Umtausch nicht gestattet
Auch wer über die Advents- und Weihnachtszeit hinweg nichts empfindet, der sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, andere zu beschenken. Es ist eine der Praktiken, die man allein schon deshalb ausführen muss, um nicht aufzufallen. Obwohl Weihnachten für Atheisten immer wieder eine harte Probe ist, werden auch sie Freunde, Eltern und Kinder beschenken, meist sogar „von Herzen“. Hinter der sozialen Konvention steckt aber auch eine Sinnebene, über die heute wenig nachgedacht wird. Wer in ein Englischwörterbuch schaut, der findet für „schenken“ den Eintrag „to give“. Der Terminus trifft den Kern, es geht hier um das Geben.
Den Philosophen Theodor W. Adorno muss man sich als einen Menschen ohne Haut vorstellen. Er selbst schrieb das einmal über den hypersensiblen Schriftsteller Marcel Proust. In einem bedeutenden Werk der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Adornos „Minima Moralia“ von 1951, präsentiert der Autor seine „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Die 334 Seiten sind weder eine systematische Ausarbeitung zu einem bestimmten Thema noch enthalten sie ein geschlossenes System oder eine Grundthese. Adorno treibt Philosophie in einem ganz poetischen Sinne: bruchstückhaft, stilistisch glänzend verfasst und nachhaltig irritierend. Das Buch besteht aus kurzen oder längeren Kapiteln und Aphorismen. Es sind Einzelstücke scharfsinniger Beobachtung, tiefsinniger Reflexion und ganz subjektiv in der Themenwahl. Das ganze Werk ist getragen von einer sensiblen Melancholie, die davon auszugehen scheint, dass es das „richtige Leben“ nicht mehr gibt.
Das Bruchstück mit der Nr. 21 hat mich immer fasziniert und angetrieben, vor allem zu Weihnachten. Der erste Satz lautet: „Die Menschen verlernen das Schenken.“ Diese Diagnose alarmiert jeden, der gern schenkt. Adorno spielt auf die Verletzung des Tauschprinzips an, denn Schenken ist ursprünglich eine ganz einseitige Sache. Schenken erzeugt ein Unwohlsein: Wir sind gewöhnt, dass man nur etwas gibt, wenn es dafür auch etwas zurückgibt. Die enge Kopplung von Geben und Nehmen sind so sehr Alltag geworden, dass wir manchmal ganz entsetzt sind, wenn wir völlig zweckfrei etwas annehmen sollen. Der Satz kam mir ins Gedächtnis, als ich neulich ein hübsches tragbares Radio mit Kopfhörern als Werbegeschenk bekam. Eine für mich unnütze Sache, aber vielleicht für ein Kind toll. Ich habe versucht es auf der Straße zu verschenken, die Kinder wollten es nicht annehmen, weil sie glaubten, sie müssten etwas für mich tun und seien verpflichtet. Schließlich habe ich das Radio auf einen alten Bonbonautomaten vor dem Kindergarten gelegt. Als ich zurückkam, war es weg. Um es loszuwerden musste ich das Schenken in beziehungsloses Finden verwandeln.
Als Adorno seinen Text in den 1950er Jahren schrieb, wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Er ahnte aber wahrscheinlich, dass die marktförmigen Tauschbeziehungen etwas sind, was sich in unsere tiefen psychischen Strukturen einschreibt. Der Beweis für diese heraufziehende Veränderung ist die Erfindung des „Geschenkartikels“. Ihm fällt daran auf, dass hier nur die Funktion der Ware im Vordergrund steht und es zur Nebensache wird, wer beschenkt wird. Der Geschenkartikel markiert die völlige Entpersonalisierung des Schenkens. Über solche Gedanken mögen die Pragmatiker nur den Kopf schütteln, die vormittags am 24. Dezember in die Parfümerie eilen, um ihrer Frau schnell ein teures Parfüm zu kaufen. Aber Adorno ist kein Pragmatiker, er ist ein durch und durch alteuropäischer Philosoph und er spürt dem nach, was im leichtgängigen Alltag unsichtbar bleibt.
Nun hat der Philosoph aber auch eine Definition entworfen, was für ihn Schenken bedeutet: „Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergesslichkeit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig.“ Das ist eine ganz entsetzliche Definition, weil sie auf ein gegenwärtiges Problem hinweist. Nicht finanzielle Beschränkungen machen das Schenken schwer, Adornos Vorschlag ist völlig geldunabhängig, sondern zeitliche. Die beschleunigte Welt hat keine Zeit mehr. Und die Zeit, die es gibt, ist zudem an die Tauschbeziehungen gekoppelt. Wir müssen nämlich heute selbst Sozialbeziehungen daraufhin befragen, ob sie berufliche Vorteile bringen könnten, also ob sie ein Beitrag zum professionellen Networking sind. Die Empfänger von Geschenken sind zwar (wieder) bewusst ausgewählt, aber nur als Funktionsträger im eigenen Beziehungsnetz.
Das Prinzip der Funktion hat sich durchgesetzt, man muss die Eltern beschenken, den Partner, die Geschäftspartner, aber kaum noch individuelle Subjekte. Auch die Geschenkbeschaffung ist oft nichts als ein weiterer Punkt auf einer vollen To do-Liste. Einmal darauf hingewiesen, stimmt die Tatsache traurig. Der Pessimismus mancher Philosophen ist aber durchaus aufrüttelnd gemeint. Nicht alles, was ist, muss so bleiben. Gibt es eine den von Adorno angeschnittenen Prozess überlistende Praxis? Im Kleinen vielleicht und immerhin heißt es in Adornos Reflexionen auch: „Keine Verbesserung ist zu klein und geringfügig, als dass man sie nicht durchführen sollte.“
Eine Chance, die Aufmerksamkeit für das Schenken wieder zu wecken, bietet der Regelverstoß. Vielleicht könnte man, und irgendwie sollte man dem Adornoschen Pessimismus schließlich entgehen, neben den Funktionsgeschenken auch eine zweite Gattung erfinden: die Überraschungsgeschenke. Eigenes und fremdes Unwohlsein muss man dabei sehenden Auges ignorieren. Das dürfen keineswegs kostspielige Dinge sein, sondern vielleicht symbolhafte. Blumen, ein Taschenbuch, eine CD, eine gute Schokolade. Damit müsste man losziehen und es genau denen schenken, die es niemals erwarten. Dabei sind schräge Ideen und Mut gefragt: Bei einem Nachbarn klingeln, den man nicht kennt, die Verkäuferin beim Bäcker, eine beruflich entfernte Person. Was einen dabei tragen würde wäre tatsächlich nur die „Imagination des Glücks des Beschenkten“ – also ganz schön viel. Und selbst die Zeitressourcen sind in den Griff zu bekommen. Die größte Irritation dürfte vielleicht entstehen, wenn man ein Buch von Adorno verschenkt...
Zur Person
Frank Berzbach schenkt gern und ist Chefredakteur von sciencegarden.
Literaturliste
- Theodor W. Adorno (1994): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main. 22. Auflage.