Trennung auf Zeit
"Techniker für aufklappbare Brücken" ist ein seltener Beruf. Ganze 195 Menschen üben ihn weltweit aus; sie alle warten Petersburger Brücken. Lohn und Brot verdanken die Techniker für aufklappbare Brücken einem – wenn man so will – historischen Planungsfehler der St. Petersburger Infrastruktur: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spannten sich lediglich Pontonbrücken über die Neva, welche ob ihrer Mobilität den Schiffsverkehr des nahen Großhafens nicht behinderten. Als die ersten dauerhaften Brücken gebaut wurden, galt es, auch großen Lastkähnen deren Passieren zu ermöglichen. Seitdem öffnen sich in der eisfreien Zeit von April bis Oktober jede Nacht 13 Brücken für die Navigation.
Zum Dienst an den aufklappbaren Brücken kann sich bewerben, wer an einem Technikum vier Jahre einen mechanischen oder technischen Beruf erlernt und anschließend zwei Jahre ein weiterbildendes Institut besucht hat. Die Auserwählten erfahren dann noch eine intensive Schulung an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz. Technik und somit auch Bedienung und Wartung unterscheiden sich nämlich von Brücke zu Brücke so sehr, dass ein Techniker nur an jenem dieser eigenwilligen Bauwerke eingesetzt werden kann, an dem er auch geschult wurde. Vier Techniker bilden die Brigade für eine Brücke; zwei von ihnen schieben jeweils gemeinsam Schicht – auf zwei durchwachte Nächte folgen zwei freie Tage.
Die Leutnant-Schmidt-Brücke
ist die älteste dauerhafte Brücke über die Neva und zugleich die erste aufklappbare Brücke Russlands. Sie besteht aus acht Bögen, von denen der mittlere geöffnet werden kann. 1842 begannen die Bauarbeiten an der Brücke unter der Leitung des Architekten Stanislav Kerbedz, 1850 wurde die Brücke unter dem Namen Verkündigungsbrücke eingeweiht. Nach dem Tod des Bauherrn; Zar Nikolajs I., im Jahr 1855 wurde sie in Nikolajevskij-Brücke umbenannt. Die Auswirkungen der Oktoberrevolution machten jedoch auch vor diesem Namen nicht halt: seit 1918 erinnert das Bauwerk als Leutnant-Schmidt-Brücke an den antizaristischen Anführer eines Matrosenaufstands.
Volodja und Zhenja bedienen die Leutnant-Schmidt-Brücke, die sich jede Nacht von 1.40 Uhr bis 4.45 Uhr für den Schiffsverkehr öffnet. Bereits ab 23 Uhr beziehen die beiden jenen Pavillon auf der Brücke, in dem die Steuerung für den Klappmechanismus untergebracht ist, und beginnen den obligatorischen Kontrollgang. Der Mechanismus selbst stammt noch aus dem 19. Jahrhundert und befindet sich im Brückenpfeiler unterhalb des Pavillons. Zwei Zahnräder, welche die Bewegung der aufklappbaren Brückenflügel steuern, erstrecken sich seitlich über die gesamte Höhe des Pfeilers; der Rest des Trägerelements ist in zwei Etagen geteilt.
Auf der oberen Etage befinden sich drei Generatoren, welche das kleinere der beiden Zahnräder antreiben. Gespeist werden die Generator-Aggregate über das elektrische Straßenbahnnetz. Reell benötigt wird für den Öffnungsvorgang lediglich ein großer Generator, der zweite bauartgleiche Großgenerator und ein weiterer Minigenerator dienen lediglich als Pannenabsicherung: Bemerkt der Techniker in der Vorbereitungsphase beispielsweise, dass die Kontakte am Generator nicht gleichzeitig arbeiten, hat er 15 Minuten Zeit, um auf den zweiten Großgenerator umzuschalten. Sollte auch dieser versagen, kann noch auf den langsameren Minigenerator zurückgegriffen werden. “Theoretisch kann man die Brücke auch per Hand über eine Kurbel öffnen. Diese Notlösung wurde im 19. Jahrhundert eingebaut und nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch. Zum Glück war das noch nie notwendig”, grinst Volodja.
Die untere Etage des Brückenpfeilers dient als Stauraum: hierher werden beim Öffnungsvorgang die Stützelemente zurückgefahren, welche tagsüber die aufklappbaren Brückenflügel zusätzlich absichern. Ebenso senken sich die Gegengewichte der Flügel in diesen Raum ab.
Bevor dies geschieht, sperren Polizeibeamte gegen 1.30 Uhr die Brücke für Verkehr sowie Fußgänger ab. Dies ist auch dringend notwendig, denn besonders in den sommerlichen Weißen Nächten ist die Brückenöffnung eine Attraktion, die nicht nur Touristen, sondern auch feierlustige Einheimische anzieht. So mancher Petersburger weiß aus den Zeiten, als es noch keine Polizeiabsperrung gab, Anekdoten von Vater oder Opa zu berichten, der den Ausklang einer heißen Partynacht am Brückenpfeiler klammernd erlebte.
Zhenja wechselt hinüber in den zweiten Pavillon, um den Öffnungsvorgang von der anderen Flussseite aus zu überwachen. Pünktlich um 1.40 Uhr werden die Stützelemente unter den Brückenflügeln zurückgefahren. Danach wird über die zentrale Steuerung der Klappmechanismus in Gang gesetzt. Die erste Weghälfte legen die beiden je 600 Tonnen schweren Flügel gleichzeitig zurück. Aus statischen Gründen muss danach jede Tragfläche einzeln in den endgültigen Neigungswinkel von 67 Grad gebracht werden. Die beiden Gegengewichte von je 900 Tonnen unterstützen den Zahnradmechanismus während des gesamten Prozesses.
Früher, so erzählt Volodja, als die Brücke noch mit Holzdielen gedeckt und somit leichter war, öffnete sie sich innerhalb 60 Sekunden – heute dauert es fünf Minuten: wenigstens eine Entschleunigung in unserer schnelllebigen Zeit.