Die Zukunft der Bibliothek? Ein Ausflug in die British Library in London

British Library, LondonErste Buchsammlungen entstanden vor etwa 5000 Jahren im fernen Orient. Wie die Zukunft der modernen Bibliothek aussehen könnte, zeigt die Londoner British Library.

Wer in der British Library (BL) einen Job haben will, muss Italiener sein – oder zumindest so aussehen. Dies scheint wenigstens für eine Anstellung bei der Kette Keith’s zu gelten, die sich offenbar dadurch einen größeren Espresso-Absatz in ihrem Café unter dem Dach der Bibliothek verspricht. Peter könnte beispielsweise als Neapolitaner durchgehen, ist aber Wiener und eigentlich Schauspieler. Während er darauf hofft, endlich wieder als solcher ein Engagement zu erhalten, verkauft er an unausgeschlafene Bibliotheksleser koffeinhaltige Getränke. Man dankt es ihm.

Unter Bibliothek (griechisch von biblion: Buch und theke: Aufbewahrungsort) versteht man eine systematisch angelegte Buchsammlung zu privater oder öffentlicher Nutzung. Heute gehören neben Büchern in der Regel auch andere Informationsmedien (Mikrofiche, Zeitschriften, Tonträger, Filme, Magnetbänder, Dias, Videos und elektronische Medien) zum Bibliotheksbestand. Durch die Digitalisierung scheint die Bibliothek der Zukunft sich immer stärker in den virtuellen Raum zu verlagern.

Doch tausende Besucher, die tagtäglich in Britanniens größte Bibliothek strömen, kommen nicht allein zum Kaffeetrinken. Im Mittelpunkt des Interesses stehen vielmehr die 150 Millionen Bücher, Zeitschriften, Handschriften, Karten, Grafiken, Tonaufnahmen oder Briefmarken der Library. Ein Mitarbeiter der BL hat fleißig ausgerechnet, dass es – einen täglichen Zugriff auf fünf Fundstücke der Bibliothek vorausgesetzt – etwa 80.000 Jahre dauerte, bis man sich durch die 625 Kilometer langen Regale durchgearbeitet hätte. Ungeachtet der Tatsache, dass jährlich weitere 12 Kilometer hinzukommen.

Aber nicht allein auf die schiere Masse sind die bibliophilen Briten stolz. Stolz ist man auch auf die besonderen papiernen Schätze der Bibliothek, die nicht nur die Magna Carta, ein Notizbuch Leonardo da Vincis oder die erste Ausgabe der Times (1788) umfassen: Sogar echte Notenschriften der Beatles bewahrt das Bibliotheksgebäude in St. Pancras, im Herzen Londons auf. Doch auch die in den 1970ern aus den Beständen des British Museum und drei weiterer Bibliothekseinrichtungen zusammengelegten Sammlungen der BL sind so international wie das Personal der Bibliothek und umfassen einen großen europäischen und außereuropäischen Fundus.

Eingangshalle
Keine klaustrophobe Architektur. Die Eingangshalle der Bibliothek.

Angesichts dieses Bestandes ist der nicht ganz unbescheidene Anspruch, in dem roten Ziegelbau sei „the world's knowledge“ beheimatet, verzeihlich. Denn auch das größte öffentliche Gebäude, das in den vergangenen fünfzig Jahren in England errichtet wurde, ist allein freilich kaum in der Lage, das buchgewordene Wissen der Welt zu lagern. Neben einigen kleineren Magazinen bildet so das British Library Document Supply Centre in Boston Spa (Yorkshire) im äußeren Norden Englands das bedeutendste Rückgrat der Bibliothek.

Untergebracht in einer ehemaligen Fabrik stellt diese Außenstelle eine weitere Statistik der Superlative auf. Vier Millionen Anforderungen von Aufsatz- oder Buchkopien gehen im Jahr aus der ganzen Welt ein, gestellt von der internationalen Gemeinschaft der Natur- und Geisteswissenschaftler, aber auch von Firmen und Privatkunden. In der BL selbst werden die Fernleihen zumeist schon nach 48 Stunden bereitgestellt. Und das kostenfrei – für den deutschen Bibliotheksleser in Zeiten steigender Gebühren ein regelrechter Luxus.

EEBO, die Early English Books sollen bei Vollendung 125.000 englischsprachige Drucke aus Renaissance, Barock und Aufklärung umfassen. Schon heute sind die bedeutendsten Schriften als digitale Faksimile abrufbar, dank eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Abonnements nun auch im Netzwerk sämtlicher deutscher Bibliotheken.

Noch verschickt die BL pro Jahr etwa 100 Milionen Aufsätze, Doktorarbeiten oder andere papiergewordene Geistesergüsse als Kopien in die ganze Welt. Mittelfristig wird die Digitalisierung weiter Bestände die Kosten international nivellieren. Ein erster Schritt ist mit dem Online-Portal British Library Direct kürzlich getan worden. Unter anderem sind nun Artikel aus nicht weniger als 20.000 internationalen Zeitschriften gegen Gebühr elektronisch abrufbar.

Doch dies soll nur der Anfang sein. In der Digitalisierung ihrer Buch- und Zeitschriftenbestände sieht die British Library eine Schlüsselkomponente auf dem Weg zur Bibliothek des 21. Jahrhunderts. Zwar wird auch die „Generation Google“ noch vereinzelt echtes Papier in die Hand nehmen und sich auch altbackener Recherchearbeit öffnen müssen. Aber selbst Handschriften (über 7 Millionen befinden sich insgesamt im Besitz der Bibliothek) werden mittlerweile eingescant. Ingesamt wurden mehrere tausend Primärquellen bereits digitalisiert. Auch an anderen Projekten wie beispielsweise den Early English Books online (EEBO), der elektronischen Bereitstellung von mehr als 125.000 englischen Drucken von 1475-1700, ist die Bibliothek maßgeblich beteiligt.

British Library Document Supply Centre. Das Document Supply Centre verschickt gegen Entgelt Kopien verschiedenster Dokumente in die ganze Welt. Jüngere Zeitschriftenartikel sind seit kurzem aber auch über die British Library Direct als PDF online abrufbar.

Durch das Digitalisierungsprojekt der Bibliothek wird eine Reise von weit her dann in vielen Fällen nicht mehr nötig sein. Vielmehr wird sich dem Wissenschaftler, Forscher oder privaten Leser die Frage stellen, ab dem wievielten Aufsatz die Fahrt nach London kostengünstiger würde. Dass in Deutschland bislang nichts Vergleichbares existiert, was die systematische Digitalisierung gerade alter Drucke anbelangt, liegt sicherlich an der aus historisch-politischen Gründen viel größeren Streuung der Dokumente. Aber auch der deutschsprachige Markt ist viel kleiner, als dass sich Projekte wie EEBO, die sich an englische wie an amerikanische oder australische Nutzer wenden, rentieren würde.

Nicht zuletzt ist es aber auch der Stellenwert, den die britische Politik dem Bibliothekswesen auch in Zeiten überschuldeter Haushalte beimisst. Über neunzig Millionen Pfund hat sich so das Kulturministerium die Bibliothek im Rechnungsjahr 2004/05 kosten lassen. Die Geistes- und Kulturwissenschaften profitieren davon genauso wie die Medizin oder die Wirtschaftswissenschaften. Letztere haben mittlerweile auch einen eigenen Lesesaal erhalten. Nicht nur schrullige Philosophen oder verstaubte Historiker, sondern auch geschniegelte Geschäftsmänner finden daher den Weg in die Library. Im Zeitgeist des ökonomischen Primats ist es sicherlich nicht dumm, dass die Bibliothek daher auch auf ihren volkswirtschaftlichen Nutzen verweist: Nach eigenen Angaben bringt jedes in die BL investierte Pfund der britischen Wirtschaft einen direkten oder indirekten Wert von vier Pfund ein.

Bibliothek Georgs III
Früher war’s beschaulicher. Die königliche Bibliothek Georgs III.

König Georg III. unterlag noch nicht einem solchen Legitimationsdruck, als er sich in den 1760ern entschloss, die erste königliche Bibliothek der Insel einzurichten. Hier durfte der Souverän noch ohne den Rotstift als Damoklesschwert im Nacken ganz seiner und seines Volkes Gelehrsamkeit Ausdruck geben. Heute ist die King’s Library in einem sechsstöckigen Bücherturm im Zentrum des Bibliotheksgebäudes untergebracht. Die Zeiten als Bibliotheken noch eine derart überschauliche Angelegenheit der Monarchen und Fürsten waren, sind allerdings ein für alle Mal vorbei. Die Demokratisierung findet schon allein durch die 1.200 gänzlich gleichgestalteten Sitzplätze der Bibliothek Ausdruck. In den Stoßzeiten reichen aber auch die nicht mehr aus. Dann ist es Zeit, mal wieder einen Kaffee trinken zu gehen.

Beitrag von Joachim Jachnow

Links zum Thema

  • Die British Library im Netz. Online-Katalog, aktuelle Ausstellungen und digitalisierte „Highlights“ der Sammlungen.
  • Das Document Supply Centre. Informationen, Anmeldung, Bestellung.
  • British Library Direct. Hier können aus 20.000 Zeitschriften Artikel gesucht, gefunden und bestellt werden.
  • Die Early English Books Online.
  • Aufsätze zu 5000 Jahren Bibliotheksgeschichte. Von der mesopotamischen Tontafel bis zum Opac.

Zur Person

Joachim Jachnow studiert Geschichte, Romanistik und Politikwissenschaften – bislang in deutschen, spanischen und englischen Bibliotheken. Nicht selten aber auch daheim beim Tee.

Literatur

  • Uwe Jochum (1999): Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart.
  • P. R. Harris (1998): A History of the British Museum Library, 1753-1973. London.

Kategorien

Themen: Bibliotheken
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