Kairopolis - Drei Streifzüge durch eine explodierende Stadt
Kairo steht seit Jahren vor dem unmittelbaren infrastrukturellen Kollaps. Die Schätzungen der Einwohnerzahl des Großraums um die ägyptische Hauptstadt schwanken zwischen 15 und 22 Millionen, und mehr als 400.000 Menschen sollen jährlich hinzukommen. Das schlägt sich in einer ebenso bedrückenden wie faszinierenden Stadtstruktur nieder, die von informellen Stadtteilen, Neubaustädten in der Wüste sowie einer europäisch geprägten Innenstadt gebildet wird. Dazu kommt die "Garbage City". In ihr leben die Zabbalin, die Müllsammler, die in einer Art Recyclingsystem den von ihnen eingesammelten Abfall der Stadt trennen und einer weiteren Verwendung zuführen. Den größten Teil Kairos nehmen die so genannten informellen Siedlungen ein, die einst illegal und planlos auf Ackerland errichteten Häusermassen, die heute schätzungsweise 60% der Kairoer Bevölkerung beherbergen.
Kairo ist geprägt von Luftverschmutzung und Stau, großer Wohnungsnot trotz tausender leer stehender Häuser, und in diesen Tagen verschärft sich eine ungeheure Nahrungsmittelkrise, nicht zuletzt weil die Stadt in die ohnehin begrenzten Ackerflächen des Nildeltas auswuchert. Die Struktur und Gliederung der Stadtteile, ihre Bausubstanz und das Gewerbe ihrer Bewohner, der Zustand der Straßen und der sie befahrenden Vehikel legen Zeugnis ab nicht nur von der Gesellschaft Ägyptens und dessen politischem Regime, sondern dem Wesen menschlicher Vergemeinschaftung und den spezifischen sozialen Phänomenen einer globalisierten Welt.
Das Erbe
Islamische Altstadt, Darb al-Ahmar
Östlich des architektonisch von Paris beeinflussten Stadtzentrums aus dem 19. Jahrhundert, ungefähr an dem kleinen Stadtpark Azbakiyya, geht Kairo von seiner europäisch geprägten Mitte in die so genannte Islamische Altstadt über. Hier stoßen Okzident und Orient aneinander. Von Downtown führt eine Hochstraße herüber, von der aus man sieht, dass das Leben in und auf den Häuserkronen weitergeht. Die auf dem Weg von Downtown nach dem Islamischen Kairo abnehmenden Traufhöhen treffen sich hier mit der Trasse, und was sonst aufgrund der Höhe der Innenstadthäuser verborgen bleibt, tritt nun zutage: dass ein Haus in Kairo nie fertig ist, sondern sich in stetem Progress befindet, über sich hinauswächst und wieder zusammensinkt, an den Seiten ausfranst und auf seinem Dach den Zivilisationsschutt der letzten Jahre trägt, bis sich irgendwann ein Wohnungssuchender das Dach zueigen macht und halbwegs einrichtet.
Die Brücke mündet auf eine breite Straße, welche den Husseinplatz und die Al-Azhar-Moschee voneinander trennt. Das Areal linkerhand beherbergt den Khan al-Khalili, den Touristenmarkt, in dessen engen Gassen Silberzeug, Schischas und Plastikpyramiden an vorbeieilende Touristen verkauft werden. Hier ist man Material in den geübten Händen der Tourismushandwerker, die die Besucher mit den immer selben Geschichten in Gespräche zu verwickeln suchen.
Den authentischeren Eindruck macht das Islamische Viertel, wenn man jenseits des Platzes versehentlich ins Gewirr seiner Gassen gerät. Dort gibt es weder Asphalt noch Bordstein. In rüde hochgezogenen Mauern finden sich Fragmente mittelalterlicher, reich verzierter Portale, umringt von profanen Ziegeln und Gesteinsbrocken. Die abgebrochenen Fassaden enden zackig in der Luft. Neben leeren, in den blauen Himmel ragenden Fensterlöchern hängt trocknende Wäsche. Aus den Erdgeschossen wachsen die Lebensmittelgeschäfte und Kramläden auf die Straße, in Nischen verbergen sich zahlreiche Barbiere. Alsbald begegnen Schafe und Ziegen in immer schmaler werdenden Durchgängen. Lehmwände türmen sich neben moderneren, aufgemauerten Stahlbetonskeletthäusern, manche sechs Etagen hoch, von anderen sind lediglich die beiden unteren Geschosse erhalten – das, was darüber war, wer weiß wann eingestürzt. Dann und wann rinnt Licht aus Verschlägen auf den holprigen Weg zwischen den Häuserschluchten. In den Fenstern neugierige Köpfe, Schischa schmauchende Männer in Cafés im Neonlicht gleißender Leuchtstoffröhren. Katzen tummeln sich in Müllhaufen zwischen spielenden Kindern und schnitzenden Tischlern. Hinter einer erzwungenen Kurve hängen Glühbirnen an Stromkabeln zwischen Wimpeln über dem Weg. Kleine Jungs auf Vespas dröhnen vorbei, ein Pickup voller Möbel hupt sich den Weg frei, ein Radio lässt arabische Popmusik in die Winkel plätschern. In einer so spät noch geschäftigen Tischlerei werden Sofa- und Sesselrahmen geschreinert, ein paar Garagen weiter zuammengefügt, bald folgt ein Polsterer, und am Ende steht ein mondänes Sofa funkelnd in dem Schmutz, aus dem es erstand.
Das ist Darb al-Ahmar, das nach der "Roten Straße" benannte Viertel zwischen der alles überragenden Zitadelle und der ehemaligen Königsstadt Al-Qahira. Seit 1979 ist das Areal der so genannten Islamischen Altstadt Weltkulturerbe, das hunderte historische Monumente aus sämtlichen Dynastien umfasst. Dazwischen tobt das normale Alltagsleben, denn das Gebiet ist dicht besiedelt. Einfache Händler und Handwerker leben hier zumeist am Rande des Existenzminimums.
Doch die Häuser und ihre Bewohner sind bedroht. Da es keine Abwasserentsorgung gibt, steigt das Grundwasser. Oft sind die Erdgeschosse schon unbewohnbar. Das Weltkulturerbe ist auch durch alles überragende Neubauten gefährdet, die Bauunternehmer auf den Grundstücken eingefallener Gebäude errichten. Aufgrund einer eigentlich gut gemeinten Wohnungspolitik aus der sozialistischen Ära Gamal Abdel Nassers, die die Mieten seit Jahrzehnten eingefroren hat, wird der Verfall eines historischen Hauses von dessen Besitzer zum Teil bewusst in Kauf genommen. Jahrhundertelang mussten sich die Denkmäler den Bedürfnissen des Alltagslebens unterordnen, was man ihnen nun ansieht. Manches Monument ist unwiederbringlich verloren, einige sind dem Einfallen nahe, doch zwischendurch tauchen auch instand gesetzte, renovierte Moscheen und mittelalterliche Koranschulen auf.
Die meisten dieser Sanierungen sind der privaten Aga-Khan-Stiftung zu verdanken. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, islamische Baudenkmäler in aller Welt vor dem Verfall zu bewahren. Im Gegensatz zu früheren Versuchen, unter Vernachlässigung restaurativer Grundsätze und ohne Bewusstsein für das soziale Leben um die Gebäude herum denkmalschützerisch einzugreifen, stellt die Aga-Khan-Stiftung einen ganzheitlichen Anspruch an ihre Tätigkeit. Sie versucht, das Spannungsfeld zwischen den Erfordernissen des Denkmalschutzes und den Bedürfnissen der vielen Menschen mit ihren gewachsenen Sozialstrukturen sensibel auszubalancieren. "Denn das Viertel", so Dina Bakhoum, eine junge Architektin, die für die Aga-Khan-Stiftung arbeitet und bereits an mehreren Restaurierungsprojekten beteiligt war, "besteht nicht nur aus den Häusern, sondern auch aus deren Bewohnern." Das müsse man bedenken, wenn beispielsweise der Stadtteil autofrei werden soll. Das bunte, traditionell anmutende Markttreiben hat einen ganz profanen, existentiellen Hintergrund: die Menschen leben und überleben hier. Deshalb gelte es auch zu verhindern, dass das Islamische Viertel zu einem reinen Museumsdorf für die Touristen gemacht wird. Das Viertel kann in der Tat nur in seiner Gesamtheit, als Symbiose von Architektur und deren Bewohnern gedacht werden. Die Aga-Khan-Stiftung bezieht daher die Bewohner des Viertels in die Restaurierungsarbeiten mit ein. Für manche Jugendlichen ist das gar die Chance, eine Ausbildung zu erhalten.
Informelle Siedlungen
Manshiet Nasser
Jenseits des Islamischen Viertels, östlich des ebenfalls besiedelten Nordfriedhofs und des neuen Al-Azhar-Parks, beginnt Manshiet Nasser. Das unterhalb des Mokattamfelsens gelegene Wohngebiet, abgeschnitten von einer mehrspurigen Umgehungsstraße, ist eine der größten der so genannten informellen Siedlungen. Informell heißen sie, weil sie gänzlich ohne Plan und Baugenehmigung errichtet wurden. Sie sind weitgehend ohne Infrastruktur geblieben, besitzen jedoch eine enorme Bevölkerungsdichte. In Manshiet Nasser allein leben geschätzte 1,1 Millionen Menschen.
Diese Siedlungen sind Ausdruck der Selbsthilfe einer Bevölkerung, die es zu Hunderttausenden in das Landeszentrum Kairo zieht, weil nur dieses noch die zum Überleben notwendige Infrastruktur zu bieten scheint. Riesige Areale werden besetzt und auf ihnen illegal Häuser errichtet, oder ausgewiesenes Agrarland in Privatbesitz wird vom Eigentümer – ebenso illegal – bebaut, meist für sich selbst und seine Familie, aber auch zum Verkauf. Aus der Luft erkennt man letzteres an der kleinteiligen Parzellierung der Grundstücke, deren Bebauung der ursprünglichen Musterung der Felder folgt. Andere Gebiete, zu denen Manshiet Nasser gehört, wuchern gänzlich ohne Struktur.
Straßen und Gassen schlingen sich als unbefestigte Trampelpfade zwischen den nahezu zu 100 Prozent bebauten Einzelgrundstücken durch. Dabei erreichen die Häuser oft sechs Stockwerke oder mehr. Errichtet werden sie in der klassischen, in Kairo überall angewendeten Mischbauweise. Eine beauftragte Baufirma setzt ein Stahlbetonskelett jenseits jeder Sicherheits- oder Bauvorschrift. Schlichte, knallrote Ziegelwände werden dann individuell auf die Zwischendecken gemauert. Es gibt kein wirkliches Dach, das das Haus zum Abschluss bringt, sondern die Betonpfeiler ragen lose in den Himmel. Aus ihnen staken viel zu dünne Eisenstangen in die Luft. So es nötig wird und genügend Geld zur Verfügung steht, etwa wenn der Sohn heiratet, wird eine weitere Etage oben aufgesetzt. Oft fehlt der Wasser- oder Stromanschluss, weswegen wohlkalkuliert in einigem Abstand Moscheen errichtet werden, die mit dem Nötigsten zu versorgen der Staat verpflichtet ist. Davon profitiert dann auch die unmittelbare Umgebung.
In Vierteln wie diesem spiegeln sich die zentralen Probleme der so genannten Dritten Welt: Bevölkerungsexplosion, Armut, Bildungsdefizite, die Hilflosigkeit der Institutionen, die Radikalisierung der Religion und Terrorismus. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger Vernachlässigung. Hier ist kein Weltkulturerbe für Ägyptens Tourismusindustrie zu retten. Interessant ist Manshiet Nasser lediglich als potentielles Bauland geworden, seit sich die Stadt dermaßen ausgedehnt hat, dass das Armenviertel in ihr Zentrum gerückt ist. Aber eine Million Menschen sind nicht mehr ohne Weiteres zu vertreiben.
Erst die gewalttätigen und fundamentalistischen Eskalationen der frühen 1990er Jahre sowie die jüngsten Anschläge gegen touristische Ziele ließen die Regierung und ausländische Hilfsorganisationen ihr Augenmerk auf diese Stadtteile richten. Inzwischen ist man bemüht, mit der Hilfe ausländischer Entwicklungshilfeorganisationen, wie der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die größten infrastrukturellen Missstände abzustellen.
Diese Missstände teilen alle informellen Gebiete Kairos. Iman und ihr Mann Sayed wohnen mit ihren drei kleinen Kindern in der informellen Siedlung Arab al-Ghuneim weit im Süden des Großraums Kairo bei Helwan. Jeden Tag fährt die 32-jährige mit Mikrobus und Metro zum Putzen in den reichen Vorort Maadi.
Das dreietagige Haus, in dem sie leben, gehört Sayeds Mutter, die im Erdgeschoss wohnt. Er selbst und seine Familie bewohnen zwei winzige Zimmer darüber, und sein älterer Bruder hat sich noch ein weiteres Stockwerk darauf gebaut. Ein Zimmer ist von einem Doppelbett und einem Schrank ausgefüllt, in dem anderen, das als Aufenthaltsraum und Kinderzimmer dient, stehen zwei Betten an bekritzelten Wänden. In einem ansonsten fast leeren Regal steht ein alter Fernseher.
In den vierziger Jahren sei sein Vater als Landloser aus Oberägypten nach Kairo gekommen, um dort als Tagelöhner zu arbeiten, erzählt Sayed. Das Areal der heutigen Siedlung war damals noch Wüste. Zuerst wurden kleine Bretterverschläge errichtet, später kamen befestigte Häuser hinzu. Der 34jährige ist in diesem Haus aufgewachsen. Zwei Jahre ist er in eine Schule gegangen, dann musste er als Zwölfjähriger seinem alten Vater bei der Arbeit helfen. Iman, aufgewachsen in einem Dorf in Oberägypten, hat nie eine Schule besucht und kann weder lesen noch schreiben.
Wo das Leben besser ist? Auf dem Land seien die Traditionen noch viel lebendiger. Aber in einem ungestörten Moment erzählt Iman von der Macht des Vaters und des Bruders auf dem Dorf. Das Leben in der Stadt sei daher auf jeden Fall vorzuziehen. Natürlich gäbe es hier einiges zu verbessern. Wasser und Strom gibt es in der Siedlung, aber als nächstes müsse der Müll beseitigt werden. Die 40 Piaster für eine dreiminütige Mikrobusfahrt bis zur Metrohaltestelle hält sie für zu teuer, und überhaupt bräuchte es hier eine Preiskontrolle für die Waren des täglichen Bedarfs. Sayed wünscht sich endlich asphaltierte Wege. Und ihre kleine Tochter erzählt von der großen Straße vor der Schule, auf der häufiger Kinder angefahren würden.
Neue Städte
Al-Rehab
Nur über Autobahnen sind die neuen, in der Wüste liegenden Satellitenstädte wie 10. Ramadan, 6. Oktober oder Al-Rehab zu erreichen. Letztere ist Teil des seit einigen Jahren groß angelegten Bauprojektes New Cairo City, eine Neustadt für 2,5 Millionen Menschen. Der am Reißbrett entworfene Stadtteil Al-Rehab umfasst insgesamt zehn Bauabschnitte und soll allein einst 200.000 Einwohner beherbergen. Nach einer halben Stunde Autofahrt gelangt man von Kairo aus an seine Tore, an denen ein Sicherheitsdienst wacht.
Al-Rehab ist die erste ausschließlich von privaten Bauträgern errichtete Stadt in Ägypten. Hier gibt es einen Klub für Sport- und Kulturaktivitäten, Kinos, Restaurants, medizinische Versorgungseinrichtungen und eine eigene Polizeistation. Kürzlich wurde, der stetig steigenden Bevölkerungszahl Rechnung tragend, die zweite Shopping Mall eröffnet. Es gibt mehrere Moscheen, eine Kirche ist im Bau. Die Anlage der Stadt, die auch den Vergleich mit einer großen Hotelanlage zuließe, erinnert in ihrer Struktur an den "Komplexen Wohnungsbau" in der DDR: Neubaugebiete wurden inklusive aller gesellschaftlichen und infrastrukturellen Institutionen geplant und gebaut, so dass sie weitgehend selbständig funktionieren konnten. Doch während die Neubaugebiete des Ostblocks als Arbeiterviertel konzipiert wurden, ist Al-Rehab eine Stadt für die Ober- und obere Mittelschicht. Aus Stadtteilen wie diesen stammen die Studenten der großen Privatuniversitäten und -schulen in der Kairoer Innenstadt. Eine eigene Buslinie, mit werbeagenturgeneriertem Stadtemblem versehen, verbindet Al-Rehab mit der weit entfernten Metrostation. Kairo bleibt auch für diese Satellitenstadt der Dreh- und Angelpunkt.
In der Anlage wird überall noch rege gebaut. Es gibt Bereiche mit größeren, blockartig arrangierten Häusern, aber auch kleinteiligere, exklusivere Bebauung mit Reihenhauscharakter sowie Luxusvillen. Die Häuser, obgleich ebenfalls in Stahlbetonskelett-Ziegel-Mischbauweise errichtet, sind sämtlich verputzt. Farblich dominieren Pastelltöne und reichlich postmoderner Schnickschnack. Die Fassaden der Villen sind mit Runderkern, Stuck und klassizierenden Balkonbrüstungen eklektizistisch zu Traumhäusern herausgeputzt worden. Überall gibt es Grünanlagen, Bäume und Palmen.
Wasserprobleme gebe es kaum, meint die schon seit einigen Jahren hier lebende deutsche Lehrerin Iris, und im Gegensatz zu Medinet Nasser, einer Planstadt der 1960er Jahre, oder den weiter entfernt gelegenen Wüstensatelliten, wo es passieren könne, dass man vier oder mehr Tage ohne Wasser oder sogar ohne Strom auskommen müsse, falle in Al-Rehab höchstens mal für ein paar Stunden das Wasser aus. Der Anblick der weiten Rasenflächen lässt indessen die Tatsache vergessen, dass man sich mitten in der Wüste befindet. Die Siedler in Manshiet Nasser verbringen den Tag damit, Wasser vom öffentlichen Anschluss am Fuß des Berges in Schüsseln zu ihren Häusern zu schaffen.
Die lähmende Verzahnung von Wirtschaft, Politik und Religion
Die Bemühungen um die Dezentralisierung der Stadt, wie sie sich im Bau von Neubaustädten in der Wüste äußern, fördern eine Segregation der Bevölkerungsschichten. Während die Oberschicht in die neuen, gut versorgten Planstädte zieht, bleiben die ärmeren Bevölkerungsteile zurück. Damit wird die ohnehin schon sehr ausgeprägte Klassengesellschaft Ägyptens weiter zementiert. Obwohl auch Industrieareale ausgelagert werden, um den Bevölkerungsdruck auf Kairo zu mindern, können sich die Arbeiter der Fabriken die eigentlich für sie geplanten Neubauwohnungen nicht leisten. Sie werden zwangsläufig zu Pendlern, was das Verkehrschaos zusätzlich verschärft.
Für einen Bauherren bedeutet die gesetzliche Deckelung der Mieten, dass sich für ihn lediglich der Verkauf, nicht die Vermietung einer Immobilie lohnt. Das schließt ärmere Bevölkerungsschichten vom Bezug einer Neubauwohnung aus. Sie können sich nur in die informellen Siedlungen zurückziehen, die dadurch ständig wachsen und mehr und mehr Agrarland besetzen.
Da sich Investitionen und Entwicklungshilfen aufgrund des wachsenden Bevölkerungsdrucks auf Kairo konzentrieren, nimmt unvermeidlich die Zuwanderung aus anderen Landesteilen weiter zu. Damit ist ein Teufelskreis angestoßen, den anzuhalten wohl noch lange ein Kampf gegen Windmühlen bleibt.
Und noch ein weiterer Aspekt wirft einen bemerkenswerten Schatten. Die Wohnungsnot in Kairo sowie die vorübergehende Möglichkeit, als ägyptischer Gastarbeiter in den Golfregionen relativ viel Geld zu verdienen, ließ für junge Männer den Besitz einer eigenen Wohnung zur Bedingung einer Heirat werden. Nur ansatzweise zu ermessen ist, welcher Druck angesichts des im Islam untrennbaren Zusammenhangs zwischen Sexualität und Ehe auf den Heiratswilligen lastet. Dieser Umstand ließ an den Ausfallstraßen um die Stadt riesige Blockareale aus dem Boden schießen, die zehn, manchmal zwanzig Jahre leer stehen, bis ein Neugeborener ins heiratsfähige Alter kommt. Die Großeltern finanzieren ab der Geburt eines Enkels den Bau, der oft auch solange andauert und von Bauunternehmen organisiert wird. Dieses System nennt man den "Ägyptischen Bausparvertrag". Aufgrund des Mieterschutzgesetzes werden diese Wohnungen nicht zwischenvermietet, weil ein einmal eingezogener Mieter nicht mehr kündbar ist.
Angesichts der massiven Probleme Kairos und Ägyptens steht die Frage im Raum, ob und wie stadtplanerische Eingriffe erfolgen können oder sollten. Dieselbe stellt sich im Umgang mit den Schrumpfungsphänomenen nicht nur in Ostdeutschland. Die engmaschige Kausalität verschiedenster Faktoren der Stadtentwicklung, so haben bisherige Erfahrungen gezeigt, erzeugt nicht planbare Sekundär- und Tertiäreffekte, deren oft negative Folgen vorher nicht abzusehen sind. Stadtplanung kann, so das eher pessimistische Fazit, Entwicklungen daher lediglich begleiten, aber nicht steuern. Für Kairo und andere Metropolen der so genannten Dritten Welt muss sich die Planung zuerst auf die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Wasser konzentrieren. Mittelfristig ist die politische wie religiöse Liberalisierung der Gesellschaft Ägyptens einzige Hoffnung.
Links zum Thema
- STADTanSICHTen Kairo. Bauen und Planen für übermorgen. Ein Ausstellungsprojekt der ifa-Galerien Stuttgart und Berlin.
- Eine Initiative der GTZ in den informellen Siedlungen Kairos.
- Die offizielle Homepage der Wüstenstadt Al-Rehab.
Zur Person
Marcel Raabe lebt in Leipzig und studierte bis 2007 Germanistik/Literaturwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Dresden. Danach hielt er sich drei Monate in Kairo auf. Mit seinem Text über Stadtentwicklung in Kairo hat er den ersten Preis beim sciencegarden-Schreibwettbewerb gewonnen.