist menschlich“. Ende der 1970 Jahre verfassten der Psychiater Klaus Dörner und die Psychologin Ursula Plog, nach langjähriger Praxiserfahrung in psychiatrischen Kliniken ein Lehrbuch, indem von mehr als von Medikamenten und Standards die Rede ist. Das Buch erschien im dazu eigens gegründeten „Psychiatrie-Verlag“, der heute zu den etabliertesten Fachverlagen zählt. Schon der Titel des Lehrbuches deutet an, worum es geht: In der Psychiatrie ist der Mensch besonders menschlich, auch – oder weil – er erkrankt ist. Das traditionelle Medizinstudium litt Ende der 1970er Jahre noch an einem gravierenden Problem. Die Besetzung des Oberarztpostens in einer psychiatrischen Klinik war oft davon abhängig, wie gut der Bewerber mit Laborratten umgehen konnte. Das Studium hatte mit dem späteren Beruf fast nichts zu tun. Nach dem Studium konnten die jungen Psychiater zwar alle Neurotransmitterstörungen herunterbeten, aber der Praxisschock war umso größer, wenn sie dann plötzlich vor einem psychisch erkrankten Menschen standen. Für diese schwierige Begegnung mit der Arbeitsrealität reichte das biologische Wissen keineswegs aus. Aus dieser Erfahrung heraus hat sich die Psychiatrie zur Sozialpsychiatrie weiterentwickelt, in der medizinische und psychosoziale Aspekte integriert gesehen werden.

„Wie die Psychiatriegeschichte lehrt, ist die Psychiatrie immer abhängig von dem Gesellschaftssystem, in dem sie arbeitet. ...“
» Das erste Kapitel des Lehrbuches zum runterladen

Im Lehrbuch „Irren ist menschlich“ geht es natürlich auch um medizinisches Wissen, aber eben nur als einem Teilaspekt eines komplexen Arbeitsfeldes. Das Buch stellt dar, „was in der Psychiatrie geschieht und geschehen soll“, womit eine umfassende Sichtweise auf das Arbeitsfeld eröffnet wird. Das Lehrbuch ist geschrieben für Mediziner, Sozialarbeiter, Psychologen, Krankenpfleger, Ergotherapeuten, die Kranken selbst und deren Angehörige. Es ist für alle, die in der Psychiatrie arbeiten, vom Zivi bis zum Chefarzt. Denn erst aus dem Zusammenspiel all dieser Menschen ergibt sich der harte Berufsalltag. Keiner darf hierbei nur die soziale Dimension sehen oder nur die pharmazeutische: Gesprächskompetenz, Beziehungs-, Selbst- und Begegnungskompetenz, der richtige Einsatz von Medikamenten, verschiedene Therapieformen und eine pädagogische Alltagsgestaltung gehören heute zum Management einer psychiatrischen Einrichtung.

Wenn ein Lehrbuch all das thematisieren möchte, muss es neue Wege gehen. Die Sprache des Lehrbuchs ist gut verständlich, auch Zivis können es lesen. Es geht nicht nur um Wissen, sondern auch um Haltungen. Im Vorwort heißt es über das Buch: „Es soll den psychiatrisch tätigen Leser (...) befähigen, seine Alltagsarbeit nachdenklicher, vollständiger, wahrhaftiger, leichter und mit mehr Freude zu tun.“ (S. 11) Dieser Anspruch klingt nicht nur philosophisch, sondern „Irren ist menschlich“ ist ein Lehrbuch, das tatsächlich eine Philosophie hat. In der „Gebrauchsanweisung“ im ersten Kapitel wird sie kurz dargestellt: „Da Menschen zunächst immer in Beziehungen leben, noch bevor sie handeln, ist Psychiatrie die Begegnung (...) von mindestens drei Menschen: dem psychisch Kranken, dem Angehörigen und dem psychiatrisch Tätigen.“ (S. 17) In allen Kapiteln des Buches, egal ob es um Depression, Manie, Schizophrenie oder Abhängigkeit geht, werden die Sachverhalte innerhalb dieses Dreieckes thematisiert – und eben nicht nur von der biologisch-pharmazeutischen Seite her.

„Da Menschen immer in Beziehungen leben, noch bevor sie handeln, ist Psychiatrie die Begegnung nicht von zwei, sondern mindestens drei Menschen: dem psychisch Kranken, dem Angehörigen und dem psychiatrisch Tätigen. Wo einer von ihnen fehlt, muss er hinzufantasiert werden ...“
» Die Gebrauchsanweisung des Lehrbuchs zum runterladen

Das Buch ist nicht als langweilig belehrender Monolog verfasst. Es ist ein Arbeitsbuch, der Leser muss sich einbringen. Die Autoren machen sich transparent, sie schreiben durchaus in der Ich-Form, es gibt die persönliche Ansprache des Lesers, zahlreiche Fall- und Situationsbeispiele, Gesprächs- und Dialogfragmente, Übungen für die Leser und sogar Anleitungen für Rollenspiele. Man wird außergewöhnlich in die Probleme verwickelt und mit sich selbst konfrontiert, was mit den hohen persönlichen Ansprüchen des Arbeitsfeldes zu tun hat. Wer sich den psychischen Krankheiten anderer beruflich widmet, sollte die eigenen Macken, Eigenarten, Schwächen und Grenzen gut kennen. Die Thematisierung von Depressionen ist zum Beispiel überschrieben mit „Der sich und andere niederschlagende Mensch“. Damit wird klar, was eigentlich klar sein sollte: die Krankheit Depression hat große Auswirkungen auf das gesamte Umfeld. Und dazu gehört der behandelnde Arzt ebenso wie die Angehörigen. Die psychischen Krankheiten werden daher als eine Art Landschaft beschrieben, in der Veränderungen stattfinden.

Wer sich mit diesem Lehrbuch intensiv auseinandersetzt, der findet nur wenig zum Auswendiglernen. Man findet Denkanstöße, die einen verändern können. Das Buch ist ideal für die Erarbeitung im Team, man kann über die Fallbeispiele diskutieren, die eigenen Erfahrungen zur Diskussion stellen, Rollenspiele durchführen. Und das ist, da das Buch mit aktuellem Fachwissen gesättigt ist, dann tatsächlich eine sehr anspruchsvolle Art des Lernens. Man wird stupide Klausuren, in denen bloß Faktenwissen abgefragt wird, damit nicht bestehen können. Dafür gibt es genügend unlesbare medizinische oder psychologische Paukbücher, deren Informationen man meist nur für den Tag der Klausur im Kopf behalten kann. „Irren ist menschlich“ hingegen ist mehr als ein Lehrbuch – es ist ein Lernbuch. Wie gut es ist, wird man in der psychiatrischen Berufspraxis erfahren, die für Standardlösungen zu komplex ist. Da ist angewandtes fachliches und soziales Wissen gefragt, und ein hoher Reflexionsgrad. Man muss sich gut kennen. Im harten Alltag in der Psychiatrie kann ein Lehrbuch wie „Irren ist menschlich“, in dem keine schnellen Rezepte zu finden sind, tatsächlich die Rettung bedeuten – im Sinne von Erich Fried.

Beitrag von Frank Berzbach

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Zur Person

Frank Berzbach hat seinen Zivildienst in einem Wohndorf für psychisch Kranke absolviert, anschließend in Köln und Frankfurt Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik studiert. Er ist Chefredakteur dieses Magazins.

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  • Klaus Dörner / Ursula Plog / Christine Teller / Frank Wendt: Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. 656 Seiten, Bonn: 2004 (Studienausgabe für 19.90 Euro).

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Themen: Medizin | Psychologie
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