Szenen einer Ehe
Kennenlernen und Heirat – hierfür gibt es kein festes Drehbuch, stellte Elena Baibikov fest, als sie begann, über die Identitätsrekonstruktion bei russischen Frauen zu forschen, die sich nach der Hochzeit mit einem japanischen Mann in dessen Heimat niedergelassen haben.
Elena Baibikov
wurde 1977 in St. Petersburg geboren. Im Alter von 15 Jahren zog sie nach Israel, wo sie 2002 an der Hebrew University of Jerusalem den B.A.-Grad erwarb.
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Vier der zwanzig Gesprächspartnerinnen, die Baibikov für ihr Projekt ausgewählt hatte, lernten ihren zukünftigen Ehemann durch ihre Tätigkeit für einen japanischen Konzern oder auf Geschäftsreisen nach Japan kennen, zwei wurden von Heiratsagenturen vermittelt und weitere vier Damen trafen ihren Partner zum ersten Mal im Freundeskreis. Die meisten Russinnen jedoch lernten ihre Ehemänner in japanischen Nachtclubs kennen.
Warum sich junge Russinnen für die Arbeit als Tänzerin oder Hostess entscheiden, hat vielfältige Gründe. Zum einen wollen die Frauen der instabilen wirtschaftlichen und politischen Situation in Russland entfliehen und ihre Zukunft absichern, zum anderen treibt sie der „Pretty Woman“-Traum an, die romantische Liebe zwischen Freier und „leichtem Mädchen“.
Auch wenn einige Frauen bei der Verwirklichung ihres Traumes an Menschenhändler geraten, weigert sich Baibikov, sie lediglich als Opfer zu sehen. Die Mädchen wüssten, meist aus den Erzählungen von erfahrenen Bekannten, was sie im Nachtclub-Gewerbe erwarte, und träfen ihre Entscheidung nach Abwägung aller Risiken.
Ganz egal, wie sich ein heiratswilliges russisch-japanisches Paar gefunden hat, der Weg zum Traualtar gestaltet sich für alle gleich: Erst einmal muss die Zukünftige nach Russland zurückkehren, denn die üblichen Arbeitsvisa schließen eine Hochzeit aus. Dann besorgt der Bräutigam ein dreimonatiges Privatvisum zum Zweck der Heirat. Nach der Eheschließung erhält die russische Partnerin ein sogenanntes „Ehegattenvisum“. Weil dieser Sichtvermerk mit einer Scheidung erlischt, ist die Ehefrau vollständig vom Wohlwollen ihres Mannes abhängig. Erst nach fünf Jahren erhält sie ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.

Das erste Ehejahr ist für beide Partner die schwierigste Zeit im gemeinsamen Leben: schließlich hatten sie aufgrund der vorehelichen Visaregelungen maximal neun Monate Zeit, um sich kennen zu lernen, und die russische Ehefrau muss sich im neuen Umfeld zurechtfinden. Interkulturelle Konflikte sind an der Tagesordnung. Meistens werden sie durch unterschiedliche Vorstellungen über die Geschlechterrollen ausgelöst. Familiensinn ist zwar zentral für das Frauenbild in Japan und Russland, drückt sich aber unterschiedlich aus.
In Russland ist die „arbeitende Mutter“ die typische weibliche Rolle. Sie entstand in den 1930er Jahren als Ausdruck der neuen, sowjetischen Gesellschaft und zeigte die sowjetische Frau als Symbol für Freiheit, Gleichberechtigung und intellektuelle Aktivität. Da dieses Bild vom Staat intensiv propagiert wurde, konnte es sich im Lauf von 75 Jahren tief im russischen Bewusstsein festsetzen. Die Mutterrolle und die Rolle als (sexuelle) Partnerin schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Familiensinn ist in Russland deshalb nicht allein mit hingabevoller Nachwuchspflege gleichzusetzen, er schließt auch die aktive Anteilnahme beider Ehepartner am Leben des jeweils anderen ein.
Das japanische Frauenbild der „guten Ehefrau und weisen Mutter“ hingegen basiert auf einer strikten Trennung der Geschlechterrollen. Während die Männer außerhalb des Hauses aktiv sind, leistet die Frau im häuslichen Bereich Dienst am Staat: sie pflegt Kinder und familiäre Beziehungen. Das japanische Familienleben ist also weniger auf Intimität zwischen den Partnern ausgerichtet, als am Dienst an einem höheren Zweck.
Nicht nur weil die russische Gattin bisweilen aus der japanischen Rolle fällt, beäugt die Familie des Ehemanns die neue Partnerin oft sehr kritisch: Da Russland wirtschaftlich viel schlechter entwickelt ist als Japan, argwöhnen viele japanische Angehörige, dass die russische Braut ihren Ehemann in eine Zweckehe gelotst hat, um sich finanziell abzusichern. Dem jedoch widerspricht Baibikov: Beide Seiten profitierten gleichermaßen von der Ehe. So schätzten die befragten Ehemänner die Offenheit ihrer russischen Frauen ebenso wie deren europäisches Äußeres, das mit einem asiatischen Herzen gekoppelt sei. Außerdem, so Baibikov, sei für viele Männer verlockend, dass die Kosten für eine russisch-japanische Hochzeit viel geringer sind als für eine traditionelle japanische Eheschließung und die russischen Frauen geringere Ansprüche als Japanerinnen hätten.
Der Terminus „Identität“
hat in der Soziologie zwei verschiedene Bedeutungen: zum einen kann er Gleichheit bezeichnen, wenn alle Mitglieder einer Gruppe identisch zueinander sind, zum anderen kann er Unterschiedlichkeit bezeichnen, wenn ein Individuum sich von den restlichen Gruppenmitgliedern abhebt.
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Doch lediglich eine der zwanzig von Baibikov befragten russischen Ehefrauen wäre mit einem Dasein als Nur-Hausfrau zufrieden, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Damen ins Berufsleben drängen, sobald sich nur die geringste Chance dazu ergibt. Allerdings sprechen 49 Prozent der befragten Russinnen schlecht bis gar nicht Japanisch, und knapp 80 Prozent können Japanisch weder lesen noch schreiben, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt stark einschränkt. Zudem ist auch der Bedarf an russischen Hochschulabsolventen, vor allem an Geisteswissenschaftlern, in Japan sehr gering.
Viele Frauen besinnen sich deshalb auf ihre eigenen interkulturellen Erfahrungen und machen sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen selbständig: Sie bieten interkulturelles Training für japanische Manager in Rußland an, werden selbst im Import- und Exporthandel tätig oder gründen russisch-japanische Partnervermittlungsagenturen.
Weil Familie in den Kulturen beider Ehepartner einen hohen Stellenwert haben, machen sich viele russisch-japanische Paare zuerst einmal an die Familienplanung. Die meisten Russinnen sind dabei des ambivalenten kulturellen Status’ ihrer Kinder wohl bewusst, was sich unter anderem an deren Namen bemerkbar macht: Beinahe alle Kinder bekommen solche russische Namen wie Maria, Natalia, Niktia oder Anton, die auch für japanische Zungen leicht auszusprechen sind. Eine kleinere Zahl von Kindern hat zwei Namen: einen offiziellen für die japanischen Angehörigen und einen Kosenamen, mit dem die Mutter sowie russische Verwandte und Freunde das Kind anreden.
Nach fünf Ehejahren ist es für ausländische Ehepartner möglich, die japanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Allerdings sind nach Baibikov nur knapp 17 % der russischen Respondentinnen bereit, diesen Schritt zu tun, während in einer Vergleichsgruppe mit asiatischen Ehefrauen ein Drittel der Befragten zu Japanerinnen werden wollte.
Ein Grund dafür ist sicherlich, dass in Japan die Konzepte von Staatsbürgerschaft, Nationalität und Ethnie überlappen. „Du kannst Kimono tragen und so viel Miso-Suppe essen, wie Du willst, um als Japanerin behandelt zu werden, bedarf es schon einer Gesichtsoperation,“ bringt es eine russische Gesprächspartnerin auf den Punkt.
Zudem schrecken viele Russinnen davor zurück, Japanerinnen zu werden, weil sie zuerst die russische Staatsbürgerschaft ablegen müssten. Da sie nur schlecht in die japanische Gesellschaft integriert sind, befürchten sie, dass der Verlust der russischen Staatsbürgerschaft sie auch aus der Gesellschaft und Kultur ihres Heimatlandes herausreißen würde.
Die russischen Ehefrauen in Japan, so Baibikovs Fazit, entwickeln eine fließende Identität: sie sitzen sozusagen zwischen der russischen und japanischen Kultur. Sie nehmen ihre Migration nicht bewusst als Wechsel in ein anderes Land und eine andere Kultur wahr, sondern betrachten ihn nur als einen möglichen Weg zur Familiengründung. Deshalb bleiben ihre Integrationsbemühungen auf den inneren Familienkreis beschränkt, eine Anpassung an die japanische Gesellschaft wird von den wenigsten angestrebt.
Auch Baibikovs Ehemann pflegt die japanische Tradition des Ikebana – allerdings stammt er aus Moskau.
Links zum Thema
- Hebrew University of Jerusalem
- Kyoto University
Zur Person
Sandra Birzer ist Redakteurin dieses Magazins.
Literatur
- R. Berger/R. Hill (Eds.) 1998: Cross-cultural Marriage: Identity and Choice. Oxford/New York.
- Donna M. Hughes (2000): The ‚Natasha‘ Trade: the Transnational Shadow Market of Trafficking in Women, in: Journal of International Affairs 53 (2), S. 625-651.