Humanismus reloaded oder Welche Wissensgesellschaft wollen wir?

*Im Wettstreit der Schlagworte gehört ‚Wissensgesellschaft‘ zu den hartnäckigsten Konkurrenten von ‚Globalisierung‘, die zugehörigen Debatten aber stellen sich unterschiedlich dar. Und bei jener zur Wissensgesellschaft fehlt ein entscheidender Aspekt. Ein Appell nicht nur an die Soziologie.

Das zumindest weiß man: ‚Globalisierung‘ ist die unangefochtene Nummer eins unter den Schlagworten der letzten Jahre, in der Wissenschaft genauso wie in der Politik, der Wirtschaft und den Medien. Es gibt aber einen hartnäckigen Verfolger, dessen Ursprünge zwar bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichen, dessen Karriere aber erst seit etwa zehn Jahren richtig Fahrt aufgenommen hat: ‚Wissensgesellschaft‘. Noch hat die Globalisierung den Chefsessel im Diskurs sicher. Wie man auch zu ihr steht, man findet Mitstreiter, gilt sie doch wahlweise als Sachzwang, Mythos oder Verheißung. Der Chor ist vielstimmig und höchst dissonant.

Wegen einer Eingabe der Krankenkassen konnte das von Rot-Grün nach langer Verzögerung auf den Weg gebrachte Informationsfreiheits-
gesetz
entgegen den Planungen noch nicht in 2. und 3. Lesung im Bundestag verabschiedet werden. Das Gesetz soll den Bürgern auf Bundesebene das bisher in Deutschland nicht bzw. sehr eingeschränkt gegebene Einsichtsrecht in Behördenunterlagen garantieren.

Bei der Rede von der Wissensgesellschaft dagegen herrscht eine durchaus irritierende Einigkeit in der Einschätzung. Wissen ist gut, wenn mehr Menschen mehr wissen, ist das noch besser. Bill Gates träumt von „information at your fingertips“, der Bundespräsident vom „Land der Ideen“. Die Allgemeinheit dürfte mit dem Schlagwort ‚Wissensgesellschaft‘ in erster Linie weitere Worte vom Schlage „lebenslanges Lernen“ oder „Laptop und Lederhose“ verbinden. Die Massenmedien halten die Wissensgesellschaft spätestens seit Günther Jauch für unzweifelhaft. Sie manifestiert sich in den Trefferlisten von Google. Es scheint also um kanonisches Allgemein-, verwertbares Diplom-, beliebiges Quiz- und fragwürdiges Halbwissen zu gehen.

Und die Soziologie? Immerhin ist Gesellschaft nichts weniger als ihre Existenzberechtigung, und sie leistet sich gar den Luxus einer Subdisziplin namens Wissenssoziologie. Tatsächlich hat die Soziologie bereits seit den 1920er-Jahren gründliche und grundlegende Arbeit geleistet, was die Analyse des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft betrifft. Die einschlägigen Klassiker der Wissenssoziologie, allen voran Max Scheler und Karl Mannheim, nahmen Marxens ideologiekritisches Diktum, nachdem das Sein das Bewusstsein bestimme, gerade deshalb ernst, weil sie es aus seinem ökonomistischen Korsett befreiten und nach sämtlichen Faktoren suchten, die das menschliche Denken beeinflussen oder gar bestimmen. Vierzig Jahre später traten Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit ihrem Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ als Befreier auf, indem sie der Wissenssoziologie die Last des erkenntnistheoretischen und ideologiekritischen Anspruchs nahmen. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf „Alltags- oder Jedermannwissen“, auf die Beschreibung der Prozesse, durch die das, was wir für Wirklichkeit halten, durch gesellschaftliche Interaktion erst konstruiert wird. Hinter diesen Sozialkonstruktivismus sollte niemand mehr zurückfallen und behaupten, es gäbe so etwas wie eine Wirklichkeit an sich, die unabhängig von unserer Wahrnehmung und sozialen Gegebenheiten so und nicht anders ist.

Anfang der 70er-Jahre erschien mit Daniel Bells „The Coming of Post-Industrial Society“ ein weiteres Buch, das aus ganz anderen Gründen zum Referenzpunkt avancierte. Bells auf einer Art empirischer Prophezeiung beruhende These vom Niedergang der Industriegesellschaft machte Begriffe wie Informations- und Dienstleistungsgesellschaft populär. Er prognostizierte eine exponentielle Zunahme von Wissen, das zum vierten und zugleich wichtigsten Produktionsfaktor werde, sowie die Entwicklung des Dienstleistungssektors zur dominierenden Quelle gesellschaftlicher Wertschöpfung.

Die sich seit etwa zehn Jahren explizit mit Wissensgesellschaft befassende Soziologie fügt sich zwar nicht mehr umstandslos zu einer einheitlichen Subdisziplin Wissenssoziologie, dennoch gibt es eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner: Eine weiterhin wachsende Bedeutung von (Natur-)Wissenschaft und Expertise, die Globalisierung von Informationsstrukturen und die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologien machen Wissen zu einem zentralen Moment gesellschaftlicher Reproduktion, sorgen für die weitere Ausbreitung wissensbasierter Berufe und eine zunehmend auf den Wissensgehalt von Produkten ausgerichtete Preiskalkulation.

Jenseits dieses Nenners aber begegnet man einer der Komplexität des Themas angemessenen Vielstimmigkeit. So hat etwa nicht nur Niklas Luhmann auf das Paradox hingewiesen, dass Wissenszunahme immer auch eine im Verhältnis noch stärkere Zunahme des Nichtwissens bedeutet. Aus der Sicht von Helmut Willke sind wir erst noch auf dem Weg zur Wissensgesellschaft, wenn auch mit großen Schritten. Wenn es so weit ist, werden es endgültig nicht mehr einzelne Experten, sondern nur noch arbeitsteilige Organisationen sein, die den Anforderungen dieser Gesellschaft gerecht werden können. Die Politik sieht Willke genauso wenig wie die Wissenschaft in einer herausgehobenen Rolle. Es sei gerade ein Merkmal der Wissensgesellschaft, dass jedes ihrer Funktionssysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc.) das jeweils nötige Wissen selbst produziere. Im Gegensatz dazu sieht Nico Stehr die Führungsrolle bei der wissenschaftlichen Wissensproduktion, was aber ebenfalls eine tendenzielle Entmachtung der Politik zur Folge hat. Diese hätte dann durch eine noch zu entwickelnde „Wissenspolitik“ regulierend einzugreifen. Karin Knorr-Cetina hat in empirischen Studien gezeigt, wie auch die Entstehung scheinbar objektiven wissenschaftlichen Wissens an gesellschaftliche Rahmenbedingungen geknüpft ist. Einen nicht nur quantitativen, sondern vom Computer verursachten qualitativen Wandel des Wissens und die wachsende Bedeutung von „Wissen zweiter Ordnung“, also von Wissen über Wissen, beschreibt Nina Degele. Scott Lash sieht die Grenzen zwischen Ökonomie und Kultur in der Wissensgesellschaft verschwinden, weil beide sich immer mehr durch Symbole, Zeichen und Informationen vermittelten. Manuel Castells schließlich zeichnet das Bild eines globalen informationsgetriebenen Kapitalismus in der Netzwerkgesellschaft.

Viel wäre schon gewonnen, wenn diese Aspekte Eingang in politische und mediale Argumentationen zur Wissensgesellschaft fänden. Der Wunsch nach einer Öffnung der Debatte über ökonomische und technologische Grenzen hinaus bliebe aber uneingelöst. Damit die Moderne nicht ausgerechnet im Zeitalter der Wissensgesellschaft vom unvollendeten zum regressiven Projekt wird, braucht es eine Verknüpfung der Debatte mit dem „Alltags- und Jedermannwissen“ unserer Zeit.

Müsste Wissensgesellschaft nicht ein emanzipatives Projekt sein, dessen Ideal eine möglichst umfassende Beteiligung möglichst vieler mit möglichst hoher Informations- und Medienkompetenz ausgestatteter Bürger ist? „Humanismus reloaded“ also statt der ewigen Redundanz von Francis Bacons missverständlichem Jahrtausend-Slogan „Wissen ist Macht“. Wissen würde dann soziale Gestaltungs- und individuelle Entscheidungsfähigkeiten in einem gesamtgesellschaftlichen Maßstab schaffen und erweitern. Wissen wäre ein Rohstoff für alle und Brennstoff für das Potential einer ganzen Gesellschaft, statt abfragbares Kriterium in den Bewerbungsmappen der so genannten High Potentials. Dieser semantische Kurzschluss ist besonders in solchen Zeiten verhängnisvoll, in denen schon der alltägliche Versuch eines gelingenden Lebens ein Maß an Orientierungsvermögen und Informationskompetenz fordert, das durch keinen noch so guten formalen Bildungsabschluss erbracht werden kann.

*Ansätze eines Wunschzettels an die Debatte könnten etwa so aussehen: Bürger einer Wissensgesellschaft kennen ihre Rechte hinsichtlich informationeller Selbstbestimmung und Datenschutz und fordern diese ein. Sie bekommen staatlicherseits das Recht auf Informationsfreiheit statt Opfer einer Beweislastumkehr im Zuge zunehmender Überwachung zu werden. Ihnen wird mehr politische Teilhabe und Entscheidungsfähigkeit zugetraut, weil sie wissen (wollen), worum es geht. Sie sind aufgeklärte Konsumenten statt handelbare Adressen. Sie fragen sich z.B. (hoffentlich), wie es eigentlich dazu kam, dass die Fernseh-Primetime ausgerechnet mit Börsen- und Wetterberichten epischen Ausmaßes gefüllt wird. Und vor allem: Bürger einer Wissensgesellschaft bekommen mit niedrigen Zugangsschwellen die Chancen, sich entsprechende Kompetenzen anzueignen – und nutzen diese auch.

Warum sollten wir es der Wissensgesellschaft einfacher machen als der Globalisierung?

Beitrag von Martin Schöb

Link zu Thema

  • Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
  • Portal der Heinrich-Böll-Stiftung zur Wissensgesellschaft
  • „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (B36/2001)
  • Spezial Informationsgesellschaft der Bundeszentrale für politische Bildung
  • Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (Tunis, November 2005)
  • Zum Blog von Martin Schöb

Zur Person

Martin Schöb studierte Soziologie, Philosophie und Anglistik. Mit einer Arbeit zu Theorien kultureller Globalisierung machte er seinen Magisterabschluss in Freiburg, wo er im laufenden Semester auch einen Lehrauftrag am Institut für Soziologie innehat. Er ist freier Journalist und Lektor in Frankfurt am Main.
Martin Schöb betreibt seit 2006 ein eigenes Blog zum Thema Wissensgesellschaft.

Literatur

  • Daniel Bell (1996): Die nachindustrielle Gesellschaft. Neuausgabe. Frankfurt/M.
  • Peter L. Berger/Thomas Luckmann (1994): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.
  • Nina Degele (2000): Informiertes Wissen. Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft. Frankfurt/M.
  • Karin Knorr-Cetina (2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt/M.
  • Niklas Luhmann (1980-1995): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie, 4 Bde. Frankfurt/M.
  • Sabine Maasen (1999): Wissenssoziologie. Bielefeld
  • Karl Mannheim (1995): Ideologie und Utopie. 8. Aufl. Frankfurt/M.
  • Helmut Willke (2002): Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M.

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Themen: Wissensgesellschaft
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