Ein Lichtblick für Blinde

*Retinitis Pigmentosa heißt eine unheilbare Krankheit, die den Betroffenen Stück für Stück das Augenlicht nimmt. Ein Mikrochip soll den Erkrankten jetzt wieder zum Sehen verhelfen.

„Pass doch auf, hast du keine Augen im Kopf?“, zischt die Dame im Regionalexpress und zieht ruckartig ihre Tasche unter dem jungen Mann hervor, der sich auf den vermeintlich leeren Platz neben ihr gesetzt hat. Irritiert schnellt dieser hoch, murmelt „Entschuldigung“ und sucht sich den nächst besten Stehplatz. Der junge Mann heißt Thorsten Hoffmann und ist eigentlich kein Rüpel. Thorsten leidet an einer bisher unheilbaren Augenkrankheit mit dem komplizierten Namen Retinitis Pigmentosa (RP).

Durch die Krankheit passieren ihm laufend solche Missgeschicke. Thorsten fällt es jedes Mal aufs Neue schwer, damit klarzukommen. Denn seine Augen waren nicht immer so schlecht. Vor fünf Jahren bemerkte Thorstens Augenarzt bei einer Routinekontrolle, dass bei ihm etwas nicht stimmt. Nach weiteren Untersuchungen wurde der Verdacht zur Gewissheit: Thorsten gehört zu den drei Millionen Menschen auf der Welt, die an der erblichen Netzhauterkrankung leiden (in Deutschland sind es etwa 40.000).

Erst vor ungefähr zwei Jahren machten sich dann auch die Symptome bemerkbar. Es fiel Thorsten zunehmend schwerer, Dinge im Augenwinkel wahrzunehmen. Auf eine Besserung kann der Informatikstudent aus Münster nicht hoffen – im Gegenteil – sein Gesichtsfeld (» s. Info) wird sich weiter verengen und die Dinge, auf die er seinen Blick nicht fokussiert, werden verschwinden. „Es ist, als würde man ständig durch ein Papprohr schauen“, erklärt der 22-Jährige. „Tunnelblick“ nennen das die Ärzte (» s. Info). In den meisten Fällen führt die Krankheit irgendwann zur völligen Erblindung.

Animation eines Tunnelpanoramas
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Ursache dafür ist ein Verfall der Sehzellen im Auge (» s. Info „Netzhaut“). Beim klassischen Verlauf von RP, wie im Fall von Thorsten, sterben die Sehzellen kreisförmig von außen nach innen ab, bis nur noch ein kleiner Sehrest in der Mitte übrig bleibt. Aber die Krankheit kennt viele Varianten: Je nachdem, welcher Bereich der Netzhaut zuerst abstirbt, kann es zu ganz unterschiedlichen Sichtausfällen kommen. Der Tunnelblick ist nur eine Möglichkeit von vielen.
Verantwortlich für die Retinitis Pigmentosa ist ein fehlerhaftes Gen, das durch Vererbung weitergegeben wird. Jeder 80. Mensch trägt so ein mutiertes Gen im Körper. Die Krankheit wird dadurch aber nicht automatisch ausgelöst, in manchen Fällen wird dieses Gen nur weitergegeben, ohne dass die Krankheit ausbricht. Auch Thorsten hat diesen Gen-Defekt von seiner Mutter geerbt, die selbst nicht erkrankt ist.

Wenn Thorsten Glück hat, verschlechtert sich sein Zustand in den kommenden Jahren nur in kleinen Schritten und er kann sein Augenlicht noch lange behalten. Wahrscheinlicher aber ist, dass er schon mit Ende 30 vollkommen blind sein wird. Anfangs wollte Thorsten das nicht wahrhaben: „Mir war das Ausmaß dieser Erkrankung überhaupt nicht bewusst. Die Vorstellung, irgendwann mal blind zu sein, war einfach zu weit weg.“ Erst als er 18 wurde und nicht – wie seine Freunde – den Führerschein machen konnte, wurde ihm langsam klar, dass in seinem Leben einiges anders laufen wird.

Mittlerweile macht sich der 22-Jährige große Sorgen um seine Zukunft. Was wird aus seinen Plänen, wenn er nichts mehr sieht? Wie geht es weiter mit seinem Studium, und wird er überhaupt als Informatiker arbeiten können? Kann er jemals mit gutem Gewissen eine Familie gründen? Solche Fragen gewinnen in seinem Leben immer mehr an Bedeutung. Die Angst, irgendwann ständig auf andere angewiesen zu sein, beherrscht häufig seine Gedanken.

Denn obwohl Thorsten noch 70 Prozent seiner Sehkraft besitzt, bereiten ihm die krankheitsbedingten Einschränkungen schon jetzt immense Schwierigkeiten. „Vor allem im Dunkeln und in der Dämmerung sehe ich schlecht. Bei Nacht erkenne ich nur noch Umrisse. Dadurch ist es sehr schwierig für mich geworden, abends allein unterwegs zu sein.“ Besonders am Wochenende, wenn er wie seine Freunde auf Partys gehen möchte, wird das zum Problem. „Ich brauche ständig jemanden, der auf mich Acht gibt“, erzählt er.

Nachtblindheit ist oft das erste Symptom. Denn die Stäbchenzellen, die das Sehen bei Dunkelheit übernehmen sollen, sind auf der Außenseite der Netzhaut angesiedelt. Und da bei der typischen Form von RP die Sehzellen kreisförmig von außen nach innen absterben, kommt es als Erstes zum Verlust der Stäbchen und somit zur Nachtblindheit. Die Zapfen, die in der Mitte der Netzhaut liegen und für Farben zuständig sind, bleiben zunächst verschont. Bei anderen Formen von RP können auch andere Funktionsverluste zuerst auftreten.

Mit dem Verlust der Sehkraft schwindet zunehmend auch Thorstens Selbstbewusstsein: „Die Krankheit schleicht sich immer mehr in meinen Alltag hinein. Für Fremde bin ich immer der ,seltsame Mensch‘, der auf der Straße nicht grüßt oder der Tollpatsch, der dauernd irgendwelche Dinge umwirft.“ Als seine Eltern bemerkten, wie sehr er unter den Einschränkungen leidet, drängten sie Thorsten, der Selbsthilfevereinigung Pro Retina e. V. beizutreten.

3D-Ansicht eines Retina Implantats
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Dort hörte er zum ersten Mal vom Retina Implantat, dem bisher aussichtsreichsten Ansatz, RP-Betroffenen zu helfen. Entwickelt wurde das Implantat von einem Forschungsteam aus Ärzten und Wissenschaftlern in Tübingen und Regensburg. Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Forschung und Bildung finanziell gefördert. Das Implantat ist ein drei mal drei Millimeter großer Mikrochip, der den Patienten direkt unter die Netzhaut gesetzt wird und somit von außen nicht sichtbar ist. Dort soll er die Funktion der abgestorbenen Sehzellen übernehmen.

Signalverarbeitung im Auge
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Auf dem Mikrochip, der mit einem Zehntel Millimeter gerade mal so dick ist wie ein Blatt Papier, befinden sich lichtempfindliche Photosensoren (» s. Info), Verstärker und Stimulationselektroden. Die Photosensoren wandeln die Lichtstrahlen, die ins Auge fallen, in elektrischen Strom um. Dieser „Lichtstrom“ wird durch die Verstärker intensiviert und über die Stimulationselektroden an die Nervenzellen in der inneren Schicht der Netzhaut, die so genannten Ganglienzellen übertragen. Die elektrischen Impulse werden dann von den stimulierten Ganglienzellen über den Sehnerv ans Gehirn weitergeleitet, wo die Signale anschließend einen Seheindruck erzeugen.

Im letzten Herbst wurden unter der Leitung von Prof. Eberhart Zrenner in Tübingen die ersten zwei Probanden operiert). Die Patienten wurden auf Operationsrisiken und eventuelle Misserfolge vorbereitet und sowohl vor als auch nach der Operation psychologisch betreut.
Alle Schwierigkeiten, die Thorsten im weiteren Verlauf der Krankheit noch bevorstehen, gehören für diese Patienten bereits seit Jahren zum alltäglichen Leben. Aber mit einer Erblindung abfinden werden sie sich nie. Auch nur andeutungsweise wieder Licht über das Auge wahrnehmen zu können, grenzt daher für die Probanden der Studie an ein biblisches Wunder. Jeder noch so kleine Lichtblitz bedeutet einen kleinen Schritt zurück in die Selbständigkeit.

Vergleich der Seheindrücke
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Die Hoffnungen aller Beteiligten wurden nicht enttäuscht: die Operationen verliefen ausgesprochen gut. Beide Probanden konnten wenig später wieder Lichtreize und Muster erkennen. Auch bei zwei weiteren Operationen im Mai dieses Jahres verlief der mehrstündige Eingriff ohne Komplikationen. Die Chancen auf Erfolg stehen also nicht schlecht, und wenn alles gut geht, kommt der Chip in wenigen Jahren auf den Markt.
Momentan kann der Chip laut Prof. Zrenner bei den blinden Patienten jedoch lediglich einen Bildeindruck wie bei einem grobpixeligen Computerbild erzeugen.

Im Hinblick auf die Kosten und Risiken der Operation ist dieses Resultat noch nicht zufrieden stellend. Der Chip wird deshalb kontinuierlich weiterentwickelt, um das Bild für die Patienten reichhaltiger und präziser zu machen. Zwar werden sie auch mit einem optimierten Chip nicht in der Lage sein Texte zu entziffern, aber sie werden sich räumlich zumindest besser orientieren können, als es nach heutigem Entwicklungsstand des Chips der Fall ist. Und das wäre bereits ein immenser Fortschritt. Auch wenn es vielleicht nie ganz gelingen wird, durch ein elektronisches Implantat die Sehfunktion des menschlichen Auges komplett zu ersetzen, könnte man den Patienten wenigstens verpixelte Seheindrücke anstelle von völliger Dunkelheit bieten.

Fraglich bleibt allerdings, wer sich in Zukunft den voraussichtlich sehr teuren Eingriff leisten kann, denn die Krankenkassen werden die Kosten für die Operation wohl nicht tragen. Für Thorsten ist das Retina Implantat dennoch ein Hoffnungsschimmer, dass seine Zukunft nicht vollständig im Dunkeln liegt. Er überlegt inzwischen schon mal, wie er das Geld für die Mikrochip-Operation zusammen bekommt. „Die meisten sparen mit Ende 30 auf ein Eigenheim oder einen familientauglichen Kombi, ich werde eben mein Geld für die Operation ausgeben, wenn es nötig ist“.

Beitrag von Lisa an der Heiden und Simone Rapp.

Links zum Thema

  • Pro Retina Deutschland e.V. (Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegeneration)

Zur Person

Simone Rapp und Lisa an der Heiden studieren an der Hochschule Darmstadt Online-Journalismus.

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Themen: Medizin | Sehen
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