Ein Waisenhaus für Privatfotos
„Ich würde niemals die Fotoalben meiner Großeltern wegwerfen“, sagt Anke Heelemann, die Inhaberin der Fotothek, dem wahrscheinlich einzigen „Fachgeschäft für vergessene Privatfotografien“ der Welt. Das sehen scheinbar viele Menschen anders, oder sie revidieren ihre Entscheidung im Laufe des Lebens. Auf Flohmärkten und im Internet werden Fotoalben, mit Fotos gefüllte Kisten oder Diasammlungen nämlich en masse angeboten. Trödler erwerben sie bei Haushaltsauflösungen, sie liegen im Sperrmüll, im Altpapiercontainer oder werden auf Dachböden gefunden. Heelemann, die an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert, hat in sechs Monaten etwa 100.000 dieser Fotografien gekauft, ersteigert oder einfach gefunden. Sie sind die Grundlage für ihre Diplomarbeit über die „Seh- und Sichtweisen vergessener Privatfotografien“ und in ihrem skurrilen Fachgeschäft zu bewundern: Der Fotothek im Weimar.
Heelemann findet, dass Privatfotos nicht auf den Müll gehören. Ihr Laden bietet ihnen eine neue Heimat: „Die Fotothek ist auch ein Waisenhaus für die Fotografien, hier entfalten sie eine neue Wirkung“. Informationen über die frühren Eigentümer oder die zugehörigen Lebensgeschichten sind meist nicht bekannt, der Kontext der Fotografien also unklar. Aber vielleicht macht gerade das die Faszination aus. Sehen wollen die Fotos nämlich erstaunlich viele Menschen. „Die Besucher sind zwischen 18 und 70 Jahre alt, Männer und Frauen, Historiker und Fotofans, aber auch einfach Passanten“, sagt die Studentin, die sich gerne in Gespräche über die Fotos verwickeln lässt. Die Fotografien stammen aus den 1950er- bis in die frühen 1980er-Jahre. Den jungen Besuchern begegnet eine ganz fremde Zeit, für sie sind die Motive oft „retro“ und haben für sie einen primär ästhetischen Reiz. Ältere Menschen aber werden mit Erinnerungen konfrontiert, ihnen rutscht auch einmal ein „Das hätte auch ich sein können!“ heraus.
Das Fachgeschäft ist im eigentlichen Sinne kein Geschäft. Denn Anke Heelemann verfolgt keine kommerziellen Absichten, die Fotos sind nicht käuflich. „Daran denken zwar viele Besucher, aber ich verstehe den Laden anders. Die Fotos haben hier einen Rückzugsort, eine temporäre Heimat. Die Fotothek ist ein Rezeptionsangebot, Besucher können in Fotoalben blättern, in Kisten wühlen oder Dias anschauen.“ Für Heelemann als angehende Medienwissenschaftlerin ist der Laden auch ein Beobachtungsfeld für die Rezeption der vergessenen Fotos. Die Kunden bleiben oft länger, nicht nur wenn es, wie jeden Mittwoch, Kuchen gibt. Erst wird über die alten Fotografien gelacht, aber nach einiger Zeit beginnt eine tiefere Auseinandersetzung. Wem mögen die Fotos gehört haben, warum sind sie heimatlos geworden? Welche Geschichten erzählen die Fotoalben?
Es ist also wesentlich mehr als der ästhetische Reiz, der die Menschen in den Laden zieht. Aus professioneller Sicht sind die Fotos meist von minderer Qualität. Aber sie werden als authentische Dokumente des gelebten Lebens gesehen, gerade die Unprofessionalität der Inszenierung erzeugt die Aura der Fotos. Es ist auch biographischer Voyeurismus im Spiel, immerhin blickt man in private Zusammenhänge. Die Themen wiederholen sich allerdings. Alltagsfotografen inszenieren die eigene Familiengeschichte als Idyll und den Lebenslauf als stabile Angelegenheit: Geburt, Taufe, Kindergeburtstag. Einschulung, Schulabschluss, vielleicht Studienabschluss. Heirat, Berufsjubiläen, Reisen, Geburtstage. Zerstrittene werden in einem Bild in Frieden vereinigt, verbitterte Menschen lächeln gemeinsam in die Kamera. Fotoalben sind Generatoren der guten Erinnerungen. Krankheit, Scheidung und Beerdigung fehlen so auffällig, dass es auffallen muss. Selbst der Krieg wird im Familienalbum zu gebügelten Uniformen, adretten Frisuren und einem offenem Lächeln.
Aber die Verdrängung funktioniert nur zeitweise. Wer sich mit den Alltagsfotos länger einlässt, und Anke Heelemann erzählt, die Leute blieben oft über zwei Stunden im Laden, der meint auch die Subtexte zu sehen: erzwungenes Lächeln, vom Leben gezeichnete Menschen und auffällige Lücken in den Alben. Die ungeheure Suggestionskraft, die solche Fotos auslösen, hat W.G. Sebald in seinen Romanen genutzt. Er montierte in die untröstlichen, mit dunkler deutscher Geschichte aufgeladenen Texte auch Privatfotografien. Auf den Leser hat das eine ungeheure Wirkung: man meint förmlich, ein Fotoalbum lesen zu können, das die Traurigkeit miterzählt.
Weil in der Weimarer Fotothek auf dem Fotopapier die heile Alltagsgeschichte dominiert, müssen die Geschichten hinter den Bildern selbst erfunden werden. „Mein Laden soll ein ganz großes Spektrum an möglichen Geschichten eröffnen, die Wahrheit liegt dabei im Auge des Betrachters“, sagt Anke Heelemann. Am Ende konfrontieren die heimatlosen Bilder den Betrachter mit sich selbst. Wer den Laden verlässt, hat jedenfalls, das innere Auge einbezogen, viel mehr gesehen als nur vergessene Privatfotos. Und er wird sich fragen, was mit seinen eigenen Fotografien eines Tages geschehen wird. Eine Fotothek wäre vielleicht gar nicht der schlechteste Ort.
Links zum Thema
- Website der Fotothek
- Anke Heelemann im Interview (Deutschlandfunk Corso, 10.8.2006)
Zur Person
Dr. Frank Berzbach ist Redakteur von sciencegarden. Er liest gerne Romane von W.G. Sebald, in die (Privat-)Fotografien montiert sind.
Kategorien
Themen: Fotographie