Mit Hitler im Kino
Die Führungsclique der Nazis, ihre Handlanger und Vertrauten werden neuerdings immer häufiger in der privaten Atmosphäre des Kaminzimmers, auf dem malerischen Obersalzberg oder im düsteren Bunker inszeniert. Eine regelrechte Film- und Fernsehwelle zeigt uns den Führer und Konsorten ganz privat – allerdings ohne jeden ironischen Unterton, wie beispielsweise in Helmut Dietls köstlicher Kinosatire („Schtonk!“) auf die wahrscheinlich größte und folgenreichste deutsche Zeitungs-Ente: die angeblichen Hitlertagebücher, die der Stern 1983 einer staunenden Weltöffentlichkeit präsentierte, bis ein Materialgutachten des Bundeskriminalamts die Machwerke als plumpe Fälschungen entlarvte; vor allem aber ohne das Bemühen, die vermeintlichen Einblicke in das Innen- und Alltagsleben brauner Führungszirkel in den historischen Kontext des Niedergangs der Weimarer Republik, des Aufstiegs Hitlers vom obdachlosen Wiener Kunstmaler zum Diktator und der Massenvernichtung der europäischen Juden zu stellen.
Dieser Kontext wird nicht oder kaum thematisiert in Werken wie Heinrich Breloers Dokudrama „Speer und Er“ (über Hitlers homoerotisch angehauchte Beziehung zu seinem Baumeister und späteren Rüstungsminister Albert Speer), André Hellers Interview mit Hitlers Sekretärin Traudl Junge („Im toten Winkel“) oder Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“.
Letzterer rekonstruiert auf der Basis von Traudl Junges Tagebuch und einer Essay-Vorlage des Hitler-Biographen Joachim Fest effektreich und mit Starbesetzung die letzten zwölf Tage des Tyrannen im Führerbunker – und erzielte damit einen Massenerfolg: Über 4,5 Millionen Menschen haben „Der Untergang“ von September 2004 bis Februar 2005 im Kino gesehen, darunter viele Schülerinnen und Schüler. Die DVD-Edition (mit zusätzlichem Filmmaterial) wird bundesweit gerade heftig beworben.
Über mögliche Wirkungen des Films auf das Publikum und seinen gesellschaftlichen Stellenwert wurde seit seiner Uraufführung am 9. September vorigen Jahres intensiv diskutiert, unter anderem auch in sciencegarden. Die wichtigste Streitfrage lautete dabei, ob man, wie im „Untergang“ geschehen, Hitler überhaupt als mitfühlenden Menschen „wie Du und ich“ darstellen durfte. Etliche Kritiker sahen die Grenze zur Verharmlosung und Banalisierung weit überschritten. Erst kürzlich noch brandmarkte der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Reichel den „Untergang“ deshalb in einem Aufsatz als „Todeskitsch“, der „auf obszöne Weise belanglos“ sei, weil er sich gleichgültig gegenüber den Opfern des Regimes verhalte. Andere befürchteten, die Fokussierung auf Hitler und seine Helfer würde von der Verantwortung und Mitschuld der Bevölkerung ablenken. Bezweifelt wurde daher auch, ob sich der Film für ein jüngeres Publikum eignet, das vom Nationalsozialismus nur aus Schulbüchern und nicht mehr aus eigener Anschauung weiß. Gesicherte, wissenschaftliche Befunde über die mutmaßlichen Auswirkungen des Films speziell auf Jugendliche gab es als Grundlage für derartige Befürchtungen bisher nicht.
Wilhelm Hofmann, Deutscher Studienpreisträger 2003, und Anna Baumert haben Psychologie an der Universität Trier studiert. Gegenwärtig arbeiten sie an der Universität Koblenz-Landau im Bereich Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik. Die Idee zu ihrer Studie kam ihnen bei der Diskussion ihrer Kinoeindrücke zum Film „Der Untergang“.
Zwei junge Nachwuchsforscher der Universität Koblenz-Landau, der Studienpreisträger Wilhelm Hofmann und seine Kollegin Anna Baumert, haben sie nun nachgeliefert. Die beiden Psychologen, die am Arbeitsbereich Diagnostik, Differentielle und Persönlichkeitspsychologie ihre Doktorarbeiten schreiben, wollten genauer wissen, welchen Einfluss der Film auf Einstellungen von Schülerinnen und Schülern zur Person Hitlers nimmt, außerdem auf Einstellungen zu Deutschland als Nation, zur Rolle der deutschen Bevölkerung im Krieg, zur Angemessenheit von Sanktionen gegen Deutschland sowie zur Aufarbeitung der Nazizeit.
In ihrer kürzlich publizierten Studie (Zeitschrift für Medienpsychologie 17/2005) befragten Hofmann und Baumert anhand eines Fragebogens deshalb insgesamt knapp vierhundert Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Klasse an sechs deutschen Schulen. Etwa die Hälfte der Jugendlichen hatte den Film durchschnittlich vier Wochen zuvor im Kino gesehen. Deren Antworten verglichen sie mit den Antworten von Jugendlichen, die den Film noch nicht gesehen hatten, ihn aber noch ansehen wollten.

Quelle: privat
Die Ergebnisse der Studie (siehe Abbildung, PDF) erhärten die Kritik am Untergangsspektakel. Denn Szenen, in denen Hitler (von Bruno Ganz) nicht als tobender Irrer, sondern melancholisch-versunken, ja beinahe zärtlich dargestellt wird, zeigten offenbar Wirkung:
„Jugendliche Kinobesucher nahmen Adolf Hitler im Durchschnitt eher als Menschen wie andere auch wahr“, so Hofmann. „Sie brachten ihm deutlich weniger negative Gefühle entgegen als Jugendliche, die den Film zum Zeitpunkt der Befragung nicht gesehen hatten.“ Außerdem lehnten sie die nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland verhängten Sanktionen, darunter auch die massenhaften Vertreibungen aus dem Osten, eher ab.
Schließlich scheint der Film die Identifikation der Jugendlichen mit Deutschland als Nation gestärkt zu haben. Hofmann und Baumert zufolge liegt das vermutlich daran, dass sich die jungen Kinogänger mit den ausschließlich deutschen Protagonisten des Films identifizierten und empathisch mit ihnen mitlitten. Schließlich gibt es in „Der Untergang“ keine alternativen Identifikationsfiguren anderer Nationalität oder anderen Glaubens. Die beständige und emotional stark aufgeladene Bedrohungssituation – im Film verkörpert durch die mit aller Macht nach Berlin drängenden russischen Militärs – trage wohl ihr Übriges zu dieser Identifizierung bei, meint Hofmann. Auch werde das Interesse an weiterer Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des Nationalsozialismus durch den Film nicht angeregt, wie Anna Baumert hinzufügt.
Insgesamt also kein erfreuliches Urteil über einen Film, der vom renommierten Historiker und Hitler-Spezialisten Ian Kershaw als „grandioses historisches Drama“ gefeiert und vom Spiegel gar mit einer Titelgeschichte geadelt wurde.

Quelle: privat
Allerdings zeigen die absoluten Mittelwerte der Studie auch, dass alle Schüler Hitler insgesamt ablehnend gegenüberstehen und andere Politiker aus jener Zeit (Stalin, Mussolini, Churchill) deutlich positiver bewerten. Jugendliche, die den Film ansahen, nahmen die deutsche Bevölkerung ebenso wenig als Opfer der Nationalsozialisten wahr wie die Vergleichsgruppe, die ihn nicht gesehen hatte. Sie unterschieden sich auch nicht hinsichtlich ihrer Motivation zur Aufarbeitung der NS-Geschichte. Außerdem dürfte eine eindeutige Rückführung der Ergebnisse auf den Film als alleinige Ursache kaum möglich sein, wie Hofmann selbst zu Bedenken gibt:
„Auch wenn wir bei unserem Gruppenvergleich wichtige Merkmale wie das Geschlecht der Schüler, die bisherige Beschäftigung mit dem Thema oder die Schulbildung kontrolliert haben, könnten eine Reihe weiterer Faktoren die Ergebnisse mit beeinflusst haben. So haben alle Schulklassen, die ihm Rahmen des Geschichtsunterrichts den Film „Der Untergang“ sahen, in der darauf folgenden Unterrichtsstunde mit ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin besprochen.Die berichteten Effekte könnten demnach von der Nachbearbeitung sozial verstärkt, unbeeinflusst oder aber geschwächt worden sein. Die mögliche Unterhaltung mit den Klassenkameraden ist eine weitere Einflussgröße. Unsere Studie leistet aus diesem Grund vorrangig eine realitätsnahe Abschätzung der längerfristigen Filmwirkung im schulischen Bereich.“
Die Studie von Hofmann und Baumert wird Anhänger und Befürworter von Filmen wie „Der Untergang“ also kaum zu Gegnern machen. Aber sie kann die Diskussion um den Sinn und Nutzen der wahrscheinlich auch in Zukunft nicht abreißenden Versuche, die Hitlerzeit in bewegte Kinobilder zu fassen, bereichern. Denn sie bestätigt einmal mehr, dass Filme über Hitler nicht einfach „nur“ Kunstprodukte sind, für die ja bekanntlich eigene Gesetze gelten sollen. Sie sind offensichtlich Gratwanderungen, müssen sich noch vor ihrer Verwirklichung an höchsten moralischen Maßstäben messen lassen und haben noch dazu messbare Effekte auf das Geschichtsbild junger Menschen. Genau das sollte einem Land, dem allmählich die Augenzeugen und Mittäter des Hitlerregimes wegsterben, besonders am Herzen liegen, meint Hofmann. Seine und Anna Baumerts Ergebnisse liefern – empirische – Anhaltspunkte für weitere grundsätzliche ethisch-moralische Debatten in der Gesellschaft. Sie deuten an, dass gut gemachte Hitler-Filme in Zukunft wohl mehr aufbieten sollten als klaustrophobische Bunkerlandschaften und Massenmörder mit menschlichem Antlitz beim Nachmittagskaffee.
Links zum Thema
- Homepage von Wilhelm Hofmann an der Universität Koblenz-Landau
- Homepage von Anna Baumert an der Universität Koblenz-Landau
- Deutscher Studienpreis
Zur Person
Wilhelm Hofmann, Deutscher Studienpreisträger 2003, und Anna Baumert haben Psychologie an der Universität Trier studiert. Gegenwärtig arbeiten sie an der Universität Koblenz-Landau im Bereich Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik. Die Idee zu ihrer Studie kam ihnen bei der Diskussion ihrer Kinoeindrücke zum Film „Der Untergang“.
Literatur
- Joachim Fest (1973): Hitler. Eine Biographie. Frankfurt/M.
- Joachim Fest/Bernd Eichinger (Hrsg.) 2004: Der Untergang. Das Filmbuch. Berlin.
- Wilhelm Hofmann/Anna Baumert/Manfred Schmitt (2005): Heute haben wir Hitler im Kino gesehen: Evaluation der Wirkung des Films „Der Untergang“ auf Schüler und Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse. Zeitschrift für Medienpsychologie 17, S. 132-146.
- Ian Kershaw (2005): Death in the Bunker. London.
- Traudl Junge/Melissa Müller (2002): Bis zur letzten Stunde: Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben. München.
- Peter Reichel (2005): „Onkel Hitler und Familie Speer“ – die NS-Führung privat. Aus Politik und Zeitgeschichte 44, S. 15-23.