Reine Zeitverschwendung

„Alles espresso“Der bekannte Zeitforscher und Essayist Karlheinz A. Geißler hat ein Buch über die kleinen Helden der Alltagsbeschleunigung geschrieben – und damit die Verbiedermeierung der Tempokritik eingeläutet.

Er ist im wahrsten Sinn des Worts ein Zeitgenosse. Karlheinz A. Geißler hat die Zeit und unseren eigentümlichen Umgang mit ihr „zu seinem Lebensthema gemacht“. So heißt es treffend im Klappentext seines neuesten Buches Alles espresso über die kleinen Helden der Alltagsbeschleunigung, das unlängst im Hirzelverlag für 24 Euro in schöner Ausstattung erschienen ist. Und in der Tat bezeugt eine lange Liste an Monographien Geißlers intensive Forscherleidenschaft für eine der rätselhaftesten „Erfindungen“ der Menschheitsgeschichte. Einem größeren Publikum ist er zudem durch zahlreiche Interviews und Zeitungsartikel bekannt. Regelmäßig trommelt er an der renommierten Evangelischen Akademie in Tutzing gemeinsam mit namhaften Mitstreitern für eine Ökologie der Zeit, neudeutsch: für mehr Entschleunigung. Und er lebt sie. Statt dem Ruf auf Lehrstühle großer Universitäten zu folgen, hat sich der Pädagoge, der eigentlich Betriebswirtschaftler ist, an der Bundeswehrhochschule München eingerichtet, die ihn inzwischen emeritiert hat.

Karlheinz A. Geißler

Karlheinz A. Geißler

Dass er sich Zeit für die Zeit genommen hat, statt die ganz steile Karriereleiter hinaufzuhecheln, merkt man seinen originellen Schriften durchaus an. Etwa dem besinnlichen Schmöker Zeit oder der sozialkritischen Schrift Es muss in diesem Leben mehr als Eile geben. Mit Sachkenntnis, souveränem Sprachgefühl und einer saftigen Portion Ironie fühlt Geißler der Highspeed-Gesellschaft und ihrer neurotischen Liebe zum Tempomachen den hektischen Puls. Genregrenzen scheut er dabei nicht. Zwischen historisch fundierte Betrachtungen über die Entstehung des Zeitregimes im Mittelalter und genüssliche Demontagen der postmodernen Zeitmanagementmanie flicht Geißler immer wieder poetische Verschnaufpausen ein, die seine Leser zum Innehalten einladen – frei nach Goethe: „Zeit, verweile doch, du bist so schön“.

Auf die Lektüre von „Alles espresso“ trifft das leider gar nicht zu. Dabei ist die Grundidee, das große Ganze auf das alltäglich Kleine abzubilden, die allgemeine Hektik und das rigide Effizienzdenken auf Fastfood und E-Mails, gar nicht übel.
Geißlers These lautet: Es sind in erster Linie die kleinen Dinge, die das Tempo des Lebens bestimmen. Wer wissen wolle, warum wir in einer Beschleunigungs-Gesellschaft leben, solle „zuallererst auf die »beiläufigen Phänomene« der Beschleunigung und unseren Umgang mit ihnen schauen.“ (S. 14) Auf Teebeutel also und Reißverschlüsse, auf Fernsteuerung, Espresso, Instantsuppen und – natürlich – Computer. Sie alle drücken uns, so Geißler, ihr hohes Eigentempo auf und verführen uns zur Eile. Ihretwegen gehen und essen wir schneller, hetzen und verfransen wir uns.

Dass Laptop und Mobiltelefon, Speed-Dating und Turbo-Abi für eine nicht unerhebliche Beschleunigung des täglichen Lebens sorgen, ist zweifellos richtig beobachtet. Es stimmt auch, dass sich mit dem Papiertaschentuch heute kaum mehr so elegant um eine Frau werben lässt wie in der guten alten Zeit mit einem Stück festen, mit „reichen Stickereien“ veredelten Stoff (S. 31). Doch es ist geradezu grotesk, wie unempfindlich sich der Autor durchweg gegenüber Paradoxien und Ambivalenzen zeigt und wie sehr sein ansonsten so produktiver Hang zu Übertreibungen und Zuspitzung dieses Mal verunglückt ist.

Schon der Buchtitel ist gründlich daneben gegangen. Schließlich wird Espresso* mitnichten von Express, sondern vom italienischen „espressivo“ (ausdrücklich) abgeleitet – was Geißler explizit bemerkt. Warum der Espresso dann allerdings als herausragendes Beispiel spätmoderner Beschleunigungskultur herhalten muss, bleibt allein sein Geheimnis. Wer jemals eine italienische Espressobar aufgesucht hat, wird jedenfalls auch ganz andere Assoziationen haben.

Nicht weniger abstrus mutet die Behauptung an, moderne Menschen fühlten sich „eher auf der Autobahn als in ihren Wohnzimmern“ zu Hause (S. 13). Wer, außer ein paar Formel 1-Freaks, würde dem wohl zustimmen? Und was soll man davon halten, wenn Geißler kurzschlussartig Instant-Kaffee mit Blitz-Krieg vermischt (S. 45f.)? Oder – Kulturpessimismus at it’s worst – ganz nebenbei bemerkt, mehr Schnelligkeit ließe sich generell (!) „nur um den Preis größerer Unsicherheit und Einsamkeit erzielen“? (S. 98) Wahrscheinlich wäscht Geißler seine Hemden deshalb auch noch von Hand. Wie seinerzeit die nimmermüde Hausfrau, die vor der Erfindung der Waschmaschine, die bei Geißler bezeichnenderweise gar nicht vorkommt, rund eine Woche pro Monat am Waschbrett verbrachte – ein Hoch auf die Geselligkeit!

Auch mit den Fakten ist es bei Geißler nicht immer gut bestellt. So verdanken wir das Internet keineswegs, wie im Buch (S. 46) nahegelegt, der Tempo-Kultur, deren Motto nach Geißler „Alles, jederzeit und sofort“ lautet. Sondern strategisch-militärischen Überlegungen, bei denen es keineswegs primär um Schnelligkeit ging, sondern um möglichst große Stabilität und Sicherheit im Ernstfall. Und die traditionelle Kaffeehauskultur ist sicher nicht, wie es eine Seite später heißt, mit „dem Siegeszug des Coffee-to-go“ zu Ende gegangen (kurioserweise scheint sie im Schlepptau von Starbucks gerade wieder aufzublühen).

Der gesellschaftliche Trend zu mehr Geselligkeit, Entschleunigung und handgemachten, möglichst ökologisch korrekten Produkten – Slow Food, Manufactum etc. – kommt bei Geißler gar nicht vor. Da stutzt man schon: Wie bringt es einer fertig, den Teebeutel als Alltagsbeschleuniger schlecht zu machen und gleichzeitig das Dutzend Teeläden zu ignorieren, an denen er in jeder größeren deutschen Innenstadt vorbeiläuft. Kaufen da etwa alle nur Fixmille?

Kurz aufgebrüht wirkt hingegen vieles, was Geißler seinen Lesern auf gut 160 Seiten serviert. Man hat es, so oder ähnlich, in seinen älteren Büchern schon gelesen. Oder sogar ganz woanders. So scheint beispielsweise der „Simultant“, Geißlers Name für den postmodernen Multitasker, der am Computer frühstückt, nebenbei telefoniert und sein Kind wickelt, ein Wiedergänger des „Simultanspielers“ zu sein, den der Philosoph Günther Anders (1902-92) bereits vor fünfzig Jahren in amerikanischen Freizeitparks ausmachte.

So ist „Alles espresso“ eine ziemlich schwachbrüstige Schmähschrift geworden, in der der Tempokritiker vor allem mit sich selbst spricht. Und mit denen, die an der guten alten – langsameren und selbstverständlich mußevolleren – Zeit hängen. Für diese Zielgruppe betreibt Geißler die ultimative Verbiedermeierung der Beschleunigungskritik, von Goethe (dem alten natürlich) posthum sanktioniert: „Die Jugend verschlingt nur, dann sauset sie fort.“ (S. 74) Von den schlechten Manieren (S. 73) ganz zu schweigen…

Als zeit- und gesellschaftskritische Lektüre taugt Geißlers Buch wenig. Das mag auch nicht sein Anspruch sein. Trotzdem ist es bedauerlich, wie leichtfertig der renommierte Zeitforscher die Chance vertan hat, gerade an den kleinen Dingen des Alltags exemplarisch zu zeigen, auf welche Vielschichtigkeit jede sensible Zeit-Analyse der Beschleunigungsgesellschaft stoßen muss. Dass nämlich mitnichten Handys und Mixer, Tütensuppen und Tempotaschentücher für die urbane Hektik der Spätmoderne hauptverantwortlich sind – schließlich ersparen sie uns vor allem eine Menge Zeit –, sondern ein Wirtschaftssystem und die dazu gehörige Effizienzkultur, die jede freie Zeitpore im Namen der Produktivitätssteigerung möglichst rasch wieder verschließen.
So aber möchte man dieses Buch vor allem möglichst schnell wieder weglegen. Es ist – pardon – reine Zeitverschwendung.

Beitrag von Christian Dries
Bildquellen der Reihe nach: C.Dries | edition Köber-Stiftung

Links zum Thema

  • „Wer das ganze Leben leben will, ertrinkt in Hetze“. Interview mit Karlhein A. Geißler in der Süddeutschen Zeitung
  • Zum Tutzinger Projekt „Ökologie der Zeit“
  • Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik
  • Sein ohne Zeit. Ein Tagungsbericht

Zur Person

Christian Dries promoviert an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist Chefredakteur dieses Magazins. Mit einem Wettbewerbsbeitrag zum Thema Beschleunigung hat er 2003 den Deutschen Studienpreis gewonnen.

Literatur

  • Karlheinz A. Geißler (2007): Alles espresso. Kleine Helden der Alltagsbeschleunigung. Stuttgart.

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