from stone to cloud
“Kassel ist hässlich“ sagt mir Sebastian, den ich an der Tram-Haltestelle treffe. Ich habe ihn Jahre nicht gesehen, es hat ihn an die Uni Kassel verschlagen. Wir halten informativen Smalltalk, überqueren die Straße und stehen schnell mitten in einem Mohnfeld, das Sanja Ivekovic angelegt hat. Lila Schlafmohn und roter Klatschmohn blühen, fasziniert bedienen die Besucher ihre Digitalkameras. Nicht gerade zu meiner Freude darf auf der Documenta fotografiert werden. Warum bloß?
Wir sind mit der Linie 1 bis zum Rathaus gefahren, um festzustellen, dass Kassel ohne die Documenta etwas ist, wo man auch Feinde nicht hinwünscht. Ausgesucht hässlich sind die Straßen, die Architektur und die Bewohner – die Leute in unserem Alter sehen aus, als bevölkerten sie hauptberuflich El Arenal. In den Kneipen schauen sich Kassler und Documenta-Besucher etwas irritiert, auch belustigt an. Im Mohnfeld vor dem schönen Fredericianum spielt das keine Rolle, man taucht in eine andere Welt ein, sobald man auf Kunst-Boden steht. Das Mohnfeld reißt gleich alle Diskurse zugleich an: “Mohn und Gedächtnis“ hieß der Gedichtband von Paul Celan in den 60er Jahren. Mohn wird von den alten Griechen als die Blume des Schlafes, des Todes und des Vergessens betrachtet. Die Opiumbauer in Kolumbien und Afghanistan leben von ihr. Drogen inspirierten die Kunst. Auf dem Friedrichsplatz, auf dem das Mohnfeld angelegt ist, zelebrierten die Nazis die Bücherverbrennung und Joseph Beuys pflanzte die erste von 7000 Eichen . Und all das muss man gar nicht wissen: Die Mohnblüten und -blätter sind einfach unglaublich schön und fragil.
Rechts vom Feld liegt das Fridericianum; der Regisseur Volker Schlöndorff steht im ersten Raum und schaut auf die Monitore, auf denen Sequenzen der Fußball-WM laufen und deren technische Bearbeitung. Die Tonspuren sind überblendet, technische Anweisungen der Bildtechniker hinter der gewöhnlichen Übertragung sind zu hören. Ich erinnere mich an dieses Hochgefühl der Fußball WM, aber kann hier auch beobachten, wie technisch es erzeugt wurde. Medienerfahrungen sind programmierte Erfahrungen.
Schon im zweiten Raum setze ich mich auf einen chinesischen Holzstuhl aus der Qing-Dynastie, die Al Weiwei für eine Performance an allen Standorten aufgestellt hat. Er hat sie gesammelt und restauriert und versteht sie als Hommage an die Brüder Grimm, die im Kassler Exil ab 1812 die Hausmärchen aufschrieben. Es sind insgesamt 1001 Stühle für 1001 Chinesen, die zur Documenta eingeflogen werden. Sitzen die nicht gerade auf den Stühlen, darf jeder auf ihnen Platz nehmen.
Ich beobachte die Besucher ebenso genau wie die Kunstwerke. Zum einen sind die Menschen hier interessant, oft sympathisch und manchmal eigenartig. Sie kommen von überall und ich höre bald auf, die verschiedenen Sprachen zu zählen. Die Besucher sind nicht so exzentrisch wie ich dachte, aber doch insgesamt eine “Documenta-Crowd“ (was vor allem in einer Stadt wie Kassel auffällt). Das besondere an dieser Ausstellung ohne eindeutiges Thema und ohne zu enges Motto ist für mich vor allem: ich kenne keinen der ausstellenden Künstler(innen). Ich suche keine Antwort auf vorgegebene Themen. Nichts zu erwarten und nichts zu planen ist ein gutes Gefühl: Ich lasse mich einfach überraschen. Über Konzepte und Theorien denke ich erst nach, wenn ich wieder zu Hause bin.
Anatoly Osmolovsky zum Beispiel beeindruckt mich sehr. Er hat in Bronze Skulpturen gegossen, die formal zehn kriegserprobten Panzern gleichen. Man erkennt sie nicht sofort, viele erkennen gar nichts, aber ich bin schlagartig zurück in meine Kindheit versetzt. Die habe ich nämlich, außer mit Lego und Nina Hagen-Kassetten, auch mit Modellbau-Panzern verbracht. Ich erkenne also den Leopard II sofort, auch wenn die Form abstrahiert ist. Auch den russischen und den englischen Tank erkenne ich. Meine Frau schaut mich ungläubig an. Da mag zwar ein eitler Kunstliebhaber neben mir laut ausrufen “ach, der Osmolovsky“, als er das Schild am Kunstwerk sieht – ich habe den Namen nicht einmal gehört bisher – aber, im Gegensatz zum Kunstkenner erkenne ich mit verlässlich militanter 70er-Jahre Kindheit jeden Panzer!
Etwas angewidert, aber auch fasziniert stehen Leute vor einem Flachbildschirm, der ein Video von Tseng Yu-Chin zeigt. Eine Mutter und ihr hübscher vierjähriger Sohn sitzen auf einem flachen Futon. Die Mutter küsst und zärtelt den Jungen, der sich gern dem Schmusen fügt. Aber nur einige Minuten, danach will er nicht mehr. Die Mutter hört aber nicht auf damit und fordert ihn verbal, aber auch immer wieder tätlich auf, sich küssen zu lassen und Küsse zu geben. Der Junge wehrt sich zunehmend, das Spiel zieht sich endlos. Dem Zuschauer (und vor allem mir) stehen die Haare zu Berge. Schaut man dort gewalttätiger Liebe zu, von der im Zweifelsfall immer gesagt werden könnte: eine zärtliche Mutter? Wissenschaftler haben unlängst das maßlose Verwöhnen von Kindern als “Kindesmisshandlung“ tituliert.
Die Tram bringt einen bis zum Schloss Wilhelmshöhe; in die Sammlung von alten Meistern (Rubens, Rembrand, Stilleben) hat man Videoinstallationen und Bilder der Documenta gehangen. In den Videos afrikanische oder orientalische Szenarien gezeigt, Musik und Tanz, eigenartige Dialoge, die einen vor den Projektionswänden gefangen halten. Den Rhythmen kann ich mich kaum entziehen, den unerwarteten Bildern folge ich mit Spannung. Auch in anderen Räumen begleiten einen die Musik oder die Geräusche der Installationen. Im großen, opulenten Schlosspark – ein spätadeliges Idyll – findet eine russische Hochzeit statt. Auch sie könnte zur Documenta gehören, ist aber reales Leben. Eigentlich ist sie aber auch Fiktion und ich wünsche mir jetzt doch eine befreundete Fotografin herbei. Männer in weißen Anzügen und schwarzen Sonnenbrillen, die Assistentinnen der Braut in knallroten Abendkleidern. Nur die deutsche Fotografin ist auf die deutsche Art geschmacklos gekleidet, alles andere aber ist ganz großes Kino. Ästhetisch “drüber“, aber ein völlig konsistentes Gesamtbild, da alle Teilnehmer der Gesellschaft aussehen wie sie aussehen.
Saâdane Afif hat dreizehn schwarze Les Paul-Studiogitarren in einem Raum verteilt, an jeder häng ein Verstärker und Lautsprecher. Über den Seiten ist eine Scheibe montiert mit einem Plektrum, verschiedene Akkorde sind mit einer Klammer fixiert und Motoren treiben die Drehscheibe an. Aus immer anderen Ecken des Raums – Rebecca Horn lässt grüßen – klingen die aus der Ferne dirigierten Akkorde. Ich könnte mich in dieser Ecke des Auen-Pavillons auf den Bode legen und den ganzen Tag dem zufälligen und geheimnisvollen Spiel der Akkorde lauschen. So geht es vielen, die Leute gehen nur zögerlich weiter. Kinder laufen von Gitarre zu Gitarre, und finden doch die Regel nicht, nach denen sie betrieben werden. Die Partitur bleibt in den kleinen Motoren verborgen. Die Aufseher lächeln und beobachten die Besucher.
In der Neuen Galerie hat Mary Kelly ein Glashaus gebaut, beleuchtet und typographisch gestaltet, mit Zeilen aus “From Stone to Cloud“, einem Gedicht von Sylvia Plath (1960). Ohne so richtig eine Begründung zu finden, bin ich vom typographischen Spiel, vom Licht und vom Glas sehr eingenommen. Ich habe gerade “Im Glashaus“ von Sylvia Plath gelesen, zufällig und keineswegs als Vorbereitung – und das Kunstwerk von Mary Kelly geht mir nah; es visualisiert die Depression der Autorin.
Meine Frau hat Geburtstag und wir sitzen im Wintergarten des Hotels. Sie hat ihre “iD“ und die Zeitschriftenrarität “o32c“ ausgepackt, Geschenke für die Bahnfahrt. Ich schmiere Nutella auf mein Brötchen und hole dem Geburtstagskind eine Portion Erdbeeren mit Joghurt. Die Plätze draußen sind belegt, eine blonde Schönheit hat genau die Brille, die auch Lily, eine Freundin aus Bonn, trägt. Nein: um die Ecke, auf dem Weg zum Buffet, kommt uns Lily selbst (mit ihrer Mutter) entgegen und schaut uns an, als hätte sie zwei Geister gesehen. Überraschung, Freude, Smalltalk, Verabredung zum Nachtreffen in Bonn. “Woher kennt Ihr Euch?“, den einzigen sinnvollen Satz sagen nicht wir, sondern Lilys Mutter. Wir sind zu überrascht. Es ist fast schon Kunst: das gleiche Wochenende in Kassel zu sein und zufällig im gleichen Hotel zu übernachten und sich zur gleichen Zeit zum Frühstück zu treffen. Aber das eben passt zur Documenta selbst, die so viele Überraschungen, Irritationen und Erlebnissen bereit hält – eine Reise dorthin ist ein Ereignis, from stone to cloud.
Neueste Kommentare
vor 1 Woche 2 Tage
vor 2 Wochen 4 Tage
vor 7 Wochen 4 Tage
vor 9 Wochen 5 Tage
vor 10 Wochen 1 Tag
vor 10 Wochen 5 Tage
vor 10 Wochen 5 Tage
vor 27 Wochen 1 Tag
vor 27 Wochen 1 Tag
vor 27 Wochen 4 Tage