Wissensgesellschaft als Experimentierraum
Wissenschaftliches Wissen steht in unserer Gesellschaft hoch im Kurs. Von jeder Entscheidung, ja von beinahe jeder Meinung wird erwartet, dass sie sich durch diese Sonderform des Wissens stützen lässt. Politiker etwa fragen aus Gründen der Legitimation in zunehmendem Maße wissenschaftliche Expertise nach. Dennoch ist nicht das Wort „Wissenschaftsgesellschaft“ in aller Munde. Von „Wissensgesellschaft“ ist die Rede, ohne dass immer deutlich würde, was genau damit benannt werden soll.
Auch unter Philosophen, die zweieinhalb Jahrtausende hindurch mit einer Standard-Definition des Wissensbegriffs aufwarten konnten, ist umstritten, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit überhaupt von Wissen die Rede sein kann.

Im Dialog „Menon“ hat Plato (427-347 v. Chr.) deutlich gemacht, warum es nicht ausreicht, eine wahre Meinung zu haben, wenn man von Wissen sprechen will. Wollen wir uns dauerhaft an dieser Meinung erfreuen, dann muss sie durch gute Gründe gerechtfertigt sein; erst die Begründung bindet die wahre Überzeugung, fügt sie unserem Wissensbestand hinzu. Die platonische Auffassung von Wissen als gerechtfertigter, wahrer Meinung war bis 1963 allgemein anerkannt.
In diesem Jahr fielen Edmund Gettier, seinerzeit Assistant Professor an der Wayne State University in Detroit, einige merkwürdige fiktive Situationen ein, in denen sämtliche Bedingungen der platonischen Standard-Definition erfüllt waren, in denen wir den beteiligten Personen aber dennoch mit guten Gründen kein Wissen zubilligen würden. Dies sind Fälle – ihrem Entdecker zu Ehren als „Gettier cases“ bezeichnet –, in denen eine Person etwas glaubt, für diesen Glauben aus ihrer Sicht plausible Gründe angeben kann und das Geglaubte auch tatsächlich wahr ist. Doch der Haken an der Sache ist nun, dass diese Gründe falsch sein können, während die Sachverhalte, auf die aus diesen falschen Gründen geschlossen wird, ihrerseits wahr sind – nur eben rein zufällig und aus ganz anderen als den von der betreffenden Person angenommenen Gründen.
Ein Beispiel: In einer ernst zu nehmenden, überregionalen Zeitung lese ich, dass Menschen, die an meinem Geburtstag geboren sind, eine ganz außergewöhnliche Begabung in Sachen Zufallszahlen haben. Es sei ihnen daher ein Leichtes, Lottozahlen richtig vorherzusagen. Ich glaube daraufhin, die Lottozahlen des Tages zu wissen, und kann durch Verweis auf den Zeitungsartikel auch einen guten Grund für diesen Glauben angeben. Also spiele ich an diesem Tag Lotto – und tatsächlich stimmen alle von mir angekreuzten Zahlen mit den gezogenen überein. In Wahrheit aber haben Menschen wie ich keine außergewöhnlichen Zahlenbegabungen. Es handelte sich um eine Zeitungsente. Mein richtiger Tipp war der reine Zufall. Nun die Frage: Habe ich die Zahlen gewusst? Nein, lautet die intuitiv einleuchtende Antwort des gesunden Menschenverstandes. Obwohl ich eine gut begründete wahre Meinung hatte, handelte es sich um keinen Anwendungsfall des Wissensbegriffs.
Wissensgesellschaft
In wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhängen gebrauchte Bezeichnung für westliche Gesellschaften des nachindustriellen Zeitalters, in denen die Verfügbarkeit von Information als zentrale wirtschaftliche Ressource gilt. Unter anderem wird davon ausgegangen, dass sich die Orte und Bedingungen der Wissensproduktion in der Wissensgesellschaft gegenüber dem Industriezeitalter erheblich gewandelt haben.
In der Folge der von Gettier vorgetragenen Kritik hat es einen bis heute andauernden philosophischen Streit darüber gegeben, ob es überhaupt eine Defnition des Wissensbegriffs geben könne. Kürzlich hat etwa der Bielefelder Philosoph Ansgar Beckermann vorgeschlagen, die Bemühungen um den in seinen Augen irrelevanten Wissensbegriff einzustellen und uns in der Erkenntnistheorie lieber mit voller Kraft dem Wahrheitsbegriff zu widmen.
Wie dem auch sei. Interessant ist zunächst die Methode, mit der Gettier die Standard-Definition ausgehebelt hat: Er hat ein Gedankenexperiment angestellt.
Zur Abgrenzung: Bei der Überlegung „Hätte ich 43 Jahre früher über den Wissensbegriff nachgedacht und wäre mir damals obiges Gedankenexperiment eingefallen, wäre ich wie Gettier berühmt geworden.“ handelt es sich nicht um ein Gedankenexperiment, sondern um nutzloses hypothetisches Räsonieren. In einem Gedankenexperiment werden kontrolliert erzeugte kontrafaktische (das heißt: der Wirklichkeit nicht entsprechende) Umstände gezielten Variationen unterworfen, um die Grenzen unserer Vorstellungen von der Welt auszuloten.
Etwas sehr Ähnliches geschieht in Computersimulationen. So hat der Politologe Robert Axelrod in den 1980er Jahren virtuelle Agenten in Turnieren mit unterschiedlichen Strategien gegen einander antreten lassen. Der überraschende Befund: Die denkbar einfachste Strategie, TIT FOR TAT („Wie du mir so ich dir“), ist in solchen Computerturnieren auf lange Sicht die erfolgreichste und kann sich auch gegen mathematisch ausgeklügelte Konkurrenzstrategien durchsetzen. Ein weiterer Pionier auf diesem Gebiet, Thomas Schlesinger, hat schon in den 1970er Jahren anhand von Computersimulationen gezeigt, dass sich auch tolerante Individuen sozial voneinander abrenzen, und hat damit einen Erklärungsansatz für das Problem der Ghettoisierung geliefert.
Ein Gedankenexperiment ist ein Entwurf von zumeist radikal von der Wirklichkeit abweichenden, hypothetischen Szenarien in Gedanken. In Gedankenexperimenten werden Begriffe, Hypothesen und Theorien auf ihre Anwendungsgrenzen hin überprüft.
Die hier angeführten Beispiele für Gedankenexperimente und Computersimulationen zeigen, dass wir Wissen über die Welt durch Nachdenken darüber und Analyse dessen erwerben können, wie die Welt gerade nicht beschaffen ist.
Warum diese quasi-experimentellen Methoden funktioneren, das heißt verlässliche und auch in die Praxis umsetzbare Erkenntnisse liefern, ist derzeit Gegenstand der wissenschaftstheoretischen Forschung. Solche Untersuchungen nennt man dann meta-methodisch oder methodologisch.
Eine Hypothese ist, dass quasi-experimentelle Methoden dann verlässliches Wissen generieren, wenn sie mit robusten Modellen arbeiten. Gedanken- und Computermodelle gelten dann als robust, wenn sie alle für das Verhalten eines Systems relevanten Variablen in einer Weise berücksichtigen, dass es bei einer Änderung von Randbedingungen zu keinem wesentlich abweichenden Systemverhalten kommt. Klimamodelle etwa gelten dann als robust, wenn sie die Entwicklung des Erdklimas zutreffend abbilden, obwohl sie nicht jede mögliche Einflussgröße, wie zum Beispiel lokale Wassertemperaturen, berücksichtigen.
Für ein ganz anderes theoretisches Konzept der Wissensproduktion in der Wissensgesellschaft steht der soziologische Begriff „Realexperiment“. Wenden sich quasi-experimentelle Methoden dem Bereich des Fiktiven zu, so stellen Realexperimente gewissermaßen Experimente im gesellschaftlichen Maßstab dar. Ein Beispiel dafür ist jede Einführung eines neuen Produktes, das von gezielten PR-Maßnahmen begleitet wird, deren Ergebnisse wiederum durch Marktforscher ausgewertet werden. Auch Zulassungsverfahren für neue Medikamente sind Realexperimente: Zunächst wird ein neues Mittel in klinischen Studien an Versuchspersonen getestet, schließlich wird jedoch die Gesamtbevölkerung zur „Kontrollgruppe“.
Quasi-Experiment meint hier eine Sammelbzeichnung für Gedankenexperimente und (Computer-) Simulationen. In Quasi-Experimenten werden genauso wie im Experiment unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedingungen Versuche durchgeführt – allerdings an selbst erzeugten, nicht-natürlichen Phänomenen.
Ganz ähnlich wie beim Laborexperiment werden bei Realexperimenten allmählich die Einflussgrößen justiert und die Störgrößen ausgeschaltet. Nur geschieht das eben nicht unter isolierten Laborbedingungen, sondern in der Realität. Verschiedene Schulmodelle können ebenso wie der Betrieb komplexer technischer Großanlagen nur bedingt zuvor in vitro („im Reagenzglas“) getestet werden. Aussagekräftige Erfahrungen und Optimierungsmöglichkeiten ergeben sich vielmehr erst im realen Betrieb. Unter diesem Blickwinkel stellt etwa ein Kernkraftwerk das größte anzunehmende Realexperiment dar, wie Wolfgang Krohn und Peter Weingart in den 1980er Jahren treffend formuliert haben.
Die Tschernobyl-Katastrophe hat gezeigt, dass Realexperimente auch schiefgehen können; die Folgen sind dann meist verheerend. Das gilt für die Kernkraft ebenso wie für die Bildungspolitik und auch für wirtschaftliche Investitionen. Die Wirtschaftswissenschaften etwa sind daher Vorreiter im Einsatz von Modellversuchen, die sich die Rechenleistung des Computers zunutze machen. Sie benutzen damit ein quasi-experimentelles Verfahren, durch das von der Forschung ausgehende Risiken für den Unternehmer sowie für die Gesellschaft minimiert werden können.
Der Terminus ,Real-
experiment‘ ist ein soziologischer Begriff, der in den 1980er Jahren von dem Bielefelder Soziologen Wolfgang Krohn zur Beschreibung gesellschaftlicher Handlungsstrategien vor dem Hintergrund unzureichenden Wissens geprägt wurde. Realexperimente führt die Gesellschaft an und mit sich selbst jenseits einer kontrollierbaren Laborsituation aus.
Einerseits reduzieren Quasi-Experimente also gesellschaftliche Gefahren, indem das Versuchsarrangement dorthin zurück verlegt wird, wo Francis Bacon im 17. Jahrhundert es aus eben diesem Grund angesiedelt wissen wollte: in wissenschaftliche, von der Gesellschaft isolierte Labore. Andererseits wird wissenschaftlicher Forschung aber auch die Deutungshoheit zurückgegeben, die sie seit Bacon im Zuge der Verwissenschaftlichung weiter Gesellschaftsteile eingebüßt hat. Denn in Zeiten von Google und Wikipedia scheint Wissen für jedermann, zu jeder Zeit und jedem Thema möglich. Doch nicht jeder kann beurteilen, ob seine hypothetischen Überlegungen ein Gedankenexperiment darstellen, und nicht jeder kann Computermodelle validieren.
Realexperimente machen indes auf ein zentrales Charakteristikum der Wissensgesellschaft aufmerksam: Neues Wissen lässt immer auch Nicht-Wissen erkennen, und die Anwendung von Wissen erzeugt neue Unsicherheiten, mit denen die Wissensgesellschaft umgehen muss. Sie tut das einerseits, indem sie Realexperimente wie die oben beschriebenen anstellt, und andererseits, indem sie in Gedankenexperimenten und Computersimulationen quasi-experimentell vorgeht.
Links zum Thema
- Edmund Gettiers Widerlegung der Standard-Wissensdefinition im Jahr 1963.
- Ein soziales Gedankenexperiment zu den Folgen einer steigenden Lebenserwartung.
- Projektseite zum Realexperiment des Bielefelder Soziologen Wolfgang Krohn.
- Seite des Politologen und Pioniers im Einsatz von Computersimulationen in den Sozialwissenschaften, Robert Axelrod.
- „Wer nicht surft bleibt dumm?“: Sciencegarden-Beitrag (10/05) von Martin Schöb über das Für und Wider der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Zur Person
Tobias Knobloch, Studienpreisträger 2006, studierte Latein und Philosophie in Bochum. Seit 2005 ist er Mitglied des Graduiertenkollegs „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Sprachanalytische Philosophie und Politische Philosophie.
Literatur
- Daniel Cohnitz (2006): Gedankenexperimente in der Philosophie. Paderborn.
- Matthias Groß u.a. (2005): Realexperimente – Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld.
- Bruno Heller (2005): Wie entsteht Wissen? Darmstadt.
- Ulf von Rauchhaupt (2005): Wittgensteins Klarinette – Gegenwart und Zukunft des Wissens. Berlin.
- Peter Weingart (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist.