Stumme Gene gegen Blindheit
Die Blindheit kam für Paul R. sehr plötzlich. Eines Morgens wachte der damals 78-Jährige auf und konnte die roten Leuchtzahlen seines Weckers nicht mehr entziffern. Die Ziffern waren zwar groß wie immer – aber vollkommen unscharf. Er konnte gerade noch erkennen, dass der Wecker an seinem Platz auf dem hölzernen Tisch stand und dass die Zahlen da waren. Rot. Aber war es Sieben oder Neun? Sobald er genau hinsah, verschwamm die Uhrzeit. Wohin er blickte, entzogen die Dinge sich seinem Auge.
Augen auf!
Ein einfacher Test hilft bei der Früherkennung der Makula-Degeneration. Da es bisher nicht möglich ist, die Krankheit zu heilen, sondern nur das Fortschreiten zu stoppen, ist es wichtig, sie so früh wie möglich zu diagnostizieren.
Heute, fünf Jahre später, hat Paul R. zahlreiche Arztbesuche hinter sich. Er leidet, wie etwa ein Viertel aller über 65-jährigen in Deutschland, an der Makula-Degeneration. „In diesen fünf Jahren bin ich ein alter Mann geworden. Ich kann nicht mehr lesen. Ich sehe Unebenheiten im Weg nicht. Ich bin immer auf fremde Hilfe angewiesen.“ Die Krankheit ist nicht heilbar. Aber es gibt Therapien , welche die Krankheit aufhalten. Und neuerdings ist eine ganz neue Form der Behandlung hinzugekommen: Derzeit wird die sogenannte RNA Interferenz (RNAi) in einer klinischen Studie der Phase I getestet. „Die ersten Zwischenergebnisse sind positiv: Wir haben keine Nebenwirkungen durch das Medikament festgestellt“, sagt Alexander Brucker, wissenschaftlicher Leiter der Studie . Noch in diesem Jahr will er das Gesamtergebnis vorstellen.
Die Makula ist ein nur wenige Millimeter großer Teil der Netzhaut, der für das scharfe Sehen verantwortlich ist. Wenn im Alter die Trennwand zwischen der Netzhaut und den Blutgefäßen, die das Auge versorgen, brüchig wird, können neue Adern in das feine Gewebe des Auges eindringen und es zerstören. Diese Form der Makula-Degeneration nennt man „feucht“, im Gegensatz zur „trockenen“ Variante, bei der keine Blutgefäße einwandern.

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Für das Wachstum der Blutgefäße verantwortlich ist ein Protein: der „Vascular Endothelial Growth Factor“, VEGF. Wird er produziert, bekommen die Adern das Signal, sich auszubreiten. Und genau hier kommt die RNAi ins Spiel: Mit der RNA Interferenz kann die Produktion des VEGF gestoppt werden. Dafür wird eine Lösung in das Auge gespritzt, die kurze, doppelsträngige RNA-Moleküle enthält. Diese Moleküle sind genau so konstruiert, dass sie zu der Erbinformation für VEGF passen. Und dadurch verhindern sie, dass das Protein VEGF gebildet wird.

Immer, wenn Forscher bisher versucht hatten, andere Krankheiten mit RNAi zu behandeln, hatte es Schwierigkeiten gegeben, weil die therapeutischen Moleküle nicht dorthin gebracht werden konnten, wo sie gebraucht wurden. Wie sollte zum Beispiel sichergestellt werden, dass bei einer Viruserkrankung das Medikament alle die Zellen erreicht, die vom Virus befallen sind? Die Makula-Degeneration eignet sich viel besser für die RNAi-Therapie - denn die RNA kann direkt in das Auge gespritzt werden. Und da das Sehorgan recht gut isoliert ist, bleiben die Moleküle auch hier und versickern nicht in andere Geweben.
Ein zweites Problem, dem Forscher bei anderen Krankheiten begegnet sind, ist bei der Makula-Degeneration ebenfalls schnell gelöst: Normalerweise ist es schwierig, die RNA in die Zellen hinein zu bekommen. Daher tüfteln Molekularbiologen weltweit an verschiedenen Techniken, die RNA über Antikörper oder andere Hilfsmittel einzuschleusen.
Bei der Makula-Degeneration sorgen aber praktischerweise diejenigen Zellen, die zu viel VEGF produzieren, auch gleichzeitig dafür, dass fremde Substanzen aus dem Auge heraustransportiert werden. Sie fressen Fremdstoffe und damit auch die therapeutische RNA. So gelangt das Medikament fast von selbst an ihren Zielort und kann hier die Produktion von VEGF abschalten.

Bild: Sirna Pharmaceuticals
Natürlich hat die Therapie auch ihre Schattenseiten: Eine Injektion in das Auge ist nicht ganz ungefährlich. Die Sicherheit und auch die Effektivität des Medikamentes muss erst noch genau überprüft werden. Und wenn eines Tages tatsächlich die feuchte Makula-Degeneration mit RNAi behandelt werden kann, so wird damit wahrscheinlich nur das Einwachsen von neuen Blutgefäßen verhindert werden können. Die Krankheit könnte damit – genau wie mit anderen bisher möglichen Behandlungen – aufgehalten werden. Aber die einmal zerstörten Teile der Netzhaut werden auch mit dieser Methode nicht geheilt werden können. So ist dieser Ansatz zwar ein Paradebeispiel für die Therapie mit RNAi und damit ein wichtiger Fortschritt, aber keinesfalls eine Wunderkur.
Links zum Thema
- Das katholische Blindenwerk Norddeutschlands informiert
- Wie funktioniert siRNA? Eine Animation.
- RNAi in der Fachzeitschrift Nature
- Die Firma Ambion hat für Biologen zahlreiche Informationen mit Referenzen zusammengestellt.
Zur Person
Sina Bartfeld ist Redakteurin bei Sciencegarden und Doktorandin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie. Sie arbeitet selbst mit RNA Interferenz im Labor. Ihr Großvater leidet sowohl unter der feuchten, als auch unter der trockenen Form der Makula-Degeneration.