Bohème 2.0

Holm Friebe und Sascha LoboHolm Friebe und Sascha Lobo sind mit ihrem Buch „Wir nennen es Arbeit“ in aller Munde – zu Unrecht.

Inhaltsleere Begriffe verbreiten sich mitunter genauso schnell wie gehaltvolle. Das ist einfach eine Sache effektiver Vermarktung. Für einen Kommentator des Online-Magazins „Phlow“ sind Holm Friebe und Sascha Lobo, die Erfinder der ‚digitalen Bohème‘, ein Paradebeispiel für geschicktes Ego-Marketing. Daran allein liegt es aber wohl kaum, dass die beiden Autoren von „Wir nennen es Arbeit“ im vergangenen halben Jahr von Talkshow zu Interviewtermin getingelt sind und ihr Buch in – sei es konventionellen oder virtuellen (digital, digital!) – Publikationen landauf, landab mehr abgefeiert denn besprochen wurde. Sie haben auf dem blauen Sofa der Frankfurter Buchmesse Platz genommen, im Radio gesprochen und Zeitungsinterviews gegeben. Was also ist dran an den Thesen der beiden selbsterkorenen Bohèmiens unserer Tage?

Holm Friebe/Sascha Lobo (2006): Wir nennen es Arbeit.Nicht so viel, wie durch die Rezeption suggeriert wird, lautet die lakonische Antwort. Denn in „Wir nennen es Arbeit“ stößt der durch das ganze mediale Bohei aufmerksam gewordene Leser nicht etwa auf starke Thesen im Sinne von Erklärungsversuchen oder Lösungsangeboten. Geboten werden vielmehr relativ unstrittige Beschreibungsansätze unter Verwendung einer eigenwilligen Terminologie. Was der Leser damit anfängt, überlassen die Autoren zum größten Teil ihm selbst. Dort, wo sie unmissverständlich eigene Schlüsse aus ihrem „Start-up-Ratgeber“ (Deutschlandradio am 12.10.06) ziehen, schießen sie schnell übers Ziel hinaus.

Dabei ist das Buch hochinformativ und ein Muss für alle, die früher oder später mit Hilfe des Weltnetzes auf eigene Faust geschäftstätig werden wollen – so genannte ‚Minipreneure‘. Was Friebe/Lobo aus ihrer eigenen Erfahrung als freischwebende Intelligenz-Agenten und erfolgreiche Weblog-Betreiber über das ökonomische Funktionieren der verlinkten Digitalwelt zu berichten haben, ist fundiert, wohlinformiert und in der dargebotenen Prägnanz sogar unterhaltsam. Der Leser fühlt sich so gut informiert, dass er zum Stift greifen und sich die vielen interessanten Links herausschreiben möchte, um ihnen bei Gelegenheit zu folgen und sich sein eigenes Bild von der virtuellen Mikroökonomie zu machen.

Doch dann erinnert er sich an das Vorwort. Dort heißt es, dass eine zum Buch gehörige Internetseite direkt zu all den aus dem Netz herangezogenen Quellen führt, „weil wir (Friebe und Lobo) es für altmodisch und albern halten, einen langen URL-Pfad von Hand abzutippen“. Gut, sagt sich der aufmerksame Leser und liest, um eine mühsame Arbeit erleichtert, ohne Stift in der Hand weiter. Ein späterer Besuch auf der Seite wirnennenesarbeit.de macht aber deutlich, dass er sich dieser doch besser unterzogen hätte.
Die Rubrik „Links und Literatur“ auf der Internetseite ist nämlich tatsächlich keine Linksammlung, sondern nur ein Verzeichnis der elektronisch zugänglichen inhaltlichen Quellen der Autoren. Ernüchterung. Wie lautete noch mal die Adresse dieser englischen Retortenband, wie die Adresse der größten Blogsuchmaschine?

Mit Bohème wird eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die auf eine unangepasst schillernde Art leben und dabei gesellschaftliche Konventionen gering schätzen.
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Man muss sich jedoch keineswegs auf derlei Mängel beschränken, um das vielfach gefeierte „Wir nennen es Arbeit“ zu kritisieren. Besonders die Beschreibung einer schönen neuen Arbeitswelt „als Gegenentwurf zu Neoliberalismus und neuer Bürgerlichkeit“ (Vorrede) fordert dazu heraus. Nicht nur, dass hier vollmundig in einen Topf geworfen wird, was höchstens als pappkameradschaftliches Feindbild taugt, in Wahrheit aber nicht das Geringste miteinander zu tun hat. Dass sich die Arbeitswelt drastisch gewandelt hat, ist kein neuer Befund, sondern wird seit gut zwei Jahrzehnten diskutiert. Doch genau jetzt, im Zeitalter eines schnellen, beinahe überall (in westlichen Industriestaaten) verfügbaren und durch das Abschmieren der New Economy gehörig demokratisierten Internet, Version 2.0, ist es laut Friebe/Lobo an der Zeit, von einem neuen Arbeitstyp zu sprechen.

Mit dieser Art zu arbeiten untrennbar verkoppelt sei eine Lebenshaltung, die auf der einen Seite von Unsicherheit und materieller Unterversorgung geprägt, auf der anderen Seite dafür aber kreativ, individuell, hedonistisch und grenzenlos frei zu nennen sei. Nun kann von Unsicherheit und materieller Not im Falle der beiden Erfolgsautoren längst nicht mehr die Rede sein. Für „die Abschaffung des Personalchefs im Kopf“ einzutreten, sich dem Einreichen schriftlicher Bewerbungen zu verweigern, um sich stattdessen auf die aufgebauten Respekt-Netzwerke zu verlassen, fällt natürlich leichter mit dem entsprechenden Erfolg im Rücken. Nicht dass sie sich den nicht durch ihren Einsatz, ihre Kreativität und Begabungen verdient hätten. Aber es gibt sicher den ein oder anderen freischwebenden digitalen Alleinunternehmer, der sich wünscht, dass irgendein Konzern eine Stelle mit genau seinem Profil schafft, statt immer nur in Projekten mit ihm zusammenzuarbeiten. Weil er auch mal krank sein können und trotzdem Geld bekommen möchte. Weil er mal am Wochenende Fußball spielen gehen möchte. Weil er einfach nicht mehr kann, die Luft raus ist.

Minipreneur: Von Trendforschern ins Leben gerufene Bezeichnung für Menschen, die mit Hilfe moderner Informationstechnologien von reinen Konsumenten zu Kleinstunternehmern werden..
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Junge kreative Menschen, die Friebe/Lobo in mancher Hinsicht ähneln, jedoch materiell schlechter gestellt sind, ziehen dann auch ganz andere Schlüsse. So hat Zitty-Chefredakteurin Mercedes Bunz ihre eigene Armut unlängst angekotzt, wie sie in Ausgabe 4/2006 – zugegeben etwas larmoyant – offenbarte. Ex-Lassie Singers-Musikerin Britta fragt auf ihrem vierten Soloalbum selbstkritisch, ob das, was sie da lebt, „noch Bohème oder schon die Unterschicht“ ist. Aber auch für das ökonomisch erfolgreiche Duo Friebe/Lobo lässt sich die Frage, ob sie zu der von ihnen selbst beschriebenen neuen Bohème zählen, keineswegs einfach beantworten.
Dadurch dass sie bohèmeartig leben und Geld haben, befinden sie sich in einem Dilemma, das sie selbst im zweiten Kapitel ihres Buches beschreiben: Professionalisierung, kommerzieller Erfolg und Bohème-Lebensgefühl lassen sich nur schwer miteinander in Einklang bringen. In gewisser Weise schließen sie sich wechselseitig aus.

Die Autoren des Erfolgsbuches erkennen die Begrenztheit ihres eigenen Lebensstils nicht, überschätzen ihn in seiner Bedeutung und verklären ihn gar als Chance zur Befreiung einer von Praktikantendasein, Hartz IV und Neuer Bürgerlichkeit gebeutelten Generation. Darauf angesprochen, verwiesen die Autoren gegenüber dem Spiegel (43/2006) auf die Machtverschiebung zwischen Großkonzernen und Nutzern durch das Internet und sagten: „Wir möchten den Menschen Mut machen.“ Mut zur Selbstausbeutung. Keine Freizeit, keine Hobbys, alles Tun ist potenziell vermarktbar. Ständig unter Strom, auch, ach was: gerade im Café. Schließlich könnte jedes Gespräch ein Geschäftsgespräch sein.

Das ist kein Gegenentwurf zum Neoliberalismus, das ist Neoliberalismus pur, in einer weiteren der dieser Tage so gerne beschworenen Versionen 2.0, ein ‚Bohème-Neoliberalismus‘ gewissermaßen. Dessen allumfassende Flexibilitätsanforderung hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett unlängst als Implementierung eines neuen, subtileren und höchst erfolgreichen Machtsystems entlarvt. Jeder Medienkonzernchef, jeder Inhaber einer Beratungsfirma, Werbe- oder Marketingklitsche müsste den beiden Berliner Bohemiens ihr Buch mit einer monatlichen finanziellen Zuwendung danken, hätten sie sie nötig. Denn Friebe/Lobo haben nicht weniger als das Manifest eines neuen Neoliberalismus geschrieben. Freiheit herrscht in diesem digitalen Neoliberalismus nur, sofern produziert wird. ‚Kreativaktionismus‘ ist das Gebot der Stunde. Nur wer auch mal wirklich freie Zeit haben, wer die Länge einer Weile zu spüren bekommen möchte, der ist hier schlecht aufgehoben. Auch Menschen, bei denen es nicht so schnell geht.

Davon abgesehen versäumen Friebe/Lobo es zu zeigen, worin die gesellschaftliche Relevanz des von ihnen beschriebenen Arbeits- und Lebensstils und des darauf geklebten Labels ‚digitale Bohème‘ besteht. Obwohl sie kein „Berlin-Buch“ geschrieben haben wollen, wie sie in der Vorrede versichern, suchen und finden sie ihre Beispiele vornehmlich am Prenzlauer Berg, ihrem Lebensumfeld. Das ist legitim, aber Berlin ist nicht Deutschland, genauso wenig wie Paris Frankreich angemessen repräsentiert oder New York die Vereinigten Staaten. In solchen Ballungszentren ist vieles möglich, was in der Fläche undenkbar ist.

Das Thema gesamtgesellschaftliche Relevanz lässt die Asymmetrie zwischen medialer Aufnahme und tatsächlicher Bedeutung des Buches deutlich zu Tage treten. Das Phänomen digitale Bohème erfasst nur die Lebensumstände eines kleinen Gesellschaftsteils. Die breite Masse interessiert, ob der Job bleibt und ob es für die Kleine einen Krippenplatz gibt, damit die Frau wieder in ihren Beruf einsteigen kann. Die Zeit, in der ihr Kind betreut wird, braucht sie dafür ohnehin, ob sie nun als Freelancer oder als Angestellte wieder ins Berufsleben einsteigen will. Entweder man kann sich mit den Umständen der neuen Arbeitswelt einigermaßen arrangieren oder man hat Schwierigkeiten damit. Das Label ‚digitale Bohème’ hilft hier nicht wirklich weiter.
Weder werden Straßen digital von Alleindienstleistern gebaut noch das Waschmittel auf diese Weise im Supermarkt platziert. Solche Arbeiten werden nach wie vor von Menschen in – mehr oder weniger prekären – Festanstellungen verrichtet. Gerade für diesen Bereich sind Visionen gefragt. Das System Festanstellung, das im digitalen Dienstleistungszeitalter zweifellos an Boden und Bedeutung verloren hat, als solches abzukanzeln, reicht hier längst nicht aus. Da muss mehr kommen, als nur den eigenen Lebensstil zu feiern.

Das ist den beiden Autoren am Ende ihres Buches selbst aufgefallen. Deshalb rudern sie dort eifrig zurück, versuchen zu retten, was es nach all den uneingelösten Versprechungen vom Anfang noch zu retten gibt. „Mit 35 lässt sich sehr gut von der Hand in den Mund leben, mit 75 wird das zum Problem, wenn man nicht mehr in der Lage ist, an einem wie auch immer gearteten Markt teilzunehmen. Auch hieran zeigt sich, dass die digitale Bohème kein Gesellschaftsmodell sein kann, sondern ein Lebens- und Arbeitsmodell für einen Teil der Gesellschaft.“ (Kap.11)

Als Lösung für den Rest der Gesellschaft, der für Bohème nicht hipp genug oder nicht gut genug ausgebildet ist, schließen sich die Autoren auf den letzten zwei (!) Seiten dem Ansatz der „Neuen Arbeit“ des Philosophen Frithjof Bergmann – einer teilweisen Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft – an. Na fein: Friebe/Lobo sitzen an ihrem Laptop, derweil ich für mich und die Meinen die Scholle breche. Was für eine famose Zukunft!

Beitrag von Tobias Knobloch

Links zum Thema

  • Die Internetseite zum Buch: Links, Aktualisierungen, neue Gedanken.
  • Mit dem Grimme Online Award prämiertes Weblog der Autoren Friebe/Lobo.
  • Zusammenschluss freier Kreativer zu einer virtuellen Agentur, die reale Dienstleistungen anbietet; gegründet u.a. von Holm Friebe.
  • Forschungsbericht „Flexible Wissensarbeit“ von Sigrid Betzelt, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. (PDF)

Zur Person

Tobias Knobloch, Studienpreisträger 2006, studierte Latein und Philosophie in Bochum. Seit 2005 ist er Mitglied des Graduiertenkollegs „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Sprachanalytische Philosophie und Politische Philosophie.

Literatur

  • Holm Friebe/Sascha Lobo (2006): Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. München.
  • Doris Rothauer (2005): Kreativität & Kapital. Wien.
  • Richard Florida (2002): The Rise of the Creative Class. New York.
  • Richard Sennett (2000) Der flexible Mensch. München.

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Themen: Arbeitswelt | Karriere | Web 2.0
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