Ich, Sarkozy
Yasmina Reza ist die meistgespielte Dramatikerin der Gegenwart. Mit Theaterstücken wie ihrem Welterfolg Kunst (1994) oder Der Gott des Gemetzels (2006) sind ihr abgrundtief bösartige und zugleich schreiend komische Kammerspiele gelungen, in denen die windschiefe Seelenlage des gehobenen Bürgertums vorgeführt wird, dass es eine wahre Angstlust ist. Die drei vermeintlichen Freunde, die über ein weißes Bild mit weißen Streifen derart in Rage geraten, dass sie mehr als nur handgreiflich werden, oder die beiden maroden Ehepaare, die sich gegen- und wechselseitig niedermetzeln, obwohl sie ,eigentlich‘ nur einen Schulstreit ihrer Bengel beilegen wollen, und das nach allen Regeln der liederlichen Künste der Verbiederung, der heimlichen Komplizenschaft, der Heuchelei und der subtilen Verletzung – das hat man lange nicht mehr so meisterhaft und so enervierend verdichtet gelesen wie bei der in Paris lebenden Reza.
Fein sezierte Gutbürgerlichkeit
Wer aus einer der zynisch-kühl temperierten und anarchistischen Reza-Vorstellungen herauskommt – etwa aus der wunderbaren Inszenierung von Jürgen Gosch am Zürcher Schauspielhaus, die auch als Videoaufzeichnung erhältlich ist –, atmet erst mal durch und fragt sich dann: Wofür der ganze Zores? Was treibt erwachsene Menschen dazu, sich wegen Nichtigkeiten in Messer wetzende Kampfgockel zu verwandeln?
Was das Theater denn nun eigentlich soll, ist auch die Frage, die am Ende von Rezas neuestem Werk steht. Ein Jahr lang hat sie den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Wahlkampf begleitet. Herausgekommen ist ein tagebuchähnlicher Report, durchsetzt von literarisch-philosophischen Reflexionen und abgewogenen Gefühlsäußerungen der Autorin. Die skizziert aus allernächster Nähe das Porträt eines Mannes, der nichts Bestimmtes ist und niemals wirklich ans Ziel kommt – und gerade deshalb den Politiker-Idealtypus, vielleicht sogar den dominierenden Menschenschlag unserer Zeit verkörpert.
Die große Sarko-Show
Am Beginn ihrer gemeinsamen Wahlkampf-Reise ist Reza regelrecht verzaubert: „Der Mann allein, das ist ein Traum.“ Aber der Mann, dem sie in jener Zeit so nahe kommt wie nur wenige Sterbliche, die nicht unmittelbar zum Polit-Geschäft gehören, ist einfach nicht zu fassen. Personifizierte Ungeduld – den Oberkörper versteift, die Füße „närrisch“ wippend –, ist Monsieur le Ministre auf dem Weg ins Präsidentenamt niemals dort, wo er gerade sitzt und steht und läuft und redet und Hände schüttelt, und niemals bei denen, die um ihn herum sind. Er ist pure Gegenwart, aber nie präsent, immer schon einen Schritt weiter: „Die Tragödie kennt keine Orte. Und auch keine Zeiten. Nur frühmorgens, abends oder nachts.“
Der tragische Held nimmt seine Umgebung nicht wahr, nicht ihre Schönheit, ihre Einladung zu verweilen oder nachzusinnen, nicht die stolzen Häuser oder die wiegenden Bäume am Rande eines lokalen Wahlkampftermins, nicht die ewig gleichen Montagehallen, Foyers und Bankette („Nicht-Orte“ nennt Reza sie), durch die er mit ewig gleichen Reden zieht wie ein Zugwind. Die ganze Welt ist – ein paar Minuten oder Stunden – immer nur Kulisse für die große Sarko-Show, in der es um stündlich aktualisierte Verkaufszahlen geht (die seiner Bücher), um den Eindruck, den er hinterlassen hat, um berühmte Schauspieler, die ihn öffentlich umarmen, um den nächsten Auftritt – kurz: um ihn, der, würde man ihn auf einer einsamen Insel aussetzen, dort binnen weniger Tage Inselkönig wäre, wie er einmal scherzhaft und entlarvend sagt.
Der Politiker als Prototyp seiner Zeit
Das Puzzlebild, dessen Teile Reza zusammenträgt, zeigt zweierlei: Eine um die Person Sarkozy herumgebaute dauerbewegte Riesenmaschine, deren Credo „Stillstand ist der Tod“ lautet und die sich daran schickt, die „höchste Macht“ (O-Ton Sarkozy) zu erobern, Etappenziel Elysée-Palast. Dieser Teil des Bildes skizziert einen Politikertypus der paradigmatisch für unsere Zeit steht, deren Kontingenz und Komplexität ein so starkes Ohnmachtsgefühl erzeugt, dass manche ihr dadurch beizukommen versuchen, dass sie sie erobern, unterwerfen, für sich einnehmen, sie mit ihrer Omnipräsenz zum Ausdruck des eigenen Egos machen. So wie andere sich mit Delikatessen voll stopfen, um nur ja jede erdenkliche Gaumenfreude auszukosten, stopfen sich die Jäger höchster Mächte mit Weltschnipseln voll – vergeblich auch das. Statt bei der Welt landen sie immer nur bei sich selbst, ohne einen Schritt weiter gekommen zu sein.
Günther Anders,
geb. Stern (1902-92), wurde nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1950 zum schärfsten außerakademischen Kritiker der Technik. In seinem zweibändigen Hauptwerk, Die Antiquiertheit des Menschen, fragt er nach den Auswirkungen von Automatisierung und Rationalisierung auf das menschliche Wesen.
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Der deutsch-jüdische Philosoph Günther Anders hat diesen Menschentyp in einem französischen Aufsatz über die Pathologien der menschlichen Existenz als Nihilist bezeichnet, der alles will und dafür zweifelhaften Ruhm bekommt, und seinen modus vivendi den der „panischen Produktion“ genannt. Panisch, getrieben und leer, immer auf der Überholspur der eigenen Existenz an sich selbst vorbeirauschend, genauso wirkt der Mann, den Reza porträtiert und über den eine populäre Ministerin sagt, sie spüre nichts, wenn sie mit ihm zusammen sei.
Es liegt nahe, dabei auch an all die dauermobilen, hyperflexiblen Manager, Showsternchen, Alphatiere und andere personifizierte Ego-Trips zu denken, von denen wir im medialen Turbo-Glitzer-Kapitalismus umzingelt sind.
Ein großer Wurf
Auf der anderen Hälfte ihres Porträts lässt Reza einen talentierten und auch sensiblen – ja, vielleicht vor allem verletzlichen – Menschen erscheinen, der eine verkrustete Republik um jeden Preis an seinem kindlichen Überschwang, seiner unerwiderten Lebensenergie teilhaben lassen will. Ein ,Man on a mission‘, der weiß oder zumindest noch nicht völlig verdrängt hat, dass das Leben sehr schwer sein kann für die, denen es nicht viel mitgegeben hat. Ein Mann, der weiß, dass seine Art zu Leben nur die Tage „verbrennt“, auch wenn er das Zündeln doch nicht lassen kann. Einer, der Frankfurt grässlich findet, aber unter der Sonne Südfrankreichs aufblüht, der Menschen gerne auf Distanz hält, aber doch niemals allein sein kann.
Ein Mensch aber auch, dem vom ursprünglichen Feuer des Politischen, der spitzbübischen Begeisterung für all die Finten und Pläne, das Vitale und Elektrisierende am politischen Kosmos nur noch purer Wille zur Macht übrig geblieben ist: „Es ist seltsam, um jeden Preis, um den Preis der größten Entbehrungen, etwas zu wollen, das einen gar nicht mehr erregt, das man nicht mehr liebt. Wenn diese vitalen Zustände fehlen, bleibt nur das Wollen. Das Wollen als Restantrieb. Und zwar, dann doch, ein äußerst machtvoller.“
Rezas Porträt ist ein großer Wurf, gerade weil er vor allem das ist: die Beschreibung einer einzigen großen Leerstelle. Groß ist das Buch im Stil, der ebenjene Leere und die hektische, an nichts und niemandem sich anhaftende Dauerbewegung, das um sich selbst Kreisen des ,Betriebs‘ und seines Vorstandsvorsitzenden Sarkozy schon der Form nach so trefflich einfängt. Und groß ist es, weil Reza eine ausgezeichnete Literatin ist, die von ihrer Hauptfigur nicht mehr wissen will, als diese selbst von sich zu sagen weiß; weil Reza nicht literarisch oder psychologisch deutelnd überformt, wer der Egomane im Elysée ,wirklich‘ ist oder sein könnte und was er deshalb alles mit Sarkozyland anstellen wird, sondern in beinahe jeder Miniatur, jedem knappen Absatz einen weiten Assoziations- und Denkraum öffnet, in dem ihre Leser wie die Figuren auf dem Buchumschlag mitgezogen werden in die Sarko-Welt – freilich ohne dabei die Fähigkeit einzubüßen, einen eigenen, distanzierten Blick auf dieses seltsame politische Tier zu werfen, das nicht weiß, wo es mit all seiner Kraft hin soll.
Melancholie der Macht
Reza hat keine Literature engagée geschrieben. Sie will Sarkozy nicht entlarven oder diffamieren. Und statt ihn auf die Couch zu legen, ist sie an einem Psychogramm seitlich scharf vorbeigegangen. Man könnte auch sagen: sie hat sich nahe liegenden Urteilen enthalten und überlässt die weitere Analyse der tiefenpsychologischen Phantasie ihrer Leser, die sie zu gleichberechtigten Zuschauern macht. Und das ist nicht nur eine Frage guter Literatur, sondern auch der Person Sarkozys angemessen, die mehr und weniger ist als das, was wir alle in sie hineinprojizieren.
Dennoch gesellt sich auf den letzten Seiten des Reports neben die Frage nach dem Warum schließlich gedämpfte Melancholie, ja beinahe Mitleid. Kann es sein, dass da einer einfach nur leben will – und am Ende Präsident wird? Das sieht nach einem gigantischen Umweg aus, und Rezas Buch zeigt, dass der Hauch des Vergeblichen, der das Projekt Präsidentschaft umweht, nicht nur eine politische Komponente hat.
Andererseits sind höchste Staatsämter ja auch nicht das Schlechteste, was einem einsamen Menschen im Leben passieren kann.
Links zum Thema
- Leseprobe von „Frühmorgens, abends oder nachts“ bei Hanser
- Yasmina Reza bei Wikipedia
- Offizielle Homepage des französischen Präsidenten
Zur Person
Christian Dries ist Chefredakteur dieses Magazins.
Literatur
- Yasmina Reza (2008): Frühmorgens, abends oder nachts. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. München, geb., 17.90 Euro.