Der große Bluff
Auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors 1977 erschien in Deutschland ein Buch, das eine ganz andere Schreckensherrschaft thematisierte: Uni-Angst und Uni-Bluff. Der junge Dozent Wolf Wagner, heute Professor an der Fachhochschule Erfurt, erläuterte im studentenbewegten Duktus, wie seine Kommilitonen an den Universitäten von Beginn an lernten, fehlendes Fachwissen und Unsicherheit mit vorgespielter Kennerschaft zu kompensieren, indem sie – von ihren professoralen Vorbildern animiert – ein „kluges Gesicht“ machten, akademisches Gehabe trainierten und komplizierte Fachausdrücke wie Giftpfeile auf ihre Umgebung abschossen. So lange, bis aus der Angstabwehr ein stabiles System des gegenseitigen Bluffens und Täuschens geworden war, das im krassen Gegensatz zum hehren Ideal einer um die Wahrheit ringenden Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden steht.
Das konnte seinerzeit, als man in WG-Küchen bis spät in die Nacht über Marx und Engels diskutierte, ebenso wenig gut gehen wie heute, wo man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, Selbstvermarktung werde bereits im Kindergarten gelehrt.
Bluffen gehört zum Geschäft

Deshalb gibt es Wolf Wagners schon über 150.000 Mal verkauften Klassiker seit letztem Jahr in einer völlig überarbeiteten und an die neuen Bachelor-Verhältnisse angepassten Version. Auch wenn der Autor nun manches anders sieht (so gewinnt er der Umstellung der Diplom- und Magisterstudiengänge auf Bachelor und Master einiges ab), bleibt sein Fazit dasselbe: Bluff ist auch heute noch ein „integraler Bestandteil der Berufsqualifikation akademisch gebildeter Menschen.“ Er hält die Angstspirale aufrecht, die er zu brechen vortäuscht, tötet die Lust und Neugier am Forschen und kann „schwere psychische Krisen auslösen.“
Warum aber wird dann überhaupt geblufft? Wagners verblüffend einfache These lautet: Die Wissenschaft hat nicht nur eine Erkenntnisfunktion, man kann mit ihr auch Karriere machen. Und da Lehrstühle ein hohes Renommee haben, bekanntlich aber selten sind, wird kräftig um sie gerangelt. Wissenslücken und eine gesunde Distanz zum akademischen Betrieb können dabei nur schaden. Last exit: Uni-Bluff.
Genussvoll studieren
Doch das Buch klärt nicht nur darüber auf, wie Bluff funktioniert und wirkt, wie man bluffend – denn es geht nicht ohne! – eine Uni-Karriere macht (sehr schön: die 10 Bluff-Regeln am Ende des Buches), sondern auch, wie man „genussvoll“ studieren kann, ohne sich dabei im Bluff-Circus, dessen Spielregeln man allerdings im doppelten Sinn des Worts beherrschen sollte, selbst zu verlieren. Dazu gehört für Wagner zum Beispiel, sich in den Geisteswissenschaften erst einmal unerschrocken ein eigenes Urteil zu bilden, und zwar auf Basis der Primärtexte, statt sich von vornherein mit Ersatzmeinungen aus der Sekundärliteratur auszustatten. Allgemein rät Wagner dazu, seine Studienziele beharrlich, aber gelassen zu verfolgen, denn nur so geselle sich irgendwann zur Mühsal der Arbeit auch die Freude am geistigen Abenteuer Wissenschaft und den wachsenden eigenen Fähigkeiten, selbst Forschung zu betreiben. Der ideale „Glückskorridor“ liege dabei irgendwo zwischen leichter Überforderung, Langeweile und extremer Überlastung, die schlimmstenfalls in Depression mündet.
,Objektive‘ Wissenschaft gibt es nicht
Neben den zahlreichen praktischen Tipps zur Studienorganisation bis hin zum Abfassen einer Abschlussarbeit und originellen Ideen zur Reform der Lehre besticht Wagners Buch vor allem durch seine zeitlosen, ungemein ehrlichen und entlastenden Einsichten in das Unwesen unserer Universitäten. Studienanfängern kann das eine dicke Portion Uni-Angst nehmen, während selbstherrlichen Ordinarien und akademischen Bluff-Experten wie vor 30 Jahren die Zornesröte ins Gesicht steigen dürfte. Dazu tragen auch Wagners Reflexionen zum Wissenschaftsbegriff im Geiste Paul Feyerabends bei.
Unser Ideal von ,objektiver‘ Wissenschaft sei selbst ein großer Bluff, so Wagner, weil er schlicht die Hälfte aller Zutaten verschweige, die zur Herstellung wissenschaftlichen Wissens nötig seien: die vielen Zufälle, Abwege und Irrtümer nämlich, aus denen sich erst am Ende einer mühsamen Suche mehr oder weniger haltbares Wissen destillieren lässt.
Wagners präzise und im besten Sinn aufklärerische Analyse, die vielen lebenserfahrenen Wegweiser durch den Uni-Bluff und seine ungewöhnliche Offenheit im Umgang mit den eigenen Uni-Ängsten, die der weit gereiste Professor und ehemalige Fachhochschulrektor noch heute gelegentlich bei Vorträgen verspürt, machen den Akademiker Wagner zu einer Autorität und sein Handbuch zur Pflichtlektüre für alle Anfänger! Auch in den Naturwissenschaften, für die Wagner allerdings nicht in erster Linie schreibt.
Statt noch ein Power-Point-Seminar aus Studiengebühren zu finanzieren, sollten es die Universitäten als Willkommensgeschenk zur Ersteinschreibung austeilen.
PS: Das dürfte ruhig auch die Erstausgabe mit zeitgemäßem Seyfried-Cartoon sein, die außerdem der immer noch aktuellen Frage nachgeht, warum Frauen so gute Studentinnen sind, aber doch so selten Uni-Karriere machen.
Links zum Thema
- Wagners Buch auf Amazon.de (mit Leseprobe)
- Homepage von Wolf Wagner an der Fachhochschule Erfurt
Zur Person
Christian Dries ist Chefredakteur dieses Magazins und hat Wolf Wagners Buch (das aus den 70ern) schon im Grundstudium begeistert gelesen.
Literatur
- Wolf Wagner (2007): Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren. Aktualisierte und vollständig überarbeitete Neuausgabe. Berlin: Rotbuch-Verlag; 175 S.; 8,90 Euro.
Kategorien
Themen: Hochschule