Wer zählt die Arten, nennt die Namen...?
„Taxonom“, die Datenbank der Bundesagentur für Arbeit kennt diesen Beruf nicht, Fehlanzeige ebenso bei der Suche nach „Systematiker“, „Biosystematiker“ oder „Biodiversitätsforscher“. Offenbar gibt es nicht einmal mehr „Zoologen“ in Deutschland, jedenfalls keine, die Arbeit suchen oder ihre Expertise auf dem freien Arbeitsmarkt anbieten würden.
Taxonomie:
Die Taxonomie umfasst das Vergleichen, Beschreiben, Klassifizieren und schließlich das Vergeben von Namen an natürliche Einheiten der lebenden Natur angefangen mit der Art.
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Im Zuge von Regenwaldabholzung, Überfischung und Klimawandel ist viel die Rede von globalem Artensterben. Ganz unbemerkt ist dabei neben Blauwal, Breitmaulnashorn und Berggorilla noch eine andere Population akut bedroht: die kleine Gemeinschaft der Taxonomen. Weltweit werden noch etwa 6000 freilebende Exemplare vermutet, als hauptberufliche Taxonomen meist in schwer zugänglichen Habitaten, wie den Forschungssammlungen der Naturkundemuseen und Universitäten zu finden. Andere wieder tarnen sich als Ökologen, arbeiten in angewandten Bereichen des Pflanzen- oder Umweltschutzes. Auch in „normalen“ bürgerlichen Berufen ist er zu finden, der Taxonom, der dann in der „Freizeit“ seiner Leidenschaft frönt – dem Beschreiben neuer, nie gekannter Arten.
Wichtige Grundlagenforschung

Taxonomie ist Grundlagenforschung, darin sind sich eigentlich alle einig. Der Begriff wird allerdings oft und gern verwendet, besonders für Forschung, deren unmittelbarer Nutzen nicht abzusehen ist. In diesem Sinne jedoch ist Taxonomie gerade keine Grundlagenforschung, denn eine direktere und allgegenwärtigere Anwendung ihrer Ergebnisse ist für kaum eine Disziplin der Lebenswissenschaften denkbar: Ohne die Taxonomie wären die Biologen aller Fachrichtungen in Bezug auf ihre Forschungsobjekte im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Ob Genetiker oder Physiologe, Mikrobiologe, Pflanzenzüchter, Verhaltensforscher oder Meeresbiologe, sie alle verwenden selbstverständlich Artnamen, die die Organismen, mit denen sie arbeiten, einer Fortpflanzungsgemeinschaft mit einer gemeinsamen evolutionären Geschichte zuordnen und darüber hinaus Gruppennamen (oft bestimmten Kategorien zugeordnet wie Gattung, Familie, Ordnung), die die Zugehörigkeit zu einer Abstammungsgemeinschaft, einem bestimmten Ast im Stammbaum des Lebens kennzeichnen.
Biologische Art:
Der zentrale Begriff der Taxonomie ist die Art (Spezies). Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gibt es bis heute lebhafte Diskussionen darüber, was eine Art überhaupt ist, wie man sie erkennt und gegen andere Arten abgrenzt.
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Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn diese Namen nicht korrekt den entsprechenden Arten zugeordnet sind oder verwendet werden. Keine experimentelle Forschung ist reproduzierbar, wenn sie unbemerkt an einer Mischung verschiedener Arten durchgeführt wird. Keine biologische Schädlingskontrolle kann funktionieren, wenn nicht die Schädlinge und deren Parasiten korrekt bestimmt, das heißt mit dem richtigen Namen belegt werden. Keine Untersuchung eines Ökosystems hat irgendeinen Aussagewert, ohne dass die darin aufgefundenen Arten richtig benannt sind.
Das natürliche System der Organismen, das Ergebnis der Arbeit unzähliger Taxonomengenerationen, ist also das grundlegende Informationsspeichersystem der gesamten Biologie. Alles was wir über die Struktur der Natur auf der Ebene der Arten und über deren Geschichte in der Evolution wissen, ist in erster Linie in der Klassifikation und damit der Benennung der Organismen und Organismengruppen niedergelegt. Jeder Biologe bewegt sich ständig in diesem Rahmenwerk. Es ist die Voraussetzung für Verständigung und jeden Vergleich.
Artenzählung per Gesetz
Damit dieses Informationssystem funktioniert, muss es ganz besonders sicher sein. Daher ist allen taxonomischen Arbeiten „per Gesetz“, den International Codes of Nomenclature, eine ewige Gültigkeit zuerkannt. Das Jahr Null der Taxonomie ist 1758. In diesem Jahr erschien die 10. Auflage von Carl von Linnés „Systema Naturae“. Alle davor vergebenen Namen sind null und nichtig, soweit sie nicht Linné selbst wieder in sein Werk aufgenommen hat, alle später publizierten Namen aber auf alle Zeiten gültig. Man kann die Taxonomie daher ohne Pathos als Jahrhundertwissenschaft bezeichnen. Denn im Gegensatz zu den sonst so flüchtigen Wahrheiten anderer Disziplinen lässt sich hier mit einer jeden guten Artbeschreibung Geschichte schreiben.
System mit Hindernissen
Natürliches System der Organismen:
Auch schon vor Darwin gab es Taxonomen. Sie erdachten die verschiedensten Klassifikationssysteme, um Ordnung in die schier unübersehbare Vielfalt des Lebendigen zu bringen.
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Ein solches System hat in der Praxis allerdings auch seine Tücken. Jeder Taxonom, der heute eine Organismengruppe bearbeitet, muss sich nicht nur mit den Organismen selbst beschäftigen, sondern auch mit der gesamten Taxonomiegeschichte vertraut sein.
Dass die Taxonomie eine alte Wissenschaft ist, heißt umgekehrt aber auch nicht, dass sie veraltet sei. Ihre theoretischen Grundlagen sind so modern, wie der jeweilige neueste Stand der Evolutionstheorie. Die Taxonomie, die durch die Entdeckung einer natürlichen Ordnung Voraussetzung für Darwins Theorien war, ist auch integraler Bestandteil dieser intellektuellen Revolution. Sie ist nicht nur wesentlich für die nahe liegenden, unmittelbar drängenden Fragen nach dem, was da ist oder auch schon nicht mehr da ist. Die genaue Kenntnis dessen, was gegenwärtig ist, ist auch Grundlage für das Verständnis, wie und warum es überhaupt geworden ist. Die Taxonomie und Systematik gelangt so über das Studium der Vielfalt zu den allgemeinsten Aussagen über die Evolution des Lebens und damit auch unserer eigenen Spezies.

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Die Biosystematik verwendet für ihre Suche nach der natürlichen Ordnung die modernsten Methoden. Im Kern ist die Taxonomie zwar immer noch eine Gestaltwissenschaft. Das heißt, es gehört durchaus noch zum Handwerk des Taxonomen, dass er „Borsten zählt“, also einen Organismus genau in Augenschein nimmt und abzeichnet. Darüber hinaus verwendet er aber die aufwendigsten bildgebenden Verfahren, wie Elektronenmikroskopie und 3D-Tomographie. Die automatische DNA-Sequenziermaschine ist ebenso tägliches Handwerkszeug wie der Computer für komplexe Statistik oder Modellrechnung. Dabei werden alle denkbaren Merkmale der Organismen einbezogen, nicht nur ihre Struktur, sondern auch ihr Verhalten. Beziehungen zu Wirtsorganismen sind ebenso wichtig wie akustische Signale. Im Idealfall ist der Taxonom natürlich nicht nur in verstaubten Sammlungen unterwegs, sondern jagt den Objekten seiner Begierde auch in den entlegensten Weltgegenden zu Lande, zu Wasser und in der Luft hinterher.
Allerdings haben die Taxonomen dieser Welt immer öfter das Gefühl, eine schon fast verlorene Schlacht zu schlagen. Grob geschätzt, hat die Zahl der pro Jahr aussterbenden Tier- und Pflanzenarten (womöglich mehr als 25.000) die Zahl der neubeschriebenen Arten (weniger als 22.000) längst überholt. Und obwohl an der Schwelle zum 21. Jahrhundert dem Kampf gegen den Artenschwund von allen Industriestaaten höchste Priorität eingeräumt und die Taxonomie für den Arten- und Umweltschutz als äußerst relevante Wissenschaft anerkannt wird, nimmt die Zahl derjenigen, die überhaupt in der Lage sind, Arten wissenschaftlich zu beschreiben oder auch nur korrekt zu bestimmen, kontinuierlich ab.
Vom Aussterben bedroht?
Woran liegt das? Wie andere Menschen auch, möchten Taxonomen für ihre Arbeit bezahlt werden. Ihre akademische Ausbildung dauert lange. Nach einem Hochschulstudium der Biologie sind je nach bearbeiteter Organismengruppe bis zu zehn Jahren nötig, um sich in Methoden, Literatur und das entsprechende Wissenschaftlernetzwerk einzuarbeiten. Das würden sicher etliche Leute auf sich nehmen, wenn es denn reale Jobperspektiven gäbe. Bis auf ein paar Vollzeitstellen an Museen und Universitäten sind jedoch viele Taxonomen „nebenberuflich“ tätig, sei es als Wissenschaftler, die in angewandten Bereichen arbeiten, oder auch als freie Mitarbeiter an Institutionen. An Hochschulen wird das Fach Taxonomie oder Systematik heute an kaum einem Lehrstuhl noch vertreten. Im besten Falle gibt es noch Zoologen oder Botaniker, die die Grundzüge der Klassifikation kompetent vermitteln können – Altbestände sozusagen.
Ein zentrales Problem ist die Struktur der Wissenschaftsförderung, sie fördert gern „ergebnisorientiert“. Da wissenschaftliche Ergebnisse – besonders kurzfristig – schwer zu bewerten sind, bedient man sich Hilfskriterien, die allesamt für die Taxonomie vollkommen ungeeignet sind und dieses Fachgebiet (in den Statistiken) regelrecht zur Bedeutungslosigkeit verdammen. Das wichtigste Kriterium der Naturwissenschaften zum Beispiel, der sogenannte impact factor, erfasst die Zitierungen von wissenschaftlichen Aufsätzen durch andere Forscher im Zeitraum von drei Jahren nach der Veröffentlichung. Es ist eine Ausnahme, wenn eine gute taxonomische Arbeit in diesem Zeitraum erwähnt wird. Dagegen wird sie aber meist noch nach 50 Jahren zitiert, wenn in anderen Gebieten ganze Disziplinen schon wieder Vergangenheit sind.
Trotzdem gibt es sie noch, die Taxonomen, sie sind offenbar nicht so leicht auszurotten. Ihr Arbeit ist, meist von ihnen selbst, oft als eine Kunst bezeichnet worden. In Fachkreisen hört man das heute nicht mehr so gern, ist die Biosystematik doch um den Ruf einer „harten Wissenschaft“ bemüht. Mit dem Künstler teilt der Taxonom jedoch die Leidenschaft. Auf die Frage „Wer würde weiter arbeiten, wenn man ihm weiter sein Gehalt überweisen würde, ohne dass er jeden Tag zu seinem Arbeitsplatz kommen müsste?“ antwortete der französische Philosoph Michel Onfray kürzlich in einem Zeitungsinterview: „Sehr wenige Leute: Künstler oder die, deren Arbeit durch symbolische Bezahlung oder in Form von Macht über andere vergütet wird, was wohl nur für eine Minderheit zutrifft.“ Taxonomen gehören dazu.
Links zum Thema
- Die „Gesellschaft für Biologische Systematik“ ist die Vereinigung der deutschen Taxonomen.
- „Nationale Initiative für Taxonomie“: Forderung nach einer Ausbildungsinitiative.
- Das „Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin“ beherbergt die fünftgrößte Forschungssammlung der Welt.
- Link zum sciencegarden-Artikel über Erdferkel, Rüsselspringer und das Naturkundemuseum in Berlin.
Zur Person
Andreas Wessel ist Diplom-Biologe und wissenschaftlicher Assistent am Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin.
Literatur
- Rolf Löther (1972): Die Beherrschung der Mannigfaltigkeit. Jena.
- Ernst Mayr (2005): Das ist Evolution. München.
- Matthias Glaubrecht u.a. (Hrsg.) 2007: Als das Leben laufen lernte. Evolution in Aktion. München.