Von Heidelberg nach Bologna: Wie der Umbau auf Bachelor- und Masterstudiengang das Physikstudium verändert?

*Der Umbau eines Studiengangs nach den politischen Vorgaben des Bologna-Prozesses verläuft auf dem Papier meist glatt. In der Praxis offenbaren sich jedoch zahlreiche Unwägbarkeiten. Den Weg von Heidelberg nach Bologna nimmt Fabian Czerwinski am Beispiel des Studiengangs Physik in Augenschein.

Beginnt jemand sein Physikstudium in Heidelberg, dann tut er dies im Winter und nach einem sogenannten „Eignungsfeststellungs-Test“. Dies sind nur zwei kleine Beispiele, welche Auswirkungen der Umbau des traditionell als Diplomstudiengang angelegten Studiums auf einen Bachelor- und Masterstudiengang hat.

Der Bologna-Prozess beruht auf einer Erklärung der BildungsministerInnen, die von VertreterInnen aus 29 europäischen Ländern am 19. Juni 1999 in Bologna unterzeichnet wurde.
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In Deutschland ist an der Universität Heidelberg die Anzahl der auf ein Physikdiplom Studierenden am höchsten: 1265 junge Menschen studierten hier während des Wintersemesters 2005/06 auf Diplom. Veränderungen in der Prüfungsordnung, die auf den Bologna-Prozess zurückgehen, haben hier eine besonders starke Auswirkung.

Die Veränderungen im Fachbereich Physik und Astronomie, die sich seit 1999 vollziehen, sind die direkte Folge des Bologna-Prozesses, der alle Studiengänge in Europa international vereinheitlichen soll. Ziele sind dabei, Mobilität, Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden zu stärken. So wird im Rahmen des European Credit Transfer System (ECTS) jeder Studienleistung ein Punktwert nach einem (angeblich) internationalem Standard zugeweisen.
Mit Ausnahme der Lehramtsstudiengänge sind durch den Bologna-Prozess alle Studiengänge bis 2010 von den Veränderungen betroffen.

„Alles braucht eine Note“
Bis weit in die 1990er ermöglichte die Prüfungsordnung des Diplomstudiengangs Physik in Heidelberg den Studierenden bei moderaten Scheinauflagen, vor allem im Hauptstudium eigene Schwerpunkte zu setzen und sich aus persönlicher Initiative heraus in den zahlreichen angrenzenden Forschungseinrichtungen mit physikalischen Fragestellungen auseinander zu setzen.

*Ab dem Wintersemester 2001/02 veränderte sich diese offene und fruchtbare Atmosphäre; unter dem Einfluss verquirlter Metaphern von einem „einheitlichen Standard“ und der „Vergleichbarkeit wissenschaftlicher Leistungen“, also Schlagworten, die in Bologna formuliert worden waren, gab es auf einmal in allen Veranstaltungen des Physikgrundstudiums Bewertungen für Studienleistungen.

Die Studienkommission hatte die Direktive ausgegeben: „Alle Leistungsnachweise müssen eine Note tragen, um im Falle einer Umstellung des Studiums überhaupt anerkannt zu werden.“ Damit war wohl der Umbau auf Bachelor- und Masterstudiengänge gemeint.
In den Folgejahren wurden Eignungsfeststellungs-Test eingeführt und der Studienbeginn auf das Wintersemester eingeschränkt.

*Dennoch studieren StudienanfängerInnen in Heidelberg auf dem Papier noch „auf Diplom“. Das Vordiplom besteht mittlerweile mindestens zur Hälfte aus schriftlichen Prüfungen (abhängig von der Nebenfachwahl). Ein weiterer Schritt auf dem Standarisierungsprozess in Richtung Bologna.
Am Fachbereich Physik der TU Kaiserslautern ist dieser Prozess noch weiter fortgeschritten: StudienanfängerInnen haben bis zum Vordiplom eine mündliche Prüfung, die nur ein Zehntel der Gesamtnote ausmacht.

Dadurch, dass im Zeugnis jede Prüfung steht, die während des Semesters geschrieben wird, verlagern sich Pflichtpraktika in die Semesterferien. Als Folge davon können immer weniger Studierende ein selbstgewähltes Forschungspraktikum in den Semesterferien machen, ohne Zusatzsemester einzuplanen oder, wenn sie doch Pflichtpraktika in der Vorlesungszeit auf sich nehmen, mit (Noten-)Makeln belegt zu werden.
Auch in Heidelberg nähmen „nur wenige Studierende aus unteren Semestern“ eine sogenannte „Miniforschung“ wahr, bestätigt Peter Glässel, Koordinator des Fortgeschrittenenpraktikums.

Die Orientierungsprüfung ist eine Eigenart des baden-württembergischen Hochschulwesens. Sie muss bis zum zweiten Semester von jedeR StudentIn in den jeweiligen Studienfächern abgelegt werden.
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Wirklich eigenartig wird das Ganze indes, wenn Bologna-Ziele mit Überbleibseln alter Prüfungsordnungen „zusammenspielen“: Im Studiengang Informatik an der Universität Heidelberg schrieben sich im Wintersemester 2004/05 InformatikstudentInnen so massenhaft in den Studiengang Mathematik um, dass die zuständigen Stellen fürchteten, den Bachlorstudiengang Informatik schließen zu müssen, da die Mindeststudierendenzahl unterschritten wurde.
Grund war eine Klausur, bei der fast 90% der StudentInnen durchfielen. Diese war aber nicht nur Scheinklausur, sondern auch Orientierungsprüfung (siehe Infokasten). Eine Orientierungsprüfung darf nur einmal wiederholt werden, bevor jeder Prüfungsanspruch im entsprechenden Fach verloren geht.

Auf Anfrage der Studierendenfachschaft mathphys hieß es, die Klausur sei nicht mit dem Prüfungssekretariat abgestimmt gewesen. „Gelöst“ wurde dieses „Maleur“ übrigens durch den Kniff einer phänomenal einfachen Nachklausur, angeregt von den Zuständigen der Fakultät.

An der Fakultät für Physik und Astronomie an der Universität Heidelberg gibt es die Möglichkeit, „einen auf die Bedürfnisse der Naturwissenschaftler zugeschnittenen, anwendungsorientierten "interdisziplinären Studiengang Physik mit Vertiefungsfach Informatik/Biologie" zu absolvieren“.
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„Verlässlichkeit“
Der baldige Umbau des Diplomstudiengangs Physik zu einem Bachelor- und Masterstudiengang verlangt noch eine andere, weitreichende Änderung der bisherigen Prüfungsordnung: Nur ein bestimmter Anteil der erfolgreichen BachelorabsolventInnen darf das eigene Studium bis zum Master fortsetzen. In den USA sind dies erfahrungsgemäß ein Drittel der Studienanfänger.
Um jedoch trotzdem den Studienanfänger eine „Garantie“ auf eine Fortsetzung des Studiums zu suggerieren, hat die Fakultät in Heidelberg sogenannte Vertiefungsfächer (Informatik, Biologie) eingerichtet, die einen Abschluss mit fachgebundenem Zerfikat ermöglichen.
Dass es sich dabei im Falle des Umbaus um „neue“, eigenständige Studiengänge handelt, wird von weder von Studiendekanin Annemarie Pucci noch der Fakultät direkt erwähnt.

*Jede Anerkennung von Studienleistungen wird zu einer Zitterpartie, da die aktuelle Prüfungsordnung dafür keine Regeln enthält. Eine Ursache kann die Unsicherheit auf Seiten der Fakultät sein. Als Entschuldigung kann dies jedoch kein Betroffener akzeptieren.
„Bereits erworbene Scheine von mir sind nicht anerkannt worden, da sie keine ,ausreichend klassifizierenden Bewertungen’ enthielten. Die Studiendekanin meinte zu mir, ich würde ja auf ein zusätzliches Zertifikat hinarbeiten, welches ergänzend neben dem Diplom stehe.“, klagt ein betroffener Student.
Und er ergänzt mit einem fast sarkastischen Lachen: „Ich denke, ich werde noch eine Menge Nummern ziehen müssen. Tja, Formalitäten sind alles.“ Damit spielt er auf die jüngste Posse der Fakultät für Physik und Astronomie an der Universität Heidelberg an; mit den fast zweimontlichen Veränderungen der Prüfungsordnung konfrontiert, ist die Zahl der Studierenden, die sich für Prüfungen anmelden, Scheine ein- und nachreichen sowie Fristen wahren müssen, mittlerweile so in die Höhe geschnellt, dass eine Nummernuhr den Eintritt ins Studentensekretariat regelt.

„Evaluation“
Die Richtlinien zur Umsetzung des Bologna-Prozesses sehen kontinuierliche „Evaluation der Lehrveranstaltungen“ vor. Diese führt seit nunmehr sechs Jahren die Fachschaft mathphys, ein freier Zusammenschluss engagierter Studierender unter hohem zeitlichen Aufwand und in Eigenregie durch.
Dies begrüßt die Fakultät, vergisst dabei aber offensichtlich, dass es laut Richtlinien eine der Dienstleistungen ist, die sie aus eigenen Mitteln finanzieren müsste.
Eine finanzielle Unterstützung der Fachschaft sei bisher nicht in Erwägung gezogen worden, äußerte die Fakultät auf telefonische Nachfrage.

*Das Beispiel des Physikstudiums in Heidelberg zeigt, was deutschlandweit stattfindet:
Formal auf Bologna getrimmt, kollidieren die neuen Prüfungsordnungen immer wieder mit der Wirklichkeit, wenn sie von Verantwortlichen in Lehre und Verwaltung der Universitäten und Fachhochschulen nicht umgesetzt werden können.

„Unbewertet geht nichts“ steht exemplarisch für missverständliche Leitworte. Möglichkeiten entziehen sich den Studierenden, ein selbstverantwortliches und individuelles Studium zu absolvieren. Ungenügende Verlässlichkeiten – beispielsweise im Bezug auf Prüfungsordnungen – erschweren dies noch weiter.

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) hat diese Probleme erkannt: „Strukturänderungen und Anpassungsprozesse bilden einen wesentlichen Teil des Weges zu mehr Bildungsqualität [...] und verdienen unsere grundsätzliche Unterstützung. Es ist Sache der einzelnen Disziplinen, dafür leistungsgerechte Randbedingungen auszuarbeiten und politisch zu vertreten.“

*Die Strukturänderungen, die sich aus dem Bologna-Prozess entwickeln, werden den Studierenden ohne Vermittlung dargeboten, abgesehen von ein paar bildungspolitischen Phrasen. Sie sind damit oft alleingelassen.
„Im Zuge des ,Bologna-Prozesses’, der alle Hochschulen in Deutschland erfasst hat und einen Umbau in Bachelor- und Masterstudiengänge mit sich bringt, muss diese Entwicklung verfolgt werden“ führte Axel Haase im August 2005 im Physik Journal an.
Es reicht nicht, diese Entwicklung nur zu verfolgen. Es handelt sich um einen Prozess, der die Ausbildung der PhysikerInnen in naher Zukunft festschreibt. Exemplarische Fehler, wie die oben angeführten, müssen beseitigt werden und dürfen sich nicht wiederholen.

Vor allem müssen die Studierenden an dem Umbauprozess teilhaben können miteingebunden. Nur so kann ein Ideal von selbstverantwortlichem Lernen und Forschen gemeinsam mit internationaler Vergleichbarkeit von Studienleistungen und der Verbesserung der Lehre verwirklicht werden.
Den Beweis, an genau diesem Umbauprozess interessiert zu sein, sind die Entscheidungsträger an den Universitäten und Fachhochschulen bisher noch schuldig geblieben.

Beitrag von Fabian Czerwinski.

Links zum Thema

  • Wikipedia-Eintrag zum „Bologna-Prozess“ (enthält auch eine sehr leseswerte Kritik)
  • Homepage der Fakultät Physik und Astronomie an der Universität Heidelberg
  • Trendwende(n) im Physikstudium? Statistiken zum Physikstudium an den Universitäten in Deutschland 2005 von Axel Haase (PDF)

Zur Person

Fabian Czerwinski studiert an der Universität Heidelberg Physik und fragt sich manchmal, welche Form die Funktion annimmt, deren Randbedingungen durch den Bologna-Prozess gegeben sind.

Literatur

  • Trendwende(n) im Physikstudium?
    Statistiken zum Physikstudium an den Universitäten in Deutschland 2005 von Axel Haase, erschienen in Physik Journal (2005) Nr. 8/9.

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Themen: Hochschule | Lernen
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