Spielen und Lernen revisited
Spiele faszinieren den Menschen von jeher. Dass diese Leidenschaft bald auch auf den Computer übersprang, kann deshalb kaum verwundern. Schon eher, dass Spielen als uralte kulturelle Praxis bei deutschen Wissenschaftlern kaum Anklang fand. „Das muss sich ändern“, dachte sich Rolf Nohr, und so gründete der heutige Juniorprofessor für Medienkultur im Jahr 2000 die Arbeitsgemeinschaft Computer Games der damaligen Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft (DGFF).
Strategie:
Ursprünglich die Kunst der Kriegsführung, ist Strategie heute allgemein ein langfristig angelegtes zielgerichtetes Handeln. Aus dem Ziel wird systematisch eine Folge auf einander aufbauender Handlungen abgeleitet, die zur Erreichung dieses Ziels führen. Der japanische Wirtschaftstheoretiker Kenichi Ohmae nennt eine Handlungsweise „strategisch“, die jeden Schritt auf seinen Beitrag zur Zielerreichung hinterfragt.
Mit der typisch medienwissenschaftlichen Perspektive stießen er und seine wenigen Mitstreiter allerdings bald auf eine Grenze: die Interaktion mit der Maschine unterscheidet sich deutlich von Buch, Funk oder Film, wo das Medium erzählt und das Publikum passiv rezipiert. Es folgte der obligatorische Methodenstreit.
Während das eine Lager davon ausging, dass auch das Computerspiel im Wesentlichen eine Geschichte präsentiert, ging die Gegenseite von der strikten Unterscheidung zwischen der Erzählung auf der einen und dem Spielhandeln auf der anderen Seite aus. „Wenn Sie sich Kinder ansehen, dann spielen sie nicht, wenn sie erzählen. Und wenn sie spielen, erzählen sie nicht, sondern sind ganz und gar in das Spiel vertieft“, erläutert Nohr. Der Streit der Spielwissenschaftler, martialisch Ludo-logic War getauft, wurde schließlich salomonisch beigelegt: Man einigte sich auf ein Sowohl-als-auch.
Der „Ludo-logic War“

Für Nohr ging die Arbeit damit aber erst richtig los. Er fragte sich, was Menschen von Alters her am Spielen fasziniert, und stieß bald auf die Regeln, die dem Handeln der Spieler Rahmen und Richtung geben. Nohr bemerkte, dass viele verbreitete Spiele zum langfristigen, strategischen Handeln zwingen, und fand prompt ein historisches Beispiel am unerwarteten Ort: An seiner eigenen Wirkungsstätte, in Braunschweig, hatte der Mathematiker Johann Christian Ludwig Hellwig um die Wende zum 19. Jahrhundert sein „Aufs Schachspiel gebauetes Kriegsspiel“ entwickelt, das der Professor mit einer Arbeitsgruppe rekonstruierte.
Hellwigs Regeln stellten sich bald als wenig durchdacht heraus: die Spielanleitung, ein 240 Seiten starkes Buch, wurde schon bei ihrer früheren Benutzung mehrfach überarbeitet. Auch ist das Spiel sehr langatmig. „Wir haben 4 Stunden gespielt und sind nicht zu einer Entscheidung gekommen“, weiß Stefan Böhme, einer von Nohrs Projektmitarbeitern, zu berichten. Auf einer öffentlichen Vorführung habe Hellwigs Spiel gerade den jugendlichen Interessenten allzu viel Geduld abgefordert: „Die haben an unserem Stand ‚Power-Hellwig’ gespielt und die Figuren ungeachtet der Regeln einfach Schlag auf Schlag ausgetauscht.“
Geduld-Spiel
Trotz oder gerade wegen dieser ernüchternden Erfahrungen hat sich der Selbstversuch für Nohr gelohnt. „Ein beeindruckendes pädagogisches Konzept“, nennt er das Spiel und fährt fort: „So muss es wohl damals gewesen sein auf dem Feldherrenhügel: Letztlich kam es weniger auf das Gemetzel an als darauf, langfristig zu planen und den Plan geduldig auszuführen. Am Ende gewinnt eigentlich immer der Spieler mit der meisten Erfahrung.“ Kein Wunder also, dass ausgerechnet der Soldatenstaat Preußen seinen 12-14-jährigen Kadetten ein derartiges Spiel andiente. Mit einer entgegen gesetzten pädagogischen Intention griff übrigens Anfang des 20. Jahrhunderts der britische Schriftsteller und Sozialist H.G. Wells die Grundidee des Kriegsspiels auf: Durch kleine Gummizugkanonen ergänzte er das strategische Denken um ein Zufallselement und hoffte insgeheim, jungen Menschen durch seine „Little Wars“, so der Spielname, die Lust an großen, echten Kriegen auszutreiben. Zumindest die Spiellust ist den kleinen und größeren Spielern bis heute nicht vergangen…
Krieg spielen für den Weltfrieden

Auch bestimmt längst nicht mehr der Krieg die Kulisse beliebter Strategiespiele. Spielerische Episoden finden sich dagegen bei fast jedem Managementseminar, und auch die Verkaufsschlager unter den Computerspielen drehen sich heute um Besitz, Geld und unternehmerische Qualitäten. „Die Wirtschaft ist der Ort, wo heute Entscheidungswissen gebraucht wird“, kommentiert Nohr. Bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stützt sich die mathematische Spieltheorie auf die Annahme, dass die Regeln traditioneller Gesellschaftsspiele wie Schach, Dame oder das asiatische Go gute Modelle für das Handeln beispielsweise von Marktteilnehmern oder Heeresführern sind. Insofern unterrichten Spiele tatsächlich das Leben.
Gleichzeitig erzählt die Story, die die spielerische Lernumgebung zusammenhält, viel über den Zeitgeist. Nicht nur pädagogisch wertvolles Wissen und Können, sondern auch die herrschende Sicht der Dinge bestimmt den Lehrplan. Inklusive ihrer wenig schmeichelhaften Seiten wie Materialismus, Egoismus und dem Recht des Reicheren findet sie mit spielerischer Leichtigkeit – und von Kritikern weitgehend unbeachtet – den Weg in die Jugendzimmer. Die Einteilung in gefährliche Gewalt- und „gute“ Strategiespiele ist so einfach also nicht. Das Spiel besitzt immer auch einen ideologiekritischen Zug. „Dem Spielenden kann man nicht befehlen!“ sagt Nohr und weiß sich in illustrer Gesellschaft mit der Erinnerung, Monopoly mal als Inkarnation des Manchester-Kapitalismus und mal als Fest der fröhlichen Gelddrucker und Hotelbauer gespielt zu haben.
Quasi „von innen heraus“ versuchen einige Wissenschaftler, dem Spiel sein letztes Rätsel zu entlocken. Unter dem Namen „stealth learning“ – zu Deutsch: getarntes Lernen – überprüfen sie Spielregeln darauf, wie gut diese sich während des Spiels selbst erklären. Damit bleibt jedoch immer noch unklar, was die entsprechenden Regeln mit dem Spieler machen. Sicher sein, dass die gewünschte Lernbotschaft ankommt oder wie sich eine Spielgruppe letztlich ihr „Paralleluniversum“ zusammendenkt, können sich selbst die wohlmeinendsten Eltern deshalb nie.
Getarntes Lernen
Was für Pädagogen ernüchternd klingt, erfüllt für das Phänomen Spiel einen wichtigen Zweck. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene fühlen sich angezogen von der einfachen, übersichtlichen Parallelwelt, die die Spielregeln entstehen lassen, und finden darin eine (ent-)spannende Alternative zum oft unüberschaubaren Alltag. Online-Trends wie „Second life“ oder auch „World of Warcraft“ ermöglichen es den Spielern, in einem anderen als dem gewohnten Rahmen zu handeln. Ihre wahre Magie schöpfen alle Spiele jedoch daraus, dass die an sich feststehenden Regeln eines nicht sind: unumstößlich. Welche Bedeutung dieser Tatsache zukommt, zeigt sich laut Nohr quer über alle Epochen und Kulturgrenzen: „Der Regelbrecher wird toleriert oder gar bewundert, der Spielverderber jedoch in jedem Fall verachtet.“ Die Spielgedanken sind frei – und müssen es bleiben!
Links zum Thema
- Internetseite des Forschungsprojekts „Strategie spielen“ von Professor Nohr an der HbK Braunschweig
- Hellwigs Buch, digital abrufbar bei der Universitätsbibliothek Braunschweig
Zur Person
Christiane Zehrer ist Redakteurin dieses Magazins.
Literatur
- Garri Kasparow: Strategie und die Kunst zu leben. In: Denkanstöße 2008, S. 155-176.