Die drei Staatshymnen des Herrn Michalkov

Lenin"So war es, so ist es, so wird es immer sein!" Neu klingen solche Überzeugungen in Russland nicht. Aber nicht nur deswegen birgt die neue russische Staatshymne Altbekanntes. Die Musik stammt von der sowjetischen Vorgängerin, und auch der Dichter hatte bereits Übung: Sergej Michalkov hatte schon zwei Textversionen der Sowjethymne geliefert. Sein letztes Werk, die russische Staatshymne, zeigt den größten Einfluss Orwellschen Neusprechs. 

Seit 1948 Orwells Roman "1984" erschienen war, in dem sich die regierende Kaste eines lexikalisch eingeschränkten Neusprechs mit verdrehten Wortbedeutungen bedient, versahen auch manche Forscher die Propagandasprache der Ostblockstaaten pauschal mit diesem Etikett. Der Slavist und Sprachwissenschaftler Daniel Weiss lieferte schließlich 1986 eine Definition von Newspeak und seiner Bestandteile: Neusprech ist ein Hyperstil, der bevorzugt den Duktus administrativer und journalistischer Texte überlagert.

Sergej Vladimirovitsch Michalkov
wurde 1913 in Moskau geboren. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Frontberichterstatter. Michalkov, Mitglied der KPdSU seit 1950, bekleidete mehrere Funktionärsposten; so gehörte er unter anderem der Kommission für die Verleihung des Stalinpreises an und wirkte als Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Kultur der UdSSR. Von 1970 bis 1992 war er Präsident des Schriftstellerverbandes der RSFSR. Seine beiden Söhne Andrej Kontschalowski und Nikita Michalkov sind bekannte Filmregisseure. Nikita Michalkov erhielt 1995 für seinen Film "Die Sonne, die uns täuscht", der sich mit dem staatlichen Terror in der Sowjetunion der 30er Jahre befasst, den Oscar für den besten ausländischen Film.

Zum Beispiel durch formelhafte Floskeln, die aufgrund der gleichen, untereinander austauschbaren Elemente vorhersagbar sind: So werden zum Beispiel die Substantive "Hilfe", "Freundschaft" oder "Solidarität" immer mit dem schmückenden Beiwort "brüderlich" versehen, und der Oberste Sowjet billigt einen Entschluss nicht einfach, sondern tut dies stets "einstimmig und vollständig". Um die Bedeutung ideologisch zentraler Begriffe, wie etwa den Kampf gegen den Kapitalismus, zu unterstreichen, werden ihnen Adjektive wie "entschlossen" oder "unabdingbar" vorangestellt. Gern wird auch zum Superlativ gegriffen – der Leninismus ist natürlich die "fortschrittlichste Lehre". Die Totalität und Beständigkeit des Sowjetsystems schließlich werden durch Adjektive wie "unveränderlich", oder "ewig" unterstrichen. Dem gleichen Ziel dienen Formulierungen, in denen ein Verb in verschiedenen Tempora auftritt. Berühmtes Beispiel ist die Losung Ленин –  жил, Ленин –  жив, Ленин –   будет жить! "Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben!"

Nun stellt sich heraus, dass der Neusprech ebenso in literarischen Texten auftreten kann, zum Beispiel in denen des linientreuen sowjetischen Dichters Sergej Michalkov. Der erhielt 1943 den Auftrag, den Text für eine Sowjethymne zu schreiben – übrigens für die erste, denn von 1922 bis 1943 erfüllte die Internationale diese Funktion.

Aufmunterung und Befeuerung des Kampfgeists waren 1943 bitter nötig. Nach der deutschen Kapitulation in Stalingrad konnte die Sowjetunion endlich Teile ihres Territoriums wieder zurückerobern. Das alles überlagernde Kriegsgeschehen spiegelt sich auch im Inhalt der Hymne wieder. So verweist die dritte Strophe konkret auf den deutschen Angriffskrieg, in dessen ersten Jahren die Rote Armee tatsächlich immer wieder überrannt wurde, während im Refrain die Sowjetflagge als Hoffnungszeichen dafür auftritt, dass die sich ab 1943 langsam einstellenden militärischen Erfolge zu einem allgemeinen Sieg führen. Historisch ist ebenso interessant, dass Russland in der ersten Strophe als Vereiniger und Primus inter pares der Sowjetrepubliken dargestellt wird, denn unter dem Georgier Stalin begann die anfangs schleichende Russifizierung der übrigen Ethnien.

Staatshymne der UdSSR 1944-1977

Russisch:

Союз нерушимый республик свободных
Сплотила навеки Великая Русь.
Да здравствует, созданный волей народов,
Единый, могучий Советский Союз!
Припев:
Славься, Отечество наше свободное,
Дружбы народов надежный оплот!
Знамя советское, знамя народное
Пусть от победы к победе ведет!

Сквозь грозы сияло нам солнце свободы,
И Ленин великий нам путь озарил.
Нас вырастил Сталин - на верность народу,
на труд и на подвиги нас вдохновил!
Припев.

Мы армию нашу растили в сраженьях,
Захватчиков подлых с дороги сметем!
Мы в битвах решаем судьбу поколений,
Мы к славе Отчизну свою поведем!
Припев.

Deutsch:

Von Rußland, dem großen, auf ewig verbündet,
Steht machtvoll der freien Republiken Bastion.
Es lebe, vom Willen der Völker gegründet,
Die einig‘ und mächtige Sowjetunion.
Refrain:
Ruhm sei und Lobgesang dir, freies Vaterland!
Freundschaft der Völker hast fest du gefügt.
Fahne der Sowjetmacht, Fahne in Volkes Hand,
Du sollst uns führen von Sieg zu Sieg.

O Sonne der Freiheit durch Wetter und Wolke!
Von Lenin, dem großen, ward Licht unserm Pfad.
Und Stalin erzog uns zur Treue dem Volke,
Beseelt uns zum Schaffen, zur heldischen Tat.
Refrain.

Wir haben in Schlachten das Heer uns geschaffen
Und schlagen den Feind, der uns frech überrannt.
Entscheiden das Los von Geschlechtern mit Waffen
Und führen zum Ruhm unser heimatlich Land.
Refrain.

(Übersetzung aus: Russlandanalysen 22/2004)

Neusprechelemente treten interessanterweise nicht in der zweiten Strophe über Lenin und Stalin auf, wenn man von dem Epitheton "groß" für Lenin absieht. Stattdessen häufen sich Stabilität implizierende Adjektive und Adverbien um die verschiedenen Darstellungen der Sowjetunion, die während des Zweiten Weltkriegs unruhige, gar für ihren Bestand bedrohliche Zeiten durchmachte. In der ersten Strophe des russischen Originaltexts steht die Sowjetunion auf ewig unzerstörbar, einig und mächtig; der Refrain rühmt das sowjetische Vaterland als zuverlässiges Bollwerk der Völkerfreundschaft.

Als nach Stalins Tod das Tauwetter einsetzte, erschien die panegyrische Strophe zu seinen Ehren nicht mehr zeitgemäß. Mehr als zwanzig Jahre, von 1955 bis 1977, wusste man sich nicht anders zu behelfen, als die Hymne ohne Text zu spielen. 1977 schließlich lieferte Sergej Michalkov eine aktualisierte Version, wobei nur die erste Strophe, von der Ewigkeit der Sowjetunion kündend, nicht verändert wurde. Stalin wurde vollständig getilgt, stattdessen wurde nun – gemäß der neuen Parteilinie, welche die Rückkehr zu den leninschen Normen und Prinzipien forderte – Lenins Rolle hervorgehoben. Unter demselben Aspekt löst im Refrain das kommunistische Heilsversprechen von Lenins Partei die Hoffnung auf Sieg in den bereits lang geschlagenen Schlachten des Zweiten Weltkriegs ab.

Sowjetische Staatshymne 1977 – 1991

Russisch:

Союз нерушимый республик свободных
Сплотила навеки Великая Русь.
Да здравствует созданный волей народов
Единый, могучий Советский Союз!
Припев:
Славься, Отечество наше свободное,
Дружбы народов надёжный оплот!
Партия Ленина — сила народная
Нас к торжеству коммунизма ведёт!

Сквозь грозы сияло нам солнце свободы,
И Ленин великий нам путь озарил:
На правое дело он поднял народы,
На труд и на подвиги нас вдохновил!
Припев.
 
В победе бессмертных идей коммунизма
Мы видим грядущее нашей страны,
И Красному знамени славной Отчизны
Мы будем всегда беззаветно верны!
Припев.

Deutsch:

Von Russland, dem Großen, auf ewig verbündet
steht machtvoll der Volksrepubliken Bastion.
Es lebe, vom Willen der Völker gegründet,
die einig und mächtige Sowjetunion.
Refrain:
Sei gerühmt, unser freies Vaterland,
die Freundschaft der Völker ist ein sicherer Hort.
Die Partei Lenins - Macht des Volkes
führt uns zum Sieg des Kommunismus!

Durch Gewitter strahlte uns die Sonne der Freiheit,
Und der große Lenin beleuchtete uns den Weg:
Zur gerechten Sache rief er die Völker,
für Arbeit und für Heldentaten begeisterten wir uns!
Refrain.

Im Sieg der unzerstörbaren Ideen des Kommunismus
sehen wir die Zukunft unseres Landes,
und dem roten Banner der ruhmreichen Heimat
werden wir immer selbstlos treu sein!
Refrain

(Unbekannter Übersetzer)

Die unveränderte erste Strophe transportiert jene Newspeak-Elemente aus der ersten Hymne weiter, welche die staatliche Stabilität der Sowjetunion beschwor. Als neue Dimension fügt die dritte Strophe von 1977 ideologische und gesellschaftliche Stabilität hinzu: Das Adjektiv "unzerstörbar" betont die Unverrückbarkeit der kommunistischen Ideen. Die ewige, selbstlose Treue der Sänger, also der sowjetischen Bürger, zur roten Heimat impliziert, dass die kommunistische Überzeugung bereits in die Gesellschaft einzementiert und somit fortwährend ist.

Das Jahr 1991, mit dem auch die Sowjetunion und ihre Hymne endeten, widerlegte diese Glaubensansprüche endgültig. Die Russische Föderation, Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion, dekretierte das "Patriotische Lied" aus Glinkas Oper "Ein Leben für den Zaren" zur Staatshymne. Weil die Melodie eher kompliziert war und zudem ohne Text blieb, erfreute sich die neue Hymne nur geringer Beliebtheit. Im Jahr 2000 schrieb deshalb Präsident Vladimir Putin einen Wettbewerb aus, um einen neuen Text für die eingängigere Melodie der Sowjethymne zu finden. Als Sieger ging ein nicht unbekannter, mittlerweile aber sehr betagter Dichter hervor – Sergej Michalkov. Der erste Refrainvers der Russischen Hymne blieb im Originaltext deckungsgleich mit dem Vers der Sowjethymnen; (ideologisch) neu ist der Verweis auf Gott in der zweiten Strophe. Leitfaden des neuen Texts ist patriotischer Stolz. In der zweiten Strophe nimmt er Anklänge an Lebedew-Kumatschs sozrealistisches "Lied über die Heimat" von 1936, in dem es heißt: "Weit ist mein Heimatland / viele Wälder, Flüsse und Seen gibt es in ihm./ Ich kenne kein anderes Land, / in dem der Mensch so frei atmet."

Staatshymne der Russischen Föderation (seit 2000)

Russisch:

Россия — священная наша держава,
Россия — любимая наша страна.
Могучая воля, великая слава —
Твоё достоянье на все времена!
Припев:
Славься, Отечество наше свободное,
Братских народов союз вековой,
Предками данная мудрость народная!
Славься, страна! Мы гордимся тобой!

От южных морей до полярного края
Раскинулись наши леса и поля.
Одна ты на свете! Одна ты такая —
Хранимая Богом родная земля!
Припев.

Широкий простор для мечты и для жизни
Грядущие нам открывают года.
Нам силу даёт наша верность Отчизне.
Так было, так есть и так будет всегда!
Припев.

Deutsch:

Russland - unser geheiligtes mächtiges Land,
Russland - unser geliebtes Land,
gewaltige Freiheit und grosser Ruhm
sind dir zu Eigen für alle Zeiten!
Refrain:
Sei gepriesen, unser freies Vaterland,
uralter Bund brüderlicher Völker,
von den Ahnen überlieferte tiefe Volksweisheit.
Land, sei gepriesen! Wir sind stolz auf dich!

Von den südlichen Meeren bis zum Polargebiet
erstrecken sich unsere Wälder und Felder.
Du bist einzig in der Welt! Du bist so einzig –
von Gott zu beschützendes Heimatland!
Refrain.

Einen weiten Raum für Traum und Leben
werden künftige Jahre uns eröff nen.
Treue zum Vaterland gibt uns die Kraft.
So war es, so ist es, so wird es immer sein!
Refrain.

(Übersetzung aus Russlandanalysen 22/2004)

Im Vergleich stellt die neue Hymne den Text mit den meisten Neusprechelementen dar, die zudem – anders als in den Sowjethymnen – nicht nur auf der Bedeutung mancher Wörter, sondern nun auch auf grammatischen Strukturen basieren. Das Wirkungsziel des Newspeaks verschiebt sich jedoch weg von der Vorgaukelung eines allumfassenden, standfesten Staatssystems hin zur Betonung der ideellen und geographischen Einzigartigkeit Russlands und dem daraus erwachsenden Stolz und Verpflichtung.
Lediglich der zweite Refrainvers impliziert weiter staatliche Stabilität: die Russische Föderation ist ein "uralter Bund brüderlicher Völker" – dabei sind nur die Brudervölker eine typisch sozialistische formelhafte Floskel, die Stabilitätssemantik des "uralten Bundes" muss man wohl als Verweis auch auf die imperialen Traditionen des Zarenreichs lesen.
Die Einzigartigkeit Russlands drückt sich durch Adjektive mit Extremwert aus: Russland ist "heilig" und "einzig", die Freiheiten in ihm "gewaltig" und Russlands Ruhm "groß". Aus dieser Einzigartigkeit wächst ein Stolz, der im letzten Refrainvers gipfelt: "Land, sei gepriesen! Wir sind stolz auf dich!"
Aus diesem Stolz erwächst aber auch Verpflichtung. Die kraftspendende "Treue zum Vaterland" in der dritten Strophe, interpretierbar als eine Art Gesellschaftsvertrag, kommt zwar ohne ausschmückendes Neusprechvokabular aus. Wie ein Paukenschlag wirkt aber die Bestätigung in der darauf folgenden Strophe: "So war es, so ist es, so wird es immer sein!". Die Tempusvariation verbindet sich hier mit dem Adverb "immer", so dass die Aussage noch mehr Kraft bekommt als das eingangs erwähnte Zitat zu Lenins ewigem Leben.

Warum Elemente des Newspeaks in den sowjetischen Staatshymnen auftauchen, lässt sich mit Verweis auf den Sozialistischen Realismus erklären, dessen primäres Ziel die (ideologisch korrekte) Erziehung der Massen war. Ob der Neusprech in der russischen Staatshymne einfach den literarischen Gewohnheiten des betagten Autors geschuldet ist oder der Sehnsucht mancher russischen Regierungskreise nach der guten alten Zeit, darüber mag der geneigte Leser selbst nachgrübeln.

Beitrag von Sandra Birzer
Bildquellen: Sandra Birzer

Links zum Thema

  • Russlandanalysen 22/2004 zur russischen Staatssymbolik (herausgegeben von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde)
  • Offizielle Kreml-Webseite über die Staatshymne (auf Englisch)
  • Russische Staatshymne (Videoclip mit Gesang)
  • Staatshymne der Sowjetunion (Videoclip mit Gesang)

Zur Person

Sandra Birzer hat Slavistik in Regensburg und St. Petersburg studiert und ist Redakteurin dieses Magazins

Literatur

  • D. Weiss (1986): Was ist neu am „newspeak“? Reflexionen zur Sprache der Politik in der Sowjetunion. In: Slavistische Linguistik 1985. München, S. 247-321.

Kategorien

Themen: Osteuropa
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