Die Universität als subventioniertes Unternehmen
Der Kern der europäischen, vor allem im Deutschland des 19. Jahrhunderts erfundenen Universität, ist eine humanistisch geprägte Rationalität. Das Schlagwort hierfür ist die Erkenntnisorientierung. Dies klingt zwar alteuropäisch, aber Generationen von Studierenden und auch Professoren haben sich daran orientiert. Auch für heutige Jungforscher ist der wissenschaftliche Erkenntnisdrang – abgesehen von der Jagd nach Titeln – die einzige Motivationsquelle die unerfreulichen Arbeitsbedingungen an Hochschulen auszuhalten.
Mit Bestürzung stellen inzwischen auch viele Professoren fest, dass die bildungspolitisch favorisierte Orientierung an der Privatwirtschaft die traditionelle Erkenntnisorientierung langsam abschafft. Jungforscher, die Geld und Freizeit haben, können sich natürlich weiterhin mit Geisteswissenschaften oder sogar dem Humanismus beschäftigen, aber einen Jahresvertrag für eine halbe Stelle – also das Paradies auf Erden – wird man so schwerlich ergattern.

Viele Fakultäten oder Lehrstühle werden nicht mehr Aufgrund wissenschaftlicher Leistungen beurteilt, was zählt ist ihr Markterfolg – ihre Drittmitteleinwerbung. Dies entlastet die Bildungspolitik und auch die Universitätsleitung weitgehend von einem alten Messproblem: Erkenntnisse lassen sich nicht quantifizieren – Geld schon. Dies erklärt, warum oft geisteswissenschaftliche Seminare geschlossen werden, während andere, die keineswegs „nützlicher“ sein müssen – man denke nur an die Unsummen verschlingende Weltraumforschung – weiterexistieren.
Die Folgen dieser vereinfachten Messtechnik sind klar: Die Forschung kann sich weniger an der wissenschaftlichen Entwicklung ausrichten, sondern muss den wirtschaftlichen oder politischen Trends folgen. Auf dem freien Markt treten die Universitäten dann als billige, staatlich subventionierte Dienstleister auf.
Ihr Preisvorteil liegt zum einen in der gewöhnlichen Ausbeutung von Jungforschern begründet, die sich im Gegensatz zu den Ärzten aber keinen Streik leisten können. Von Jungforschern wird nicht selten verlangt, dass sie unter dem Bezug von Arbeitslosengeld weiterarbeiten und ihr (nicht vorhandenes) Privatgeld in Forschungsprojekte investieren.
Zum anderen hat die Universität den Vorteil einer zur Verfügung stehenden, staatlichen Infrastruktur, die sich günstig auf die Preiskalkulation auswirkt. Aus der Marktperspektive könnte man diese Praxis durchaus als unlauteren Wettbewerb bezeichnen.
Wie agieren Universitäten am Markt? Eine Möglichkeit bietet die Evaluations- oder Begleitforschung. So wichtig Evaluation auch ist, sie ist von ihren Inhalten her keine Forschung. Die wissenschaftlichen Evaluatoren übernehmen Aufgaben von Unternehmensberatungen, natürlich ohne die entsprechende Bezahlung. Assistenten mit Rolex und BMW begegnet man selten. Die Unternehmensberatungen haben zu Unternehmen ein ähnliches Verhältnis wie die Wissenschaft zu ihren politischen oder wirtschaftlichen Auftraggebern: sie sind primär Teil einer Beutegemeinschaft, und sekundär Erkenntnisproduzenten. Dies ist in der Struktur bereits angelegt – wer die Kapelle bezahlt, der bestimmt die Musik. Die nicht selten mit den Auftraggebern gemeinsam entwickelten Erhebungsinstrumente dirigieren die Ergebnisse.
Das Problem der Evaluationsforschung ist aber seltener der unmittelbare Eingriff der Auftraggeber, es ist der vorauseilende Gehorsam der Jungforscher, die durch kurze Vertragslaufzeiten in existentieller Unsicherheit gehalten werden. Ein Vorteil von Evaluationsprojekten ist allerdings, dass sie Jungforschern eine verdeckte Bewerbungsmöglichkeit bieten. Man kann sich auf qualitativ hohem Niveau beim Auftraggeber einbringen. Evaluationsarbeit ist daher dem Praktikum näher verwandt als der Wissenschaft. So bieten diese Projekte auch marktkompatible Lernchancen: Diplomatie, Verhandlungsgeschick, Kompromisse zwischen wissenschaftlicher Rationalität und Auftraggeberwünschen und nicht zuletzt Fundraising sind gefragt. Weder Auftraggebern noch Jungforschern ist ein Vorwurf zu machen, allerdings handelt es sich um eine ganz andere Variante der wissenschaftlichen Rationalität: aus Erkenntnissen, die Interessen leiten, werden Interessen, die Erkenntnisse leiten.
Ein anderes, noch gänzlich unreflektiertes Zeitgeistphänomen der Wissenschaft ist der Zwang zur Internationalität geworden. Wahrscheinlich wird auch auf diesem Weg das Messproblem der Erkennntisqualität bearbeitet: Was weltumspannend gelesen wird, muss gut sein.
Internationale Orientierungen sind in der Wissenschaft heute per se positiv. Manche Fachtagung in Deutschland wird heute in der Sprache der englischen Gäste abgehalten – wahrscheinlich ein rein deutsches Phänomen. Die internationale Perspektive ist problemabhängig natürlich sinnvoll, viele Erkenntnisprobleme und (vor allem?) die daran angeschlossenen Märkte kennen keine nationalen Grenzen.
Eine Kritik der Praxis ist allerdings überfällig. Nicht wenige internationale Kooperationen existieren nur, weil der Zeitgeist es verlangt und weil es Geld dafür gibt. Welches Problem allein der Sprachwechsel über Ländergrenzen hinweg erzeugt, wird kaum gesehen. (Abgesehen davon, dass wir mit „international“ nur die englische Sprache meinen.) Es gibt zahlreiche regionale Probleme, kulturelle Unterschiede, viele Missverständnisse und Übersetzungsfehler. Manchmal wissen die Beteiligten gar nicht, was sie tun sollen, sondern nur, dass Geld ausgegeben werden muss.
Denkt man von der deutschen Universität her, fällt eher ein anderes Problem auf: In den Geisteswissenschaften und einem Teil der Sozialwissenschaften beherrschen Studierende ihre Muttersprache auf zu niedrigem Niveau, um sich anspruchsvolle Theorien aneignen zu können. Auch Texte von angehenden Ingenieuren sind selten eine Freude. Selbst Schreibtrainings in Deutsch sind an deutschen Hochschulen immer noch nicht obligatorisch, auf entsprechendem Niveau werden Hausarbeiten verfasst.
Die Globalisierung kombiniert auch in der Wissenschaft Marktrelevanz mit Internationalität. Die Folgen davon werden inzwischen sichtbar: Die PISA-Studien, nur in Deutschland für Skandalkommunikationen tauglich, sind dafür ein Beispiel. An der überaus differenzierten Studie sind leider weniger die Ergebnisse von Interesse. (In der Erziehungswissenschaft wurde die außerwissenschaftliche Rezeption der Studie als Trauerspiel bezeichnet.) Ein nicht unwesentliches Interesse des Auftraggebers OECD – einer Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit – war die internationale Konkurrenzperspektive. Es interessiert daher die Rangfolge, die Darstellung von Leistungen in einer Top-Ten. Solche Bestenlisten sind eigentlich gar kein Gegenstand der Forschung. Rang- und Bestenlisten finden sich in Magazinen oder bei olympischen Spielen. Auch hier spielt keineswegs die wissenschaftliche Rationalität eine Rolle, sondern eher die wirtschaftliche.
Mit den angedeuteten Entwicklungen wird sich anfreunden müssen, wer sich für die Wissenschaft entscheidet. Wer nach dem deutschen humanistischen Ideal sucht, der sollte seine Lektüre lieber in die Freizeit verlagern – und sich einen Brotjob suchen. Während wir in Deutschland scheinbar das ganze Wissenschaftssystem auf englischsprachige und ökonomisierte Verhältnisse umstellen, ist man dort vielleicht schon weiter: In Amerika wird das deutsche TU-Diplom bewundert – warum schaffen wir es ab? Deutsche Master- und Bachelorabschlüsse werden in USA und England keineswegs problemlos anerkannt. Die bedeutendsten Werke zur Deutschen Geschichts- und sogar Literaturwissenschaft werden allerdings längst in England verfasst. Vielleicht liegt es daran, dass die deutsch-humanistische Erkenntnisorientierung bei denen, die wir verkrampft versuchen zu imitieren, längst eine Renaissance erlebt.
Irgendein großer Denker hat behauptet, dass man in Deutschland zwar lange braucht, um eine Erkenntnis zu haben, aber noch viel länger, um diese umzusetzen. Das Tempolimit auf Autobahnen, Rauchverbote in Restaurants und eine kinderfreundliche Sozialstruktur sind im europäischen Ausland längst Alltag – in Deutschland liegt das alles in einer zu fernen Zukunft. Mit der Erkenntnisorientierung der Universität, die im 19. Jahrhundert von der ganzen Welt imitiert wurde, wird es ähnlich gehen: Während in USA und England wieder Humboldt gefeiert wird, machen wir Universitäten zu Unternehmen – und damit überflüssig.
Zur Person
Dr. Frank Berzbach arbeitet für die Universität Frankfurt am Main.
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Themen: Hochschule