Biologische Vielfalt: Wie viele Arten sind's denn nun?
Wie viele Tierarten gibt es auf unserem Planeten? Nach Jahrzehnten taxonomischer Forschung und Inventarisierung der Erde müßten wir das langsam wissen. Sollte man meinen. In der Tat gibt es jedoch niemanden auf der Welt, der uns diese Frage beantworten kann. Die Schätzungen schwanken von 10 bis 100 Millionen, oftmals beruhen sie lediglich auf Ergebnissen einzelner Studien, die „hochgerechnet“ werden. Diese Studien behandeln meist Insekten in tropischen Regenwäldern – Insekten stellen mehr als die Hälfte aller bisher beschriebenen Organismen und sind damit die bei weitem artenreichste Gruppe. Im Rahmen dieser Frage führte ich von März bis Juli 2003 ein kleines Forschungsprojekt im subtropischen Regenwald Australiens durch.

Am 6. März 2003 war es endlich soweit: Ich stieg ins Flugzeug nach Brisbane, um dort 4 Monate mit Roger Kitching, einem Tropenökologen an der Griffith University, zusammenzuarbeiten. Für mich als Europäer war schon der Wald auf dem Campus recht exotisch: neben dem allgegenwärtigen Eukalyptus wachsen dort grass trees , fremdartige Pflanzen mit feuerresistentem (und deshalb meist schwarzverkohltem) Stamm und einem dichten Büschel langer, schmaler Blätter als Krone, knallbunte Regenbogenloris (eine Papageienart), Warane, und natürlich die laughing kookaburras , wohl Australiens bekannteste Vögel. Als die ersten Weißen diesen Kontinent betraten und die Rufe diese Vogels hörten, glaubten sie angeblich, es handele sich um Einheimische, die sich in den Bäumen versteckt hielten und sie verhöhnten. Und in der Tat lieben es die Kookaburras, morgens zusammen auf Ästen herumzusitzen und zu lachen.
Nun war ich ja nicht (nur) zum Vogelbeobachten nach Australien gekommen, sondern, um ein Forschungsprojekt über Insektendiversität durchzuführen. Dabei wollte ich untersuchen, inwieweit rindenbewohnende Insekten auf ihren Wirtsbaum spezialisiert sind: Sind sie von ihrer Baumart abhängig oder interessieren sie sich nur für die Beschaffenheit der Rinde? – Diese Frage führt nun wieder zur die Frage nach der Artenzahl zurück. Denn: Wenn die Rindenbewohner eher auf die Baumart spezialisiert sind, hat wahrscheinlich jede Baumart ihre eigenen Insektenarten. Damit ist die Gesamtartenzahl ein Vielfaches höher, als wenn die Insekten weniger spezialisiert sind. Diese sogenannte Wirtsspezifität ist keinesfalls nebensächlich: Der Biologe Terry Erwin veröffentlichte 1982 eine der einflußreichsten Studien auf dem Gebiet der Artenvielfalt. Der Anteil wirtsspezifischer Insektenarten, den er auf 13% schätzte, war einer der Hauptfaktoren seiner Kalkulation, die eine Zahl von etwa 30 Millionen Tierarten weltweit ergab, anstelle der zuvor angenommenen 1,5 Millionen.
Wie die Verhältnisse bei rindenbewohnenden Käfern im australischen Urwald aussehen würden, war ungewiss. Vor allem stellte sich die Frage: Wie kann man überhaupt die Struktur der Rinde von Urwaldbäumen messen? Ich beschränkte mich auf ihre Rauhheit und fand nach einigem Herumexperimentieren auch eine Methode, um diese zu quantifizieren. Die Käfer selbst sammelte ich schließlich von insgesamt neun verschiedenen Baumarten, von denen jeweils drei glatte, mittlere und rauhe Rinde repräsentierten.
Es ist faszinierend, ganze Ökosysteme im kleinen zu entdecken, die einem bisher verborgen geblieben sind. Die Fauna auf Baumrinde besteht hauptsächlich aus Springschwänzen (altertümlichen, flügellosen Insekten), Spinnen, Milben und Käfern, daneben kleinen Fliegen und Wespen. Diese Spinnen erreichen keinen Zentimeter an Körpergröße – und die Mehrheit der anderen Tiere ist noch kleiner: von meinen 1900 Käfer-Individuen waren 1700 kleiner als zwei Millimeter. Baumrinde scheint demnach ein eigenständiger Lebensraum zu sein, der eine auf ihn spezialisierte Tierwelt beherbergt. So fand ich eine Käferart, die mehr als die Hälfte aller gefundenen Käfer-Individuen stellte. Dennoch war sie der Wissenschaft bis dato unbekannt: ein Zeichen, daß sie wohl nur auf Rinde vorkommt (wo demnach noch niemand gesucht hat).
Gilde
Eine Gilde ist eine Eigenschaft, die mehreren Tier- (oder Pflanzen-) arten gemeinsam ist. Sie beruht auf ökologischen Ansprüchen, nicht auf Verwandtschaft der Arten untereinander. Bei Vögeln kann man z.B. Körnerfresser, Insektenfresser, Beutegreifer und Aasfresser unterscheiden. Man kann der Gildenbegriff auf praktisch jede ökologische Eigenschaft anwenden, um z.B. Beutegreifer weiter in tag- und nachtaktive Arten zu untergliedern.
Arbeiten vorheriger Ökologen ermöglichten mir, meine Arten in ihre jeweilige Gilde zuzuordnen (s. Kasten) und so Einblicke in das Nahrungsnetz der Rindenfauna zu gewinnen. So gibt es etwa die Scydmaenidae , eine Familie winziger Käfer, die Jagd auf Milben machen – sie entsprechen Beutegreifern wie Mäusebussard und Habicht in unserer „großen“ Welt. Und wie diese auch kommen sie zwar in etlichen Arten vor, sind aber insgesamt relativ selten. Die weitaus meisten Arten, die ich fand, ernähren sich von Pilzen. Was das aber für Pilze sind und was wiederum ihr Vorkommen auf Rinde bedingt, bleibt – wie so vieles – zu entdecken.
Interessanterweise kamen auf rauher Rinde nicht mehr Käfer-Individuen vor als auf glatter Rinde. Das hatte ich eigentlich erwartet – schließlich bieten Furchen ja rein räumlich mehr Oberfläche und damit mehr Lebensraum. Schaut man aber nun auf die Artenzahl, staunt man nicht schlecht: auf rauher Rinde fand ich 63 Arten, auf glatter gerade einmal 33. Auf glatter Rinde leben demnach genauso viele Individuen; es sind jedoch nur wenige Arten, die das Spektrum dominieren und wenig Raum für seltene Arten lassen. Warum? Offenbar bieten Rindenfurchen eine höhere „Umweltheterogenität“, die Spezialisierungen auf verschiedene Mikrohabitate ermöglicht. Die Rauhheit der Rinden hatte damit einen weitaus höheren Einfluß als die Baumart. Also ist die Wirtsspezifität der Käfer eher gering – die meisten von ihnen kommen auf mehreren Baumarten vor.
Kommen wir zu Terry Erwins Frage nach der Artenzahl auf unserem Planeten zurück. Aus meinem Ergebnis, einem geringeren Prozentsatz an Wirtsspezialisten ergibt sich auch eine insgesamt kleinere Artenzahl. Es bleibt zu entdecken, inwieweit diese Trends auch für andere Tiergruppen gelten und ob sie auch in anderen tropischen oder subtropischen Wäldern anzutreffen sind. Was sagt uns das? Wie so oft in der Biologie – man kann Ergebnisse nicht verallgemeinern. Man darf auch weiterhin gespannt sein.
Zur Person
Florian Menzel (24) studiert Biologie und macht gerade ein Auslandssemester an der Duke University (USA), Department of Biology. Er war 1998 Bundessieger im Fachgebiet Biologie beim Wettbewerb „Jugend forscht“.