Ingenieurin? Nein danke.
Die Horrorszenarien gleichen sich: Im Jahre 2020 lebt fast die Hälfte der Deutschen nahe der Armutsgrenze, in den Billig-Cafés von Wohlfahrtseinrichtungen bringen Arbeitslose ihre lang werdenden Tage hinter sich, während ein Großteil der Hochschulabsolventen auf Internetplattformen sein Leid über Kräfte zehrende Arbeitssuche und 60-Stunden-Wochen in unterbezahlten Jobs austauscht. Düstere Aussichten.
Doch wie selten bei großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen, sind sich die Urheber des tristen Bildes im Hinblick auf die Lösung auf fast unheimliche Weise einig. Durchgerechnet von einer renommierten Unternehmensberatung, mit offenen Armen empfangen von Lobbyisten und Politik, und nicht zuletzt in alle Lande posaunt selbst von der Qualitätspresse, scheint klar: neue Ingenieure braucht das Land. Knapp 70.000 Absolventen von Ingenieursstudiengängen fehlen laut dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) allein dieses Jahr in Deutschland.
Vor dem Hintergrund eines solch klaren Marschbefehls scheuen die rührigen Truppen weder Kosten noch Mühen, um „mehr junge Leute für die technischen Berufe zu gewinnen“. Nicht nur Kampagnen, auch exklusive studienbegleitende Programme sollen endlich den heiß ersehnten Nachwuchs in die Hörsäle und später in die Unternehmen schwemmen. Allein: der Erfolg ist dürftig, trotz überdurchschnittlicher Gehaltsaussichten. Stimmt da vielleicht etwas nicht mit dem vermeintlichen Traum-Beruf Ingenieur?
Dass Geld nicht stinkt, wissen in der jungen Generation auch nicht humanistisch Gebildete allenthalben. Trotz vermeintlich mangelhafter Wirtschaftskenntnisse allerdings auch, dass es ein schlechter Gradmesser für die Qualität einer Beschäftigung ist. Ein Schelm, der denkt, dass die gute Bezahlung für Ingenieure mehr mit Angebotsknappheit zu tun hat, als mit Anspruch und Bedeutung der Aufgaben. Diesen Umstand vermag auch die gut geölte Werbemaschinerie nur begrenzt wegzuillusionieren, mit der man die intelligentesten jungen Menschen von der Technik begeistern möchte.
Denn wen der Kontrast zwischen vermeintlich sicherer Arbeitslosigkeit anderswo und dem Beschäftigungsparadies Ingenieurwissenschaften überzeugt, war sich seiner Sache entweder schon vorher sicher; oder ist nicht sehr firm im Umgang mit dem Genre „Werbung“. Mit dem Hochglanzimage vom „Macher“ und erst recht vom „Erschaffer neuer Welten“ hat der normale Ingenieurberuf nämlich kaum etwas gemein.
Dabei geht es nicht einmal um die Planungs- und Koordinationstätigkeiten, die mit der Arbeitswirklichkeit fast unvermeidlich einhergehen. Sich allerdings einzureden, mit der erneuten – und ständig wiederholten – Berechnung der Neigung eines Flugzeugflügels oder gar der Konstruktion einer Rückenlehne (beides aktuelle Beispiele aus dem Bekanntenkreis) würde jemand einen bedeutenden Beitrag zu irgendetwas leisten, übersteigt offenbar das Selbsttäuschungsvermögen eines Großteils der Zielgruppe.
Umso ausgeprägter scheint demgegenüber der Wille bei Firmen und Lobbyisten zu sein, nicht nachzusehen, was denn im Getriebe der Nachwuchsgewinnung so schrecklich hakt. Das ist vielleicht auch gut so, denn wer heute zugeben würde, dass die gute Bezahlung nicht etwa eine Prämie für die hervorragende Leistungsbereitschaft junger Menschen ist, sondern lediglich dem Marktpreis bei Angebotsknappheit entspricht, müsste sich womöglich morgen vorhalten lassen, warum er in der Talsohle des letzten Schweinezyklus’ ganze Ställe williger Tüftler verschmäht hat. Stattdessen betreibt man lieber mit Nachdruck die Umdeutung von „gut bezahlten“ zu „wichtigen“ Berufen, die letztlich auch den scheinbar moralischen Appell rechtfertigt, dass man als Ingenieur neben dem eigenen ja zusätzlich auch zum zukünftigen Wohlergehen des Landes beitragen würde.
Aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet, tritt der ganze Zynismus dieser geschickt inszenierten Verdrängung hervor. Schließlich zahlen nicht nur Unternehmen einen Preis für die Arbeitskraft eines Angestellten. Auch diesem entstehen Kosten für den Verkauf seiner Arbeitskraft, neben der unvermeidlichen Zeit zum Beispiel Lebensfreude sowie -sinn und Energie, die einige lieber in etwas anderes stecken würden, als in den gerade marktgängigen Job.
Dabei ist selbst die so freimütig postulierte Nachfrage nach Ingenieuren keineswegs ein unumstößliches Naturgesetz. Nüchtern betrachtet, benötigen wir Sozialarbeiterinnen, Erzieher oder Bäckereifachverkäuferinnen genau so sehr wie technische Berufe. Nur hat sich der gesellschaftliche Konsens seltsamerweise darauf versteift, dass es ein Zeichen von Wohlstand ist, wenn man sich ein Auto für 40.000 oder mehr Euro „leisten“ kann - während die Betreuung der alt gewordenen Großeltern diesen Betrag selbstredend nicht „auffressen“ darf. Das „Wohlergehen des Landes“ beschränkt sich in Verbindung mit dem Ruf nach mehr Ingenieuren also auf ein sehr enges Blickfeld.
Allerdings dürften nicht nur Humanisten ihre Zweifel an dem Unterfangen haben, jemanden mit Geld zu ködern und auf die wundersame Umpolung von brotloser Kunst auf gewinnbringende Technik zu setzen. Auch aus pragmatischer Sicht ist es doch zumindest fraglich, ob Menschen, die sich mit Zuckerbrot und Peitsche in ein Berufsfeld treiben lassen, den Anforderungen an Qualität und Motivation genügen, die die moderne Arbeitswelt mit sich bringt. Dies zu beurteilen, bleibt freilich den Unternehmen überlassen. Und glücklicherweise gibt es ja auch immer wieder einige Menschen, die mit Spaß und Elan in den Ingenieurberuf gehen, ungeachtet von Werbekampagnen und den Mühen, die das entsprechende Studium zweifelsohne mit sich bringt.
Alle anderen sollten wohl besser und auch ungeachtet von Werbeversprechen überlegen, mit welchem Berufsbild sie im besten Sinne des Wortes „leben“ können. Und, wenn das Ergebnis nun mal kein anderes ist, selbstbewusst gegen den Wind rufen: Dipl.-Ing.? Ich? – Nein danke!
Links zum Thema
- Aktuelle Studie der Unternehmensberatung McKinsey zu den Zukunftsperspektiven der deutschen Wirtschaft
- Interview mit dem Präsidenten des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) anlässlich der Hannovermesse 2008
- Berufsspezifische Arbeitsmarktstatistiken des Forschungsdatenzentrums der Bundesagentur für Arbeit
- VDI-Nachwuchsförderprogramm „Elevate“
Zur Person
Christiane Zehrer arbeitet an der TU Braunschweig und hat nichts gegen Ingenieure. Allerdings gegen blinde Technikgläubigkeit und den Versuch, Menschen um jeden Preis zum Ingenieur zu machen.