Gedächtnis in Worten

* Ein Wort ist ein Wort – und bedeutet meinem Nachbarn doch nicht das gleiche, wie mir. Sprache speichert Erinnerung und Information einer Gemeinschaft, welche weit über die begriffliche Bedeutung der Worte hinaus reicht. Das Netzwerk „Verbotene Worte“ beschäftigt sich mit den sprachlichen Fallstricken in der paneuropäischen Verständigung.

Jugend! Zukunft! Ich denke: Möglichkeiten, Chancen, Freiheit. Optimistisch blicke ich zu meinem Nachbarn – und dieser blickt skeptisch, fast mürrisch zurück. Der Fall scheint klar: diesen Menschen interessiert die nachkommende Generation nicht. Oder gibt es eine andere Erklärung für die missmutige Reaktion auf die genannten, eindeutig positiv besetzten Begriffe? Es gibt einen Grund und dieser liegt hinter der begrifflichen Bedeutungsebene der Worte. Sprache speichert Erinnerungen und Erfahrungen, diese bestimmen den Umgang mit den Worten. Die Jugend meines Nachbarn aus einem der ehemaligen Ostblockstaaten sollte die Verantwortung für das dauerhafte Bestehen der sozialistischen Gesellschaftsform tragen und für dessen erfolgreiche Weiterentwicklung bürgen. Zukunft meinte Pflichterfüllung, Jugend war eingebunden in ein Planprogramm. Diese Konnotationen wirken weiter bis heute und können zu Fallstricken in der interkulturellen Verständigung werden. Das europäische Netzwerk „Verbotene Worte“ versucht, auch mit Blick auf die Osteuropa-Erweiterung, ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge zu schaffen.

Die Phantastische Bibliothek Wetzlar
ist eine 1989 gegründete Wissenschafts- und Kultureinrichtung. Sie verfügt über die weltweit größte öffentlich zugängliche Sammlung phantastischer Literatur, sowie Fachzeitschriften, wissenschaftliche Schriftreihen und Sekundärliteratur.

Impulsgeberin dieses Projektes ist die Phantastische Bibliothek Wetzlar, welche schon lange den Kontakt mit Osteuropa pflegt. Verbindend war dabei das Interesse an der phantastischen Literatur, eine Gattung, welche in einer politisch repressiven Situation besondere Bedeutung erlangt. Schon bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann die Bibliothek mit Veranstaltungen zum Thema Zensur, welche ebenfalls eine wesentliche Erfahrung im Umgang mit Sprache darstellt. 2002 folgte die Reihe „die nEUen“ als deutscher Beitrag zum UNESCO-Forum „Dialog der Kulturen“. Aus den Begegnungen in diesen Veranstaltungen und durch intensive Mitwirkung der deutsch-bulgarischen Publizistin und Kulturwissenschaftlerin Dr. Tzveta Sofronieva entstand 2003 schließlich das interdisziplinäre Netzwerk der „Verbotenen Worte“ als neuartige Forschungs- und Lerngemeinschaft. Anliegen des Projektes ist die Reflektion über Begriffe, die im nationalen Kontext oft kontaminiert oder besonders konnotiert sind. Ziel dieser Forschungen ist die Wahrnehmung der jeweiligen Bedeutungsumfelder und damit die Möglichkeit des wirklichen gegenseitigen Verstehens der Worte und Inhalte. Viele der Teilnehmer sind Übersetzer, Schriftsteller und Journalisten, also Wortarbeiter, welche mit den Belastungen oder Tabuisierungen einer Fremdsprache in Berührung kommen. Sie sind oftmals die erste Schnittstelle im interkulturellen Kontakt und tragen so an entscheidender Stelle dazu bei, Verständnis zu ermöglichen und zu befördern. Insgesamt sind jedoch auch Akteure aus Wirtschaft und Politik beteiligt, Professoren und Studenten, sowie Bürger vor Ort und interessierte Menschen aus ost- und westeuropäischen Ländern. Einsicht, Verständnis und Veränderung sollen als Ergebnis vieler persönlicher Begegnungen und Arbeitstreffen erreicht werden.

Die Stiftung Phantastik
und ein Förderverein unterstützen die Bibliothek, welcher auch ein Zentrum für Literatur und eine interkulturelle Begegnungsstätte angehören. In diesem Rahmen veranstaltet sie Tagungen, Lesungen und Vorträge, sowie alljährlich Anfang September die „Tage der Phantastik“. Seit Jahren pflegt die Bibliothek zudem in Deutschland wenig bekannte Literatur aus Mittel- und Osteuropa über Buchbestände und Begegnungswochen. Durch die politische Öffnung seit 1990 und dem damit verbundenen Zugang zu den Literaturen jenseits des „Eisernen Vorhangs“ erschloss die Phantastische Bibliothek die Bedeutung der phantastischen Gattung in einer zensurbeschränkten Situation

Die Treffpunkte und Foren des Projektes sind neben einer Internetplattform viele gegenseitige Besuche und gemeinsame Kongresse. Manche Teilnehmer begegnen sich auch außerhalb der Projektveranstaltungen wieder, auf Tagungen, in Institutionen oder auf der Drehscheibe Buchmesse. Die gesamte Organisation des Netzwerks selbst ist dezentral angelegt. Somit hat jede teilnehmende Gruppe die Möglichkeit, ihre Stärken zu nutzen, sie kann die jeweilige Situation vor Ort berücksichtigen und produktiv verwenden. Dies erfordert ein großes Maß an Eigeninitiative bis hin zur Finanzierung der eigenen Projektmodule. Besonders die osteuropäischen Teilnehmer verfügen jedoch oft bereits über Erfahrungen mit der Selbstorganisation unter schwierigen Bedingungen. Vorteil dieser Herangehensweise ist zudem die Vermeidung eines administrativen Überbaus, eine flexible Anpassung an die Bedingungen der verschiedenen Länder ist möglich. Die Teilnehmer entwickeln eine große persönliche Bindung an Inhalte und Mitwirkende. Nachteilig ist die wiederkehrende Unsicherheit über die Budgetierung und damit über die Fortsetzungsmöglichkeiten der einzelnen Projektbeiträge. „Aber“, so Bettina Twrsnik, die Leiterin der Phantastischen Bibliothek, „das Anfangen ist das Wichtigste.“ Sie vergleicht das Netzwerk mit Mosaiksteinen, welche sich langsam zusammenfügen. Diese Module reichen heute von Paris nach Leipzig, von Berlin durch die Slowakei nach Ungarn, von Bulgarien nach Litauen, um nur einen Ausschnitt zu skizzieren. Manche Projektmodule entstehen zuerst ohne Wissen um das Projekt „Verbotenen Worte“, bewegen sich thematisch jedoch auf genau diesem Terrain und gliedern sich später an. Andere der selbstverantwortlich arbeitenden Gruppen bilden neue Cluster und proben Synergien inhaltlicher oder organisatorischer Art. Alle Teilnehmer treibt das Hinhören und Hinsehen an, welches jenes Wissen entstehen lässt, das für Verständigung im Wortsinne nötig ist.

Die Hindernisse im Verständigungsprozess sind vielfältig. Einerseits können gleiche Begriffe mit verschiedenen Bedeutungen belegt sein. „Heimat“ ist solch ein Beispiel: ein sehr belasteter und schwieriger Begriff in Deutschland, welcher in den Ländern des ehemaligen Ostblocks hingegen sehr positiv besetzt ist. Noch komplexer wird es mit Worten, welche innerhalb einer Sprachgemeinschaft tabuisiert worden sind. Der Begriff der „Vertreibung“ etwa ist aus dem polnischen verschwunden, um diesen Sachverhalt zu benennen wird das Wort „Umsiedlung“ oder andere Euphemismen verwendet. Diese Beispiele lassen erahnen, welche Menge an sensibler Information über Ereignisse, Erfahrungen und Reaktionen einer Bevölkerung in Worten und im Sprachgebrauch gespeichert sind. Und welche Quellen für tiefreichende Missverständnisse darin verborgen liegen. Das Projekt „Verbotene Worte“ versucht entwickelte Denkmuster wahrzunehmen und Geschichte in Geschichten neu zu erzählen. Das Medium Literatur bietet die Möglichkeit, Ereignisse abseits von Statistiken zu fassen und schafft so eine Beziehung zum Empfinden. Aus dieser Wahrnehmung heraus versucht das Netzwerk wiederum die Verknüpfung zur Politik, indem es lokale und europäische Politiker anspricht. Durch die Zusammenarbeit entstehen neue Fragestellungen über die Formen von Erinnerung und die Politisierung des Gedenkens. Vor diesem Hintergrund gestaltete die Phantastische Bibliothek ein Projektmodul in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung. Von März bis Mai 2004 fanden in Wetzlar politische Gesprächsabende zum Thema Vergangenheit und Geschichte statt, wobei jeweils zwei Schriftsteller aus zwei europäischen Ländern unter der Moderation eines Politikers zusammentrafen. Erinnerungskultur, Berührungsverbote, Stereotypen – diese Themen sind verknüpft mit und verankert im Speicher unserer Sprache. Das Projekt „Verbotene Worte“ möchte durch Beobachtung und Kommunikation dieser Zusammenhänge die interkulturelle Kompetenz stärken, welche für eine europäische Identitätsbildung benötigt wird.

Es ist geplant, die Beiträge aus den verschiedenen Projektmodulen zu sammeln und zu veröffentlichen. Bisher gab es einzelne Kooperationen mit Zeitschriften und Verlagen, wie etwa dem slowakisch-ungarischen Magazin „Kaligramm“. Im Ernst-Klett-Verlag ist das „Sprachbuch“ erschienen, welches einige Beiträge aus dem Umfeld der „Verbotenen Worte“ enthält. Weiter gibt es Gespräche mit der Landeszentrale für politische Bildung in Hessen über Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem Magazin „polis“. Allgemein gestalten sich Veröffentlichungen wie auch die Projektfinanzierung schwierig, da Literatur oftmals als rein schöngeistig-kulturelles Phänomen aufgefasst wird, dessen verständigendes Moment besonders von politischer Seite oft nicht erkannt wird. Dabei bietet das Modell einer internationalen Lerngemeinschaft die Möglichkeit, Gemeinsames und Trennendes unter der Präsenz der Vergangenheit zu begreifen. Der größte Teil der Verständigung zwischen Nationen, Kulturen und Nachbarn vollzieht sich über das Mittel der Sprache. Kommunikation bedeutet auch, Besonderheiten und Codes einer Ausdrucksform zu kennen und zu verstehen. Die Herausforderung besteht darin, in Sichtweite der Vergangenheit eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft zu entwerfen. Gemeinsam doch nicht gleich – einen konkreten Anfang praktiziert das Netzwerk der „Verbotenen Worte“.

Beitrag von Daniela Maria Hirsch

Links zum Thema

  • „Verbotene Worte“ nutzt diese unabhängige Plattform für interdisziplinäre Forschung im Bereich Mittel- und Osteuropa
  • Mehrsprachiges Journalistenportal, mit Aktivitäten zum Projekt „Verbotene Worte“
  • Online-Magazin der Deutschen UNESCO-Kommission

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Themen: Osteuropa | Sprachen
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