Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft? Plädoyer für den Abbau (gesellschafts)politischer Grenzen

Tim EngartnerJe länger und intensiver man sich ein Forschungsfeld erschlossen hat, desto weniger ist man bereit, von gewonnen Einsichten abzurücken. Gesellschaftlich relevant ist Wissenschaft aber nur dann, wenn sie (gesellschafts)politische Grenzen überschreitet, Meinungen Andersdenkender nicht nur respektiert, sondern fruchtbar macht, und Raum dafür schafft, dass Menschen auf der Grundlage neu gewonnener Erkenntnisse umdenken können.

Meist haben wir eine Tageszeitung im Abonnement, deren AutorInnen unsere Weltsicht teilen, uns somit in unseren Auffassungen bestärken oder diese zumindest nicht grundsätzlich in Frage stellen. Auch bei Wochen- und Monatszeitschriften fußen die Beiträge nur selten auf Grundannahmen, die in diametralem Gegensatz zu unserer "Sicht der Dinge" stehen. Wer lässt sich schon gerne vom konservativen, liberalen oder linken Weg abbringen? Kaum jemand kauft montags die FAZ, dienstags die SZ, mittwochs die taz und donnerstags das Neue Deutschland. Nur ungern verlässt man den eingeschlagenen "Weg der Erkenntnis" – erst recht nicht am Frühstückstisch.

Ähnlich verhält es sich – wenngleich in abgeschwächter Form – in der Wissenschaft, insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften. Je länger und intensiver man sich ein Themengebiet erschlossen hat, desto weniger ist man bereit, von gewonnen Einsichten und daraus hergeleiteten Urteilen abzurücken. Die Informationen fügen sich in vorgefertigte, oftmals durchaus fundierte Denkschemata und überstrahlen dabei solche, die bislang unbekannt waren (und es damit bleiben), obwohl sie einschlägig sind und bekannt ist, dass sich die Bedeutsamkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Regel erst im Laufe der Zeit herauskristallisiert.

Vom 24. bis 25. September fand in Hamburg eine Alumni-Tagung des Deutschen Studienpreises statt. Die von der Körber-Stiftung organisierte Konferenz suchte Antworten auf die Frage: "Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft?". Zu den Referenten zählten neben Studienpreisträgern der Wissenschaftssoziologe Nico Stehr, der FAZ-Redakteur Jürgen Kaube und der Geschäftsführer der Volkswagenstiftung, Wilhelm Krull.

Um der Wissenschaft zu einem höheren Maß an gesellschaftlicher Relevanz und Akzeptanz zu verhelfen, müssen WissenschaftlerInnen sich jedoch nicht nur einer breiteren Öffentlichkeit stellen, sondern auch den akademischen Elfenbeinturm selbst durchlässiger gestalten. Letzteres geschieht seit einiger Zeit erfolgreich im Rahmen transdisziplinärer Forschungsanstrengungen. An einer breit angelegten Debatte über die Notwendigkeit, den Blick über den Tellerrand zu richten, um sich innerhalb der eigenen Disziplin gegenläufigen Auffassungen zum selben Thema zu stellen, fehlt es indes nach wie vor.
 
LehrstuhlinhaberInnen halten Ausschau nach wissenschaftlichen MitarbeiterInnen respektive DoktorandInnen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch von der gesellschaftspolitischen Ausrichtung her zu ihnen passen. Konferenzen und Tagungen ziehen zumeist eine homogene Schar von Interessenten an, die sich inhaltlich lediglich in Nuancen von-, ja nicht einmal gegeneinander abgrenzt. Auf einer Veranstaltung, die den Titel "Kapitalismus reloaded – Imperialismus, Empire und Hegemonie" trägt, findet sich unter 700 TeilnehmerInnen nicht ein(e) einzige(r) VertreterIn der These auf dem Podium, wonach der Kapitalismus aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit das kommende Jahrhundert überleben wird. Beim weltgrößten studentischen Wirtschaftskongress, dem World Business Dialogue, sind regelmäßig namhafte UnternehmensvertreterInnen zu Gast, darunter Bill Gates, Josef Ackermann, Klaus Zumwinkel etc. ArbeitnehmervertreterInnen hingegen sucht man auf den Gästelisten indes vergeblich, geradezu so, als repräsentierten sie nicht einen Teil des Wirtschaftssystems, das dazu noch laut Veranstaltungstitel im Dialog (!) diskutiert wird.

Selbst Studierende werden in Lehrveranstaltungen und -büchern auf bestimmte Denkschulen "geeicht", indem alternative Modelle, Gedankengänge und Forschungsergebnisse von den Dozenten ausgeblendet werden. Damit wird die Chance vergeben, nachfolgenden Generationen ein möglichst umfassendes wissenschaftliches Spektrum zu eröffnen. So umfassen die Studienordnungen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln zum Beispiel keine einzige Pflichtveranstaltung, welche die Vorzüge der gewerkschaftlichen Mitbestimmung beleuchtet oder die Abkehr vom Menschenbild des homo oeconomicus darlegt (die sich im anglo-amerikanischen Diskurs seit Jahren vollzieht und an britischen und US-amerikanischen Universitäten gleich welcher Prägung rege diskutiert wird).
Diese einseitige Ausrichtung von Konferenzen, Lehrveranstaltungen und -büchern untergräbt ebenso wie die eindimensionale Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Zugleich büßt die Wissenschaft mit ihrem (oftmals unbewusst) verengten Fokus gesellschaftliche Relevanz ein, weil auch Außenstehende die zeitliche und argumentative Begrenztheit einseitiger Aussagen erkennen.

Die Welt ist schlicht zu komplex, als dass sie sich von einer Warte aus erklären ließe. Verschreibt man sich als WissenschaftlerIn dem Ziel, zuverlässiges Wissen und darauf basierende Ergebnisse zu gewinnen, setzt dies – jedenfalls anfänglich – ein möglichst wertfreies Vorgehen voraus. Zur Zweckmäßigkeit der Wertfreiheit schrieb Carl F. von Weizsäcker: "Die Wertfreiheit der Wissenschaft ist in meinen Augen zwar keine letzte Wahrheit, aber ein hoher ethischer Wert; nur durch sie hindurch kann man heute gehen, wenn man über sie hinauskommen will. Übung in wertfreier Analyse bedeutet für jeden von uns zunächst eine Schulung in der Distanz von sich selbst, also einen Schritt auf dem Weg zur menschlichen Reife. Sie zielt auf die Überwindung des Wunschdenkens, auf Einübung der Selbstkritik, auf Distanz zur eigenen Ideologie, auf Erwachsenwerden." Wird einseitig auf eine wertende Wissenschaft beziehungsweise eine bestimmte "Sicht der Dinge" gesetzt, wird daraus schnell das, was Wissenschaft nicht sein sollte: eine Heilslehre, um die Welt zu verbessern.

Zweifelsohne muss gesellschaftlich relevante Wissenschaft (zumal ihre Ergebnisse) kondensiert und in pointierter Form formuliert werden, um sie mediengerecht zu transportieren und ihr somit zu einer gewissen Resonanz zu verhelfen. Gesellschaftlich relevant agieren WissenschaftlerInnen aber nur dann, wenn sie nicht vor – meist selbst errichteten – (gesellschafts)politischen Grenzen Halt machen, sondern immer wieder auch die Meinung der Gegenseite in den Blick nehmen.

Beispielsweise sollten diejenigen, die sektoren- und gebietskörperschaftenunabhängig für Privatisierungen plädieren, die Argumente derjenigen Ernst nehmen, die sich gegen den Um- bzw. Abbau eines staatlich verantworteten Bahn-, Bildungs- und Gesundheitswesens aussprechen. Umgekehrt sollten privatisierungsavers eingestellte WissenschaftlerInnen zur Kenntnis nehmen, dass gegen den 1998 erfolgten Verkauf der Tank & Rast GmbH nur schwerlich Argumente vorgetragen werden können, da das Betreiben von Autobahnraststätten kaum als originär staatliche Aufgabe definiert werden kann, dem Bund jedoch durch die erzielten Einmaleinnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro neue Handlungsspielräume erwuchsen.

Allgemein gesprochen bedeutet dies: Meinungen Andersdenkender sollten nicht nur respektiert, sondern fruchtbar gemacht werden, weil der Erkenntniszuwachs unter Einbeziehung gegenläufiger Argumente wesentlich weiter führt als das "Schmoren im eigenen Saft". Unverändert gilt das Bonmot: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." Dieser Ausspruch, den der französische Maler Francis Picabia vor rund 70 Jahren prägte, sollte als Leitsatz in die Debatte um die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft eingehen. Da Wissenschaft nicht auf Felsengrund baut, sondern auf Sumpfland, sollten Universitäten, Stiftungen und Medien stets auch ein offenes Ohr für die "Gegenseite" haben – könnte diese doch auf lange Sicht Recht behalten.

Beitrag von Tim Engartner
Bildquellen: Tim Engartner

Zur Person

Tim Engartner, Studienpreisträger 2006, hat in Trier, Oxford und Köln Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. Unlängst hat er seine Dissertation zur Privatisierung des deutschen und britischen Bahnwesens abgeschlossen.

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