In jedem steckt ein Folterknecht
Als jüngst die Folter-Bilder durch die Medien gingen, fragte sich die Welt entsetzt, wie es zu diesen Exzessen kommen konnte. Für die US-Regierung und große Teile der Medien war der Fall sofort klar: Es konnte sich nur Menschen mit einer kranken Persönlichkeit, um Sadisten und Perverse handeln. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Seit mittlerweile über vier Jahrzehnten hat (auch) die psychologische Forschung eine Fülle von Fakten zusammengetragen, die belegen, dass keine Persönlichkeitsstörung notwendig ist, um aus einem Menschen einen Folterer zu machen. Die berühmtesten Experimente dazu sind das „Milgram-Experiment“ (1963) und das „Standford-Gefängnis-Experiment“ (1973). Diese Untersuchungen zeigen: In den meisten Menschen steckt ein Folterknecht! Doch ob diese latente Bereitschaft andere zu quälen sich in tatsächlichem Verhalten äußert, hängt von äußeren, situativen Umständen ab.
Einer der wichtigsten Faktoren ist der Gehorsam . Kann ein Täter vor anderen und vor seinem eigenen Gewissen argumentieren, er habe ja nur auf Befehl gehandelt, steigt die Bereitschaft, anderen Menschen Leid zuzufügen, rapide an. Dies ist das wichtigste Ergebnis des Milgram-Experiments, in dem Versuchspersonen bereit waren, eine andere Person mit starken Stromstößen über 300 Volt zu bestrafen, einige sogar bis hin zur (scheinbaren) Tötung des Opfers.
Gehorsam gegenüber Vorgesetzten ist die wichtigste „Tugend“ eines Soldaten – ohne sie wäre es überhaupt nicht möglich Kriege zu führen. Die Bereitschaft, auf Befehl andere Menschen zu verletzen oder zu töten kann bei jedem Berufssoldaten vorausgesetzt werden, sonst wäre er schließlich nicht beim Militär. In den Gerichtsprozessen zum Iraker Folter-Skandal rechtfertigten die Täter ihr Handeln mit dem Argument, auf Anweisung ihrer Vorgesetzten gehandelt zu haben.
Ein zweiter Faktor ist ein extremes Machtgefälle zwischen Wärtern und Gefangenen. Wo ein solch starker Machtunterschied vorhanden ist, besteht die Gefahr, dass er missbraucht wird. Dies zeigte eindrucksvoll das „Gefängnis-Experiment“ des Psychologen Philip Zimbardo, der normale, psychisch gesunde Studenten zufällig in Gruppen von Wärtern und Gefangenen aufteilte. Das spektakuläre Experiment musste schon nach wenigen Tagen abgebrochen werden, weil die „Wärter“ die „Gefangenen“ zunehmend brutal bis hin zur sexuellen Erniedrigung behandelten.
Ein dritter Faktor sind Angst, Bedrohung und Frustration . Insbesondere bei einem Kriegseinsatz können sich Soldaten einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt sehen. Diese Angst kann sich leicht in Gewalt und Brutalität entladen, vor allem dann wenn das Opfer einer sozialen Gruppe (Kriegsgegner, Terroristen) angehört, welche die Ursache für diese Bedrohung ist oder zumindest als Ursache wahrgenommen wird. Diese drei Punkte dürften die Hauptgründe für die Gewalt im Gefängnis von Abu Ghraib gewesen sein. Darüber hinaus gibt es jedoch eine ganze Reihe von Umständen, durch die das Auftreten von Folterungen begünstigt wird.
Der renommierte Psychologe, Professor Philip Zimbardo, Autor des berühmten „Gefängnis-Experiments“, der auf dem Höhepunkt des Folterskandals vielfach der gängigen Auffassung der Medien, es handle sich bei den Tätern um einzelne perverse, psychisch kranke Personen, widersprach, verfasste jüngst einen sehr interessanten Aufsatz: Er beschreibt darin, wie man aus gewöhnlichen Menschen Folterknechte machen kann. Unter anderem nennt er darin ein 10-Punkte-Rezept:
Regel 1: Gib der Person eine Rechtfertigung für ihre Tat!
Es foltert sich viel leichter, wenn man es im Dienste einer guten Sache tut, zum Beispiel für den Krieg gegen den Terror, die nationale Sicherheit, die Einführung der Demokratie oder für den Kampf gegen das Böse im Allgemeinen.
Regel 2: Sorge für eine vertragliche Abmachung, schriftlich oder mündlich, in der sich die Person zum gewünschten Verhalten verpflichtet!
Hierzu zählen auch (para)militärische Gelöbnisse, Vereidigungen, Treueschwüre auf einen Führer usw. Es erleichtert den Tätern, ihr Verhalten vor anderen und vor sich selbst zu rechtfertigen („Eigentlich will ich ihn ja gar nicht schlagen / foltern / töten. Aber ich muss ja!“).
Regel 3: Gib allen Beteiligten sinnvolle Rollen (z.B. Lehrer, Schüler, Polizist), die mit positiven Werten besetzt sind!
Der amerikanische Soldat ist der Polizist, der die Aufgabe hat, Terroristen zu fangen und zu verhören. Zu den sinnvollen Rollen könnte man auch Euphemismen für soziale Gruppen wie „nationale Eingreiftruppe“, „Kriseninterventiontruppe“ oder „Befreiungsarmee“ zählen.
Regel 4: Gib Regeln aus, die für sich genommen sinnvoll sind, die aber auch in Situationen befolgt werden sollen, wo sie sinnlos und grausam sind!
Grundsätzlich sinnvolle Regeln sind beispielsweise Maßnahmen, die der Sicherheit und der Gesundheit dienen. So schikanierten zum Beispiel manche KZ-Aufseher die Gefangenen damit, dass sie peinlichst auf Ordnung und Sauberkeit in den Baracken achteten und bei Zuwiderhandlungen die Häftlinge bestraften.
Regel 5: Verändere die Interpretation der Tat: Sprich nicht davon, dass Opfer gefoltert werden, sondern dass ihnen geholfen wird, das Richtige zu tun!
Es muss der Eindruck entstehen, dass durch harte Strafen die Bestraften zur Einsicht kommen, dass sie falsch gehandelt haben. (Schon die Hexenprozesse folgten dieser Logik.) Die Gefangenen bekämen dadurch einen Denkzettel verpasst, so dass sie sich in Zukunft korrekt verhalten würden. Die Untat verhindert also Scheinbar zukünftigtes Unrecht.
Regel 6: Schaffe Möglichkeiten zur Verantwortungsdiffusion: Im Falle eines schlechten Ausgangs soll nicht der Täter bestraft werden!
Gerade das Militär mit seiner streng hierarchischen Befehlsstruktur ist dafür hervorragend geeignet: Jeder kann sich damit herausreden, nur auf Befehl seines jeweiligen Vorgesetzten gehandelt zu haben. Personen an der Spitze der Hierarchie können dagegen argumentieren, nur eine allgemeine Anweisung gegeben zu haben („hart rannehmen“, „Druck ausüben“), Schuld sei daher der unmittelbar Ausführende.
Regel 7: Fange klein an: Mit leichten, unwesentlichen Schmerzen!
Beispiel: „Ist ja nur ein leichter Stromschlag von 30 Volt!“
Regel 8: Erhöhe die Folter graduell und unmerklich!
Beispiel: „Es sind doch nur 15 Volt mehr!“
Regel 9: Verändere die Einflussnahme auf den Täter langsam und graduell von vernünftig und gerecht zu unvernünftig und brutal!
Dies geht in die gleiche Richtung wie die Regeln 7 und 8: Der Täter muss schrittweise ans Foltern herangeführt werden.
Regel 10: Erhöhe die Kosten der Verweigerung, etwa indem keine üblichen Möglichkeiten des Widerspruchs akzeptiert werden!
Zu Beginn (bei leichten Folterungen) brächte eine Weigerung dem Täter nur geringe Nachteile, später jedoch so große, dass er keine andere Wahl sieht als weiterzumachen.
Die meisten Menschen sind unter solchen Bedingungen bereit zu foltern. Diese Regeln sind auch keineswegs streng geheime Psycho-Tricks, sondern ein wesentliches Ergebnis der Experimente des Psychologen Stanley Milgram aus den 60er Jahren – nachzulesen in jedem Einführungslehrbuch der Psychologie und Stoff des ersten Semesters für jeden Psychologiestudenten. Man kann insofern davon ausgehen, dass sie auch in Geheimdienst- und Militärkreisen bestens bekannt sind.
Die von den Medien permanent propagierte Auffassung jedoch, Folter sei das Werk einzelner perverser Sadisten, von denen es in jeder Organisation immer ein paar gebe, ist nicht nur sachlich falsch, sie ist sogar gefährlich, denn sie verstellt den Blick auf die wahren Ursachen: situative Umstände und soziale Strukturen, denen einzelne Individuen ausgesetzt sind. Diese äußeren Umstände ließen sich jedoch ändern, wodurch ähnliche Folter-Skandale in Zukunft weniger wahrscheinlich würden.
Die Fixierung der Medien auf angeblich psychopatische Einzeltäter und das sensationsgeile Vorführen dieser „Monster“ ist jedoch das Beste, was den politisch Verantwortlichen passieren kann: Denn es lenkt ab von der eigenen Schuld, solche äußeren Umstände überhaupt erst geschaffen zu haben.
Zur Person
Martin Gründl ist Diplom-Psychologe und promoviert derzeit an der Universität Regensburg.
Literatur
- Zimbardo, Ph. G. (2004). A situationist perspective on the psychology of evil – understanding how good peeople are transformed into perpetrators. In A. G. Miller (Ed.), The psychology of good and evil. New York: Guilford Press.