Die Evolution der Liebessemantik

Niklas LuhmannLiebe ist eine heiße Sache. Der Soziologe Niklas Luhmann hat daher kühle Instrumente gewählt, um sich nicht zu verbrennen. In seiner legendären Untersuchung „Liebe als Passion“ interessieren ihn daher nicht Gefühle, sondern die sprachliche „Codierung der Intimität“. Ein bis heute einzigartiger Zugriff...

Wer vom Pfeil Armors getroffen wird, der fasst gewöhnlich keinen klaren Gedanken mehr. Als Luhmann seine Studie „Liebe als Passion“ schrieb, kann er nicht gerade Hals über Kopf verliebt gewesen sein, denn kühler und klarer kann eine Analyse kaum sein. Der Autor ist theoretisch sehr ambitioniert, daher traut er nicht unserem Alltagsverständnis. Für seine Untersuchung erfindet er seinen Thema erst einmal neu: Was ist „Liebe“ überhaupt? Was ist sie aus sozialer Sicht?

Niklas Luhmann (1982): Liebe als PassionDas einzigartige an Luhmanns Buch ist, dass er Liebe nicht als Gefühl begreift. Für ihn ist sie ein „Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen“ kann. Dieser Code ist natürlich objektivierbar, er liegt seit Jahrhunderten in Form von Texten vor: Traktate, Briefe, Tagebücher, Romane. So verschiebt der Soziologe den Focus: Statt der immer unsicheren Geschichte der Tatsachen widmet er sich der evolutionären Transformation von Sinngebungen. Die Wortkleider, Floskeln und Bedeutungen der Liebe verändern sich über die Zeit. Wir gebrauchen schon lange den Begriff „Liebe“, aber der Sinn des Wortes ändert sich. Hinter diesem Abstraktionsschritt verbirgt sich die soziologische Idee, dass Menschen keine Affekte, Gedanken und Gefühle haben können, die gänzlich unabhängig von der Kommunikation sind. Eine Gesellschaft, welche auch immer, ist schon da, wenn der Mensch hineingeboren wird. Unser Verhalten und Denken äußert sich immer in diesem vorgegebenen Kultur- und Sprachsystems, dass sich zudem historisch ständig ändert. Vereinfacht gesagt: Sexualität ist naturgegeben, alles andere ist Formendifferenzierung im Rahmen gesellschaftlicher Evolution. Das Gehirn selbst hat sich über die letzten Jahrhunderte nicht verändert, die Gesellschaft aber sehr.

Da man die Liebe nur schwer sachlich fassen kann, wird das Problem verschoben auf die Ebene der Semantik. Den Soziologen interessierte nicht die strittige Frage, was die Liebe tatsächlich ist, sondern immer nur, wie wir sie kommunizieren. Allen Kämpfen um „die Realität“ geht er damit aus dem Weg. Wie die Menschen im 17. Jahrhundert liebten, wissen wir nicht, aber welche Liebesromane sie verschlangen, können wir heute noch nachlesen. Sinngebungen drücken sich in Texten aus. Luhmann liest daher die Welt. Er untersucht die Liebes- und Briefromane, die Traktate und Ratgeber des 17. und 18. Jahrhunderts. Hier drückt sich aus, welche Liebesideale vertreten wurden, was unglückliche und glückliche Liebe war, wo die Konventionen Leid erzeugten oder welche sexuellen Fantasien zelebriert wurden. Er nimmt allerdings nicht die bekannten Klassiker – Casanova kommt nicht vor! – sondern zweit- und drittklassige Romane. Diese wurden in höheren Auflagen gedruckt und waren weit verbreitet.

Die Liebe ist zweifellos eine ziemlich seltsame Form des Sozialen, auch deshalb wird über sie so viel geschrieben. Sie steckt voller Paradoxien. Würde sich ein Nichtverliebter verhalten, wie ein Verliebter, man würde ihm zum Psychiater schicken. Zwar müssen sich die Partner gegenseitig lieben, aber Liebe darf dennoch kein Tauschverhältnis sein. Liebe unterliegt der Metaregel, dass sie keinen Regeln folgen darf: außer denen der Liebe selbst. Mit all diesen Unwägbarkeiten kann man eigentlich nicht einfach leben, wie soll man den Umgang damit erlernen? Eine bis heute gebrauchsfertige Lösung wurde im 18. Jahrhundert erfunden. Es findet sich in dieser Zeit zum ersten Mal die Idee, dass Liebe inkommunikabel, also nicht in Wort zu fassen ist. Daran glauben wir bis heute, im Zweifelsfall verweisen wir auf verwirrte Gefühle. Generell wird in den Romanen des 18. Jahrhunderts ein reichhaltiges Potential von Umgangformen mit der Liebe erprobt: ob Spiel, Ironie oder Zynismus, Tränen oder Lachen – irgendwie muss man mit der Liebe leben. Und auch eine andere neue Idee tritt hinzu: Liebe wird zur Voraussetzung für eine gelungene Ehe.

Historisch hat sich die Liebe laut Luhmann zu einer Passion gewandelt. Darunter versteht er eine passiv erleidende Haltung: Wir können nichts dafür, wenn wir verliebt sind. Und in der Postmoderne wird Liebe immer mehr zur Identitätsarbeit, für den Soziologen hat sie durchaus die Funktion der „Validierung der Selbstdarstellung“. Sie ist aber dennoch zeitgemäß, sogar in ihrer romantischen Form. Der spezifische Code der Liebessemantik unterscheidet zwischen intimen, persönlichen und externen, unpersönlichen Personen. Unverwechselbar ist immer nur der oder die Geliebte. Das andere sind nur noch Männer oder Frauen, Freunde oder Bekannte, Tankwärter oder Kassiererinnen. Zeitgemäß ist die romantische Liebe, weil sie Sozialpartner radikal individualisiert. Sie ist heute zudem gekoppelt mit einem extremen Aufrichtigkeitswahn, der für Luhmann auf eine Allgemeinheit des Therapeutischen hinausläuft. Und der Luhmann-Kenner weiß, dass die Psychotherapie und insbesondere die Psychoanalyse zu den Lieblingsfeindschaften des Autors gehören. Die Therapeutisierung vieler Lebensbereiche macht ihn so polemisch, dass Psychoanalytiker dazu wahrscheinlich einiges zu sagen hätten.

Was bringt die Lektüre einer so sterilen Analyse? Liebende kühlt sie erst einmal ab – und sie macht nachdenklich. Die typische Ironie des Autors macht das Buch zu einem intellektuellen Genuss. Man wird sich bewusst, dass vieles, was wir für „natürliche“ Gefühle halten, zu anderen Zeiten völlig anders war. Es wurde, traut man den Dokumenten, auch völlig anders gefühlt, geliebt, gedacht. Und auch so intime Gefühle wie die Liebe stehen in engem, wenn auch meist unbewussten Bezug zum gesellschaftlichen Rahmen. Auch heute spricht nichts dagegen, dass man vor Liebe blind wird. Ob allerdings die historische Entwicklung der Liebessemantik nur Vorteile hat oder ob einige Paradoxien der heutigen Liebeskultur nicht gelassener gesehen werden sollten, darüber lohnen sich lange Gespräche. Am besten zu zweit, bei Kerzenschein und Rotwein.

Beitrag von Frank Berzbach

Zur Person

Niklas Luhmann (1927-1998) war Professor an der Universität Bielefeld. Er hat über 30 Jahre an einer umfassenden Systemtheorie der Gesellschaft gearbeitet und diese 1997 mit seinem späten Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ abgeschlossen. Alle seine Studien, dazu gehören allein über 50 Bücher, sind Bausteine einer umfassenden Theorie der Gesellschaft.

Literaturliste

  • Niklas Luhmann (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/Main.
  • Alle Zitate der Infokästen stammen aus „Liebe als Passion“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt: 1994.

Kategorien

Themen: Liebe | Soziologie
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