Die ungeliebte Universität

„Die ungeliebte Universität“Jochen Hörisch analysiert in einem brillanten Essay die psychologische Tiefenstruktur der deutschen Unimisere. Seine Therapievorschläge sind verblüffend pragmatisch: Er rät zu intellektueller Geselligkeit – warum nicht bei einem Glas Portwein? Eine Rezension.

Ein Essay sollte eine überschaubare Länge haben, er muss gut geschrieben sein und auf eine Pointe zusteuern, über die der Leser lange und freudig nachdenken kann. Jochen Hörisch, Germanistik-Professor in Mannheim, braucht 135 Seiten, um diese Erwartungen zu erfüllen. Der lesenswerten „Edition Akzente“ des Hanser Verlages ist somit ein weiterer kluger Text hinzugefügt. In sieben Kapiteln widmet sich Hörisch der tragischen deutschen Universitätsgeschichte: dem weltweit exportierten Konzept einer „Alma Mater“ und die Deformation zur bloßen Hochschule der Gegenwart. Er tut dies allerdings nicht in einem vorrangig historischen Zugriff, sondern er zeigt an Texten des 19. Jahrhunderts – unter anderem von Goethe, Eichendorff, Raabe, Hoffmann, Nietzsche und Schopenhauer (s. Info) – die psychologische Tiefenstruktur der Universität.

Jochen Hörisch
Jochen Hörisch

Das ist in den ersten Kapiteln ungewohnt, und für erbitterte Feinde der Psychoanalyse nicht gerade eine Freude. Aber mit Hörisch ist kein radikaler Freudianer am Werk, sondern ein psychologisch informierter Germanist, der zu lesen versteht. Das Verhältnis zur Universität ist schon seit seiner Gründung kein rein Sachliches, sondern die Wissenschaftler dienen (oder: dienten) Höherem: es geht um die Liebe zur Weisheit. Und dies in einem durchaus sakralen Sinne. Aus dieser Perspektive rücken die psychodynamischen Konflikte der Universitätsgeschichte in den Mittelpunkt. Bis ins 19. Jahrhundert war die Universität keine Hochschule, sondern eine sorgende Mutter für ihre männlichen Schützlinge – eine „Alma Mater“ eben. Der Campus war ein liberaler Orden, der Züge des Mönchtums trug. Die Institution der deutschen Universität vergleicht Hörisch mit der katholischen Kirche: bedeutend, groß, konservativ, sakral und gebildet. Sie war besiedelt von einem homoerotischen Männerbund. Denn auch die Tempel des Geistes waren Männerdomänen und der Umgang mit der Wissenschaft von zölibatären Lebensformen geprägt. Jochen Hörisch sieht literarische Texte auf die „erotologischen Assoziationsfelder“ durch und wird im 19. Jahrhunderts fündig, der Epoche Humboldts. Als Wissenschaftler zu arbeiten oder zu studieren war keineswegs nur Beruf, es war Berufung, Leidenschaft und ein liebender Dienst zur Erkenntnis. Die alte Universität war, anders ausgedrückt, sexy. Der Alltag der neuen Hochschule hingegen, und der Roman „Der Campus“ (s. Info) gibt darüber Auskunft, ist nur noch als Groteske erzählbar.

Dieses libidinöse Verhältnis zur Universität erklärt die gegenwärtige Kränkung und Verbitterung vieler Professoren, die mit Liebe ihr Ordinariat ausfüllten. Die Hochschule erwidert diese Liebe nämlich nicht mehr. Die Revolte von 1968, in der die Universität entsakralisiert wurde, deutet Hörisch noch als eine von Liebe und Leidenschaft getragene Bewegung. Das mag auch an seinem Alter liegen, er ist Jahrgang 1951 und gerade Gelehrte der Jahrgänge der 1920er und 1930er Jahre werden ihm in diesem Punkt widersprechen. Benedikt XVI., 1968 noch Prof. Ratzinger in Tübingen, wurde durch gewalttätige Proteste der Studierenden, die eben nicht mehr diskutieren wollten, eher an die radikale NS-Studentenjugend erinnert. Und auch Prof. Adorno, der sein Institut von der Polizei räumen lassen musste, war erschreckt und gekränkt vom geistlosen Aktionismus. Gewaltsamen Protest als Liebesbeweis zu deuten, fällt schwer, meist signalisiert er das Ende des liebenden intellektuellen Diskurses.

Aber auch wenn Hörisch die konsequente Enterotisierung der Universität erst mit dem Bologna-Prozess (s. Info) heraufziehen sieht, bleibt seine Diagnose überaus zutreffend. Die Revolution durch Bologna wird für Studierende und Professoren sieben Tage die Woche spürbar. Damit endet eine deutsche Tradition, die zwar elitär, aber doch herausragend war. Aus der ihre Kinder umsorgenden Alma Mater, der Universität, wird die (Hoch) Schule – ein kategorialer Unterschied. Aus Bildungswegen werden evaluierbare Qualifikationsprozesse. An die Stelle von Vorlesung und Diskurs treten der Input via Power-Point mit abschließendem Multiple-Choice-Test. Aus dem Gelehrten wird der Forschungsmanager. Die Mehrzahl der Studierenden finden diese Entwicklung auch gar nicht schlimm, selbst Hörisch trauert nicht, er diagnostiziert nur die Folgen: Die Geisteswissenschaften, die von der Liebe an Geist und Tradition getragen werden, geraten ins Abseits. Der Medienwissenschaftler Hörisch beobachtet vor allem das Verschwinden der face-to-face Kommunikation kritisch. Das intellektuell inspirierende Gespräch zwischen Studierenden und Professoren, aber auch unter den Kollegen selbst, wird durch lieblose E-Mail Kontakte ersetzt. Aus einer bildenden Beziehung wird ein Dienstleistungsschema. (Im Buch sind solche fehlerhaften E-Mails abgedruckt, sie sprechen tatsächlich für sich selbst.)

Der Essay wird im Lauf der Lektüre immer realitätsnäher; und damit immer spannender. Schon im vierten Kapitel wird die Tiefenpsychologie nur noch zum Hintergrund und Hörisch entwirft eine eher soziologische Typologie von Professoren. Da gebe es die begnadeten oder sich für begnadet haltenden Lehrer, die nicht forschen. Dann gibt es die produktiven oder sich für produktiv haltenden Forscher, die Studenten nur als Störfaktor sehen. Ein ganz karrieresensitiver Typ präsentiert für Hörisch aber der „Gremienprofessor“, der weder lehrt noch forscht, sondern sich in administrative Machtpositionen rückt. Die ermüdende Selbstverwaltung, die Erkenntnisproduktion und auch Lehre eigentlich stört, wird vom Gremienprofessor in eine Karrieretaktik umgenutzt. Geld und Ressourcen werden an der Universität durch administrative Macht verteilt, keineswegs nur durch Forschungs- oder Lehrerfolge. Der vierte Typ existiert entweder nur historisch oder im Ausland: Der Professor nach Humoldtschem Ideal, der „lehrende Forscher“. Generell wirft Hörisch unsentimentale Blicke über den großen Teich, um dort eine Praxis zu entdecken, die zwar von deutscher Tradition inspiriert ist, von uns aber leider nicht imitiert wird. Amerikanische und englische Universitäten verwirklichen häufiger, was Wilhelm von Humboldt entworfen hat: eine pädagogische Praxis kultivierter Erkenntnisproduktion. Gremiensitzungen sind in Cambridge oder Harvard weitgehend unbekannt, stattdessen sitzt man beim Portwein und fabriziert neue Ideen. Eine solche Universität kann man tatsächlich lieben. Es geht also, nur nicht in Deutschland. Eine Rückkehr erotischer Zustände sieht Hörisch in Deutschland allerdings für die Minderheit heraufziehen, die schon vorher überreich beschenkt wurde: im vollfinanzierten und herkunfsselektiven Elitebereich, also an privaten „Universitäten“ und Akademien, Excellenz- und Elitekollegs. Universitäre Bildung wird in Zukunft bedeuten: Wer hat, dem wird gegeben. Gerechtigkeit wird Leistungsgerechtigkeit.

Nachdem ein unüblicher Blick auf bekannte Probleme geworfen wurde, präsentiert Hörisch am Ende ganz praktische Vorschläge. Die sind verblüffend einfach und vielleicht deshalb enorm klug. Und: sie sind finanzierbar, sie betreffen nämlich die Arbeitskultur. Um die Universitäten wieder zu erotisieren müsste etwas zurückkehren, was in Cambridge und Oxford dazugehört: Geselligkeit unter klugen Menschen. „Alle fest angestellten Dozenten sind verpflichtet, zweimal pro Woche gemeinsam essen zu gehen. (…) Regelmäßige Gespräche, die keiner ausdrücklichen Verabredung bedürfen, entspannen, sparen Telefonkosten, ermöglichen schnelle Problemklärungen, entschlacken den Terminkalender und regen den Geist an“ empfiehlt Hörisch. Auf der Grundlage dieser neuen Kultur der Geselligkeit sollen dann Gremiensitzungen ganz abgeschafft werden, an die Stelle rückt der „Faculty-Club“ – also das Glas Portwein. In USA und England funktioniert das, warum nicht hier? Hörisch fordert eine Residenzpflicht für Professoren, inzwischen findet man dies schon in manchen Stellenausschreibungen. Auch dies ist mehr als sinnvoll. Professoren sollen zudem nicht nach Drittmittelhöhe gefördert werden: „Die Ausstattung der Professuren mit Personal- und Sachmitteln richtet sich nach ihrer Auslastung und Produktivität, nicht nach dem Verhandlungsgeschick (…). Wenn ein Dozent pro Semester drei, sein direkter Fach-Kollege aber dreißig Prüfungen abnimmt, wenn der eine jahrelang nicht (…), der andere aber in bekannten Publikumsverlagen Vielbeachtetes veröffentlicht, wenn der eine keine, der andere aber zahlreiche Einladungen an renommierte in- und ausländische Universitäten erhält, dann ist es schwer zu rechtfertigen, warum der erste über eine bessere Ausstattung verfügt als der letztere“. Als letzte Idee möchte Hörisch ein Mentorensystem etablieren, in dem Dozenten zwei Jahre als Tutoren fünf bis zehn Studierende verbindlich betreut, und dies als Bestandteil eines Lehrdeputats.

Die Lektüre dieser Vorschläge entfaltet genau die Erkenntnislust, die am Ende eines Essays aufkommen sollte. Und beim imaginieren einer geselligen, ihre Arbeitsnehmer liebenden Universität entsteht schnell das Bedürfnis, in den „Faculty-Club“ zu eilen – wenn es ihn doch schon gäbe! Vielleicht erreicht das Buch von Hörisch einige von denen, die über die Zukunft der Universitäten entscheiden. Also die, die weit von ihrer Hochschule entfernt leben, die entweder ungern lehren oder ungern forschen, denen bisher jede Identifikation mit der „beruflichen Heimat“ unmöglich scheint – und hoffentlich wirkt es wie ein Aphrodiasikum.

Beitrag von Frank Berzbach.

Links zum Thema

  • Prof. Jochen Hörisch
  • Die Edition Akzente im Hanser Verlag
  • Leseprobe aus „Die ungeliebte Universität“
  • Prof. Jochen Hörisch im ZEIT Interview
  • Rezension des Buches in der Neuen Züricher Zeitung
  • „Rettet die Alma mater!“ Ein Artikel von Jochen Hörisch.

Zur Person

Dr. Frank Berzbach arbeitet nach langer Zeit an der Hochschule (nie an einer Alma Mater) als Journalist, Fahrradkurier, Dozent und Arbeitskraftunternehmer.

Literatur

  • Jochen Hörisch (2006): Die ungeliebte Universität. Rettet die Alma Mater! Edition Akzente, Hanser Verlag, München.

Zwei lesenswerte Campus-Romane der Gegenwart:

  • Dietrich Schwanitz: Der Campus. München 1995. (s. Info)
  • Tom Wolfe: Ich bin Charlotte Simmons. München: 2005. (s. Info)

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Themen: Hochschule
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