Kein Geheimnis: forschen im Vatikan
„Tessera?“ Der junge Mann möchte meinen Ausweis sehen. Das ist seine Pflicht, schließlich ist er Schweizergardist und damit „Hüter der Freiheit der Kirche.“ Diesen Titel bekam die erste Generation seiner wehrhaften Landsleute in päpstlichen Diensten 1512 von Julius II. della Rovere verliehen. Bis auf den heutigen Tag bewachen die Schweizer die Zugangstore zur Vatikanstadt. Durch die Porta Sant’Anna führt der Weg zu einem der berühmtesten Archive der Welt: dem Vatikanischen Geheimarchiv, wo für die nächsten sechs Monaten mein täglicher Arbeitsplatz sein sollte. Denn hinter der Porta Sant’Anna liegt für mich die erste Etappe zum Doktortitel. Im Gegensatz zu unzähligen Touristen darf ich mit meinem Ansinnen passieren. Zutritt zum Archiv verschaffen in meinem Fall ein Magisterabschluss der Universität Freiburg, die Absicht, über die mikropolitischen Beziehungen des Papsthofs Pauls V. Borghese (1605-1621) zum Johanniterorden auf Malta zu forschen und ein Empfehlungsschreiben des Deutschen Historischen Instituts in Rom an den Präfekten des Archivs (mit dem für vatikanische Verhältnisse geradezu skandalösen Namen Pagano, zu deutsch: „Heide“).
Mikropolitik
ist nach Wolfgang Reinhard, Emeritus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und preisgekrönter Historiker, „der mehr oder weniger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungen zu politischen Zwecken.“
Entgegen gerade unter Römern weitverbreiteten Vorstellungen, ist das Geheimarchiv allerdings nicht geheim im Sinne von Zeitmaschinen, Außerirdischen, James Bond & Co. Das Adjektiv ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten und steht schlicht für ‚nicht öffentlich zugänglich.‘ Der erste Eindruck ist eher bürokratisch geprägt. Für die Ausstellung des Benutzerausweises reiche ich zwei Passphotos ein und werde dann – photographiert. Am Eingang wartet eine Tagesliste (Namen und Uhrzeit). Gegen meinen Ausweis bekomme ich einen Garderobenschlüssel ausgehändigt, den ich hernach im Lesesaal abzugeben habe, wo ich mich erneut namentlich und mit Uhrzeit in eine Liste eintrage, um dann meine Quellen bestellen zu können. Drei verschiedene Bände darf man zwischen 8.30 und 13.15 einsehen, dann wird geklingelt und die morgendliche Namens- und Uhrzeit- und Schlüssel-Prozedur wiederholt sich in umgekehrter Abfolge. Der Ablauf wird jedoch schnell zur Routine, fast schon zum Ritual: morgens wünscht Marco an der Rezeption „buon lavoro“ („Gute Arbeit“), mittags „buon pranzo“ („Mahlzeit“). Letztere wird bei Donna Gioseppina unweit des Petersplatzes eingenommen: Bei ihr gibt es frisch belegte panini, besonders berühmt ist ihr Spanferkel. Dann aber schnell wieder in den Vatikan, denn dort gilt es bis 17:45 Uhr noch die Öffnungszeiten der Apostolischen Bibliothek auszunutzen.
Unter Nepotismus versteht man so viel wie Vetternwirtschaft – ein besonders unter Renaissancepäpsten beliebtes und stark ausgebautes Geschäft des Verteilens von Pfründen und Posten zur materiellen ‚Absicherung‘ von Loyalitäten.
Direkt neben dem Archiv gelegen, teilt sich die „Vaticana“ mit dem Archiv den zuständigen Kardinal und die Cafeteria im Innenhof. Ansonsten handelt es sich allerdings, und darauf wird peinlich genau geachtet, um zwei voneinander unabhängige Institutionen. Trotz computerlesbarer Benutzerausweise trägt man sich im Lesesaal der Bibliothek sowohl mit der Nummer des Garderobenschlüssels, als auch mit der Nummer des Sitzplatzes ein. Als Historiker und allemal als Frühneuzeitforscher kommt man im Vatikan trotz alledem schnell zu der Auffassung, dass man im Paradies gelandet sein muss: Nicht enden wollende Quellenbestände, beste Arbeitsbedingungen – wenige Archive halten einem Vergleich stand. Wer dann auch noch über Paul V. arbeitet, fühlt sich wie zu Hause: Der Borghese-Papst hatte 1611 das Archiv gegründet und behält den dortigen Lesesaal daher als Ölporträt im Blick. Mir schaute er Tag für Tag dabei zu, wie ich die Empfehlungsschreiben seines Neffen und Kardinals Scipione transkribierte, der mit einer entwaffnenden Offenheit ohne Unterlass Verwandte und Klienten zur Beförderung innerhalb des Malteser-Ordens empfahl, entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Zeit. Mitten in dieses beschauliche Studium der Welt des Nepotismus brach dann urplötzlich das zeitgenössische Papsttum herein.

Denn in Rom schlägt weiterhin das Herz des Katholizismus, und wenn jenes des Stellvertreters Christi aufhört zu schlagen, dann herrscht Sedisvakanz – Ausnahmezustand! Zumal wenn das verstorbene Oberhaupt mehr als zwei Jahrzehnte über die Geschicke seiner Kirche wachte. Die Zahl der in Rom anwesenden Pilger stieg, so schien es, ebenso exponentiell, wie die der Kardinäle, bis die 3-Millionen-Stadt schließlich sechs Millionen Einwohner und 115 Kardinäle zählte. Die eigentliche Herausforderung bestand nun nicht mehr im Entziffern von Handschriften, sondern im Erreichen des Vatikans, denn Sankt Peter wurde regelrecht belagert. Die Archive jedoch waren geöffnet und wirkten in diesen Tagen mehr denn je wie eine Oase der Ruhe. Draußen konnte man hingegen jene alten Rituale, die einem aus den Quellen vertraut sind, tatsächlich „live“ erleben. Genauso wie erregte amerikanische Touristinnen, die selbst bei pechschwarzen Rauch aus dem an der Sixtinischen Kapelle montierten Schornstein noch „Oh my God, it’s white! It’s white!“ kreischten.
Bei Donna Gioseppina stoße ich unverhofft auf Kardinal Meisner. „Sind Sie Journalist?“, fragt er, „Nein, nein: Historiker, Eminenz!“, gebe ich zurück. „Na dann ist ja gut!“, sagt er erleichtert und verkündet geradezu prophetisch, unter Zuhilfenahme von sechs mit Spanferkel belegten Brötchen werde man den neuen Papst sicher schon in wenigen Stunden küren.
Kaum zwei Tage später, am 19. April um 18:10 Uhr – ich befinde mich mit einer Nachmittags-Sondergenehmigung im Archiv und bin mit den Gedanken bei einem Schreiben Scipione Borgheses an den päpstlichen Inquisitor auf Malta aus dem Jahr 1608 – verkünden die Glocken von St. Peter tatsächlich bereits die Wahl eines neuen Pontifex. „Habemus Papam?“ Ich packe zusammen, eile auf den Petersplatz, ganz nach vorne, schräg unter die Loggia – und werde kurz später von Benedikt XVI. gesegnet. Joseph Ratzinger hat damit eine alte Faustregel des Kirchenstaats gebrochen: „Wer das Konklave als Papst betritt, verlässt es als Kardinal.“ So war es auch, als vor 400 Jahren am 16. Mai 1605 Camillo Borghese gewählt wurde. Jetzt sind „wir“ Papst – die BILD-Zeitung hat mal wieder gar nichts begriffen. Nichtsdestotrotz könnte es sein, dass für die deutschen Forscher im Vatikan aus mikropolitischer Sicht unter dem Pontifikat des Papstes aus Marktl am Inn goldene Zeiten anbrechen. Schließlich soll bislang auch manch polnischer Wissenschaftler Sonderrechte genossen haben. Das ist wohl normal so – vielleicht gar eine anthropologische Konstante? Bekanntlich soll man aber gehen, wenn es am schönsten ist, und spätestens, wenn sich das Stipendium dem Ende entgegen neigt. An meinem letzten Tag zählte Rom so nur noch 114 Kardinäle, ein winkender Papst fuhr an mir vorbei und der Schweizergardist salutierte zum Abschied, als ich den Vatikan durch die Porta Sant’Anna verlies.
Links zum Thema
- Der virtuelle Weg zum Vatikan
- Das vatikanische Geheimarchiv
- Deutsches Historisches Institut Rom
Zur Person
Moritz Trebeljahr studierte Geschichte, Romanistik, Anglistik und Politikwissenschaften in Göttingen und Freiburg und promoviert derzeit – unter anderem als Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Rom sowie der FAZIT-Stiftung auf Malta – über Papst Paul V. Zuvor war Moritz Trebeljahr Deutschlandkorrespondent der Anglo-Portuguese-News (1993-2004), freier Mitarbeiter des StadtRadio Göttingen (1998-1999) und Chefredakteur des Touristenführers What's on in Lisbon (2000). Er ist Vorstandsmitglied des Christlichen Hilfsbunds im Orient und Ehrenritter des Johanniterordens.
Literatur
- Klaus Brill (1999): Beim Papst im Zimmer brennt noch Licht. Recherchen im Vatikan. Wien.
- Wolfgang Reinhard (1974): Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V. 2 Bde. Stuttgart.
- Reinhard, Wolfgang (2002): Geschichte der Staatsgewalt. 3 Aufl. München.