Jenseits von Theorie und Konfession
Es gibt die These von der Rückkehr der Religion, zahllose (lesenswerte) Bücher geben darüber Auskunft (siehe „Literatur“ am Seitenende). Vielleicht beruht das auf einem Irrtum, das Christentum und das Christliche waren nämlich niemals weg. Die katholische Caritas ist mit 600.000 Mitarbeitern noch immer der größte Arbeitgeber Deutschlands; kirchliches Engagement, von der Wiege bis zur Bare, ist eine Säule des Sozialsystems. Taufe, Kommunion, Konfirmation/Firmung, Heirat oder Beerdigungen waren niemals „out“, noch viel weniger die grundlegenden christlichen Werte (zumindest in einer light-Version).
Jürgen Habermas verblüffte viele mit seiner Rede „Glaube und Wissen“ (2001) zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Es kam zudem in München zu einem Treffen zwischen Josef Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas.
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Etwas anderes war aber tatsächlich „out“. Im öffentlichen Diskurs, vor allem der letzten 30 Jahre, konnte mit christlichen Werten nur argumentieren, wer stockkonservativ oder Pfarrer war (oder beides). Verdeckt blieben dadurch allerdings christliche Werte, die im Alltag vieler Konsens blieben. Andere Referenzen waren imageträchtiger, also verzichteten viele auf die Begründung der Werte. Die Soziologin Elisabeth Nölle-Neumann nannte das Verheimlichen verbreiteter Ansichten in der Öffentlichkeit eine „Schweige-Spirale“. Aber die löst sich scheinbar auf. Einen Anteil daran hat auch der Papst, der nicht nur deutscher, sondern auch ein großer Gelehrter ist: Die Texte von Benedikt lesen nicht nur die frommen Lämmer, sondern auch der bedeutendste deutsche Philosoph, Jürgen Habermas. Der formulierte in seiner Friedenspreisrede die These, dass religiöse Gehalte nicht verlustfrei in die Sprache der Philosophie übersetzbar seien. Benedikt erwiderte darauf, dass es sowohl „Pathologien der Vernunft“ wie „Pathologien der Religion“ gebe. Philosophie und Theologie seien also keine Konkurrenten um die Wahrheit, sondern ein gegenseitiges Korrektiv.
Michel de Montaigne verfasste im 16. Jahrhundert eine bedeutende Sammlung von Essais. Im Kapitel „Über die Gewissensfreiheit“ findet sich die Passage, auf die die Romanpassage anspielt.
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Das Christliche ist aber nicht nur eine Religion für Gelehrte. Die Basics reichen aus, um zu verstehen, worum es geht. Heinrich Mann lässt das in seinem Renaissanceroman über den französischen König Henri IV. seinen Protagonisten selbst aussprechen: „Wenn ihr, und alle die reden wie ihr, jeden Tag euer Vaterunser aufrichtig sprächet, dann würdet ihr anders reden …“ Schon Vaterunser und zehn Gebote enthalten die ethischen Kernbotschaften des Christentums. In Heinrich Manns Roman begegnet der junge König von Navarra dem Philosophen Montaigne. Der bringt ihm den Gedanken nahe, dass es in diesen Kriegen nicht um die Religion geht, sie ist nur ein Vorwand.

Unter Studierenden, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern ist jedenfalls ein starkes Interesse am Christentum spürbar. Und es gäbe auch gar kein Fach, für das dies keine Bereicherung wäre. (Kunst)Historikern, Literatur- und Kulturwissenschaftlern ist das Christliche seit jeher ein Schlüssel zum Verständnis ihres Faches. Ohne Kenntnisse des Christlichen (und der Antike) bleiben die europäische Malerei und Literatur unverständlich. Juristen haben es mit oft christlich induzierten Grundwerten zu tun, in der Biologie hilft christliches Wissen, um gegen die Fundamentalisten gewappnet zu sein, die Darwin notorisch missverstehen, Mediziner sind generell mit ethischen Fragen konfrontiert. Selbst Atheisten bleiben oft in negativer Abhängigkeit der Religion verhaftet. (Viele kennen die flammenden, oft naiven, Plädoyers gegen die Kirche von Menschen, die keinen einzigen Berührungspunkt mit ihr haben.)
Der „christliche Diskurs“ jedenfalls geht durch unsere Kultur, und somit durch jeden Einzelnen, hindurch. Dem gegenüber kann man unwissend bleiben oder informiert die eigene Position finden. Das Interesse an der Religion deutet darauf hin, dass viele den Weg der Wissensaneignung vorziehen. Die Zeit ist passend: Die Adventszeit beginnt und Weihnachten steht vor der Tür. Das ist als Konsumereignis ökonomisch wichtig, spirituell nötig und familienpsychologisch verwegen zugleich. Auch hier kein Entrinnen. Es ablehnen, es bewusst inszenieren, es alternativ feiern, davor flüchten – einen Bezug zum Fest haben alle Varianten. Was mag man empfehlen? In die Kirche gehen ist kein Vergnügen, da ist es plötzlich sehr voll und für manche ist es nur ein Laufsteg. (Manchmal steht man neben Leuten, die ihrem Banknachbarn nur aus vollem Herzen die Hand schütteln, wenn ihnen deren Garderobe passt. Die katholische Messe wird da zur Falle.)
Die Bibel gibt es jetzt als Hörbuch, aber zum Joggen ist es nicht das richtige. Dabei Bügeln passt auch nicht. Still sitzen kann kaum noch einer ohne schlechtes Gewissen und Befindlichkeitsstörungen. Also in der Bibel lesen? Ja! Gerade die Lutherübersetzung führt ihre Leser auf jeder neuen Seite zu neuen Aha-Erlebnissen: zahllose Sprichwörter, Geschichten, Redewendungen sind biblisch.
Feiertage sind mehr als ein „freier Tag“. Über die Herkunft und Bedeutung deutscher Feiertage und Feste gibt ein gebundenes, schönes Bändchen Auskunft: „Alle unsere Feste“ von Karl-Heinz Göttert (Stuttgart 2007). Warum feiern wir Neujahr? Was ist Fastnacht, Fasching, Karneval; wann genau starb Jesus; woher kommt der Weihnachtsmann; was ist der „Ewigkeitssonntag“? Lesbare, informative Lektüre, jenseits der Popliteratur.
Und Weihnachten selbst? Eigentlich reicht Heinrich Manns Roman über Henri IV. völlig aus. Der Roman ist Manns Hauptwerk, sein Spätwerk und zugleich ein Schlüssel zum Verständnis der Exilliteratur. Der Leser wird entführt ins Frankreich des 16. Jahrhunderts, in dem die Konfessionskriege wüten. Obwohl der erste Band schon 1935 erschien (und lange vor 1933 begonnen wurde), erfüllt einen die Schilderung der Bartholomäusnacht mit Entsetzen. Nicht nur, weil sie entsetzlich war, sondern mehr noch, weil die Warnsignale des sich ankündigen Massenmordes ignoriert wurden. Der Hugenottenkönig hätte sehen können, was nicht zu übersehen war – und so ging es auch vielen Deutschen, die erst erkannten, wen sie mit der NSDAP gewählt hatten, als es zu spät war. Und zugleich ist es ein Roman, der einen Menschen in Vollendung entwirft: einen Christen jenseits der Konfessionen, der sich lieber ans Vater Unser hält.
Wenn das Christliche also Mainstream ist, dann ist es schade, wenn jeder in seinem Kämmerlein darüber nachgrübelt. Das Beten, nicht aber die Religion ist eine Privatsache, darauf beharrt der Papst zu Recht. Die kirchlichen Mindermeinungen wie die eines Kardinal Meisners in Köln oder das Medienmarketing einer Eva Herrmann dürfen nicht mit „der Kirche“ verwechselt werden. Diesen Eindruck kann man aber gewinnen, wenn man zu viel Fernsehen schaut. Die Krawallschläger werden durch die Skandalschemata der Massenmedien begünstigt – vielleicht sogar geradezu erzeugt. Selbst die katholische Kirche ist in ihrer Praxis heute „liberaler“ und toleranter, als es das Medienbild suggeriert.
Maßgebend für den Gläubigen ist nicht „die Kirche“, sondern die eigene Gemeinde. Und wer sich in diese begibt, der wird sich oft wundern. Hier ist die Ökumene längst Alltag, theologische Spiegelfechtereien sind unnötig. Im eigenen Umfeld sind, wenn man etwas Glück hat, Pfarrer oder Pastor die intellektuell und spirituell wertvollsten Gesprächspartner. (Und wer überhaupt kann noch mit dieser Verbindung punkten?) Und Pfarrer/Pastoren kennen – im Gegensatz zu den Universitätsethikern – die existentiellen Themen des Lebens aus eigener Erfahrung: über Tod und Krankheit einen Theorie-Diskurs führen, oder an einem Sterbebett sitzen, ist ein großer Unterschied. Über neue Armut in der Zeitung lesen oder die Kleidersammlung für die eigenen Nachbarn organisieren, auch. Weihnachten ist ein Anstoß, sich mit der Praxis zu konfrontieren. Vielleicht ist nicht die Ästhetik – wie Friedrich Schiller es sah – das Medium zur Überwindung der politischen Gegensätze, sondern in Zukunft wieder die christlichen Werte.
Zur Person
Dr. Frank Berzbach, Katholik, unterrichtet an der ecosign Akademie für Gestaltung (www.ecosign.net) Psychologie und an der Fachhochschule Köln Literaturpädagogik.
Literatur
- Karen Armstrong (2004): Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. Stuttgart.
- Friedrich Wilhelm Graf (2007): Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München. (Auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich: www.bpb.de)
- Karl-Heinz Göttert (2007): Alle unsere Feste. Ihre Herkunft und Bedeutung. Stuttgart.
- Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger (2005): Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Herder, Freiburg (Erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de)
- Martin Riesenbrodt (2000): Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München.
- Charles Taylor (2002): Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt/Main.
- Wolfram Weimer (2006): Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist. Stuttgart.
- Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter (Hg.) (2004): Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie. Stuttgart.
- Jacques Derrida / Gianni Vattimo (2001): Die Religion. 3. Aufl. Frankfurt/Main.
- Richard Rorty / Gianni Vattimo (2006): Die Zukunft der Religion. Frankfurt/Main.
- Der Schmöker: Religionskriege, Bartholomäusnacht und der Aufstieg eines humanistischen Königs, zugleich ein bedeutender Exilroman:
Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre. (Verschiedene Ausgaben)
Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quarte. (Verschiedene Ausgaben)
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