Man darf sich nicht zum Sklaven des Autos machen
sg: Herr Professor Wermuth, wie wird die typische Stadt in dreißig oder fünfzig Jahren aussehen?
MW: Im Gegensatz zu den Futurologen, die immer so wahnsinnig viele Veränderungen voraussagen, denke ich, dass sie auch nicht viel anders aussehen wird als die Stadt heute.
Allerdings gibt es zwei unterschiedliche Ansätze, was die Bevölkerungsentwicklung angeht.
sg: Welche Ansätze sind das?
MW: Da muss ich weiter ausholen. In den letzten vierzig Jahren sind die Städte ausgeblutet. Sie haben viele Einwohner ans Umland verloren. Es wurde geheiratet, Kinder kamen und dann wurde ein Haus gekauft. Für die Kinder wollte man es grün haben, mit wenig Autoverkehr. Zudem war das Land im Umland auch noch billiger als in der Stadt. Dieser Verlust der Städte, nicht nur an Menschen, sondern auch an Einkommenssteuer beispielsweise, hat sie – staatlich gefördert durch die Eigenheimzulage! - beinahe in die Pleite getrieben.
sg: Aber daran hat sich ja auch nichts geändert, dass junge Familien gern ins eigene Häuschen ziehen wollen.
Professor Wermuth
hat an der TU München Mathematik, Statistik und Operations Research studiert. Nach einer langjährigen Tätigkeit am Institut für Verkehrs- und Stadtplanung an der TU München, wurde Professor Wermuth 1981 Professor für an der TU Braunschweig und 1989 geschäftsführender Leiter des Institutes für Verkehr und Stadtbauwesen. 2007 ging Professor Wermuth in den offiziellen Ruhestand.
MW: Da haben sie recht. Verstärkt wird dieser Trend vielleicht noch dadurch, dass wir durch die modernen Kommunikations- und Informationsmedien die Möglichkeit haben werden, an einem Ort zu wohnen und ganz woanders zu arbeiten. Man braucht gar keinen physischen Verkehr mehr zu erzeugen.
Aber es gibt auch die anderen, die meinen, dass wieder in die Stadt gezogen wird. Das ist die Hoffnung der Architekten, der Stadtplaner. Dafür gibt es Anzeichen.
sg: Warum vermutet man, dass es nun wieder eine Rückbesinnung auf die Stadt gibt?
MW: Die Menschen, die ins Umland gezogen sind, werden älter und können plötzlich nicht mehr das Haus, den Garten bewirtschaften. Sie wollen zurück in die Stadt: Dort muss man nicht mehr soviel Auto fahren, die medizinische Versorgung ist besser. Im Idealfall findet man eine schöne Altbauwohnung, von der aus man alles zu Fuß erreichen kann. Hinzu kommt, dass sich die Städte zunehmend bemühen, Menschen in der Stadt zu halten, also beispielsweise neue Baugebiete ausweisen.
sg: Was ist die Motivation der Stadt für solche Maßnahmen, denn eigentlich ist es für sie ja billiger, wenn die Menschen im Umland wohnen?
MW: Neben dem Verlust an Steuern muss die Stadt die zentralen Einrichtungen und die Infrastruktur zum Beispiel für den Verkehr vorhalten. Der Nachteil durch die Abwanderung besonders im Verkehrsbereich ist erheblich. Früher, in der Stadt, ging man zu Fuß, fuhr mit dem Fahrrad oder mit Bus oder Straßenbahn. Im Umland geht das nicht mehr, auch der Anschluss an das öffentliche Verkehrsnetz ist schlechter. Es werden neue Autos gekauft und alle Wege mit dem Auto zurückgelegt. Aufgrund der vielen Fahrzeuge, die aus dem Umland täglich in die Stadt fahren, soll dann die Stadt breitere Straßen und mehr Parklätze vorhalten. Das sind erhebliche Kosten. Von den Umweltkosten mal abgesehen. Es ist aber auch nicht die perfekte Lösung den öffentlichen Verkehr stark auszubauen. Schaffe ich eine gute öffentliche Anbindung, um die bestehenden Bedürfnisse zu befriedigen, so führt das auch dazu, dass noch mehr Menschen ins Umland ziehen. Und ganz schnell reicht der geplante öffentliche Verkehr nicht aus und was machen die Menschen dann? Es geht wieder zurück ins Auto. Deshalb bin ich der Meinung, dass man die Menschen in der Stadt halten sollte. Darüber hinaus muss man den Pkw-Verkehr steuern, wie auch den ÖPNV fördern.
sg: Bleiben wir beim Auto. Welche Tendenzen sehen sie da?
MW: Ganz wichtig ist die Frage nach den Auswirkungen der Energieverknappung, doch um dies vorher sagen zu können, braucht man eine Kristallkugel. Eines ist aber klar: ein deutliches Sinken der Spritpreise ist unwahrscheinlich; sie werden eher weiter steigen. Bleibt die Frage, wie sich alternative Antriebs- und Energieformen entwickeln werden. Denken wir 50 Jahre voraus, so wird das relevant sein, aber für die nächsten 20 Jahre sehe ich da noch keine große Änderung voraus.
Wörter…
Demografischer Wandel / Pillenknick:
Unter dem demografischen Wandel wird ganz allgemein die Unterschreitung der Sterberate durch die Geburtenrate verstanden. In der aktuellen Diskussion wird damit der starke Rückgang der Geburtenzahlen zum Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre bezeichnet. Da dieser Rückgang mit der Einführung und breiten Verfügbarkeit der Antibabypille zusammenfällt, wird diese Phase auch als Pillenknick bezeichnet.
Modal Split:
Unter Modal Split wird die Aufteilung der Transportvorgänge auf unterschiedliche Verkehrsmittel verstanden.
Out-of-Pocket-Kosten:
anfallende und direkt zu zahlenden Kosten.
sg: Sehen Sie einen Grenzwert bei den Benzinkosten?
MW: Zur zweiten Energiekrise 1973 gab es damals eine Umfrage des Magazins Stern: Was würden Sie tun, wenn das Benzin 3 Mark kosten würde? Aktuell lag der Preis damals so bei 80 Pfennigen. 80 Prozent der Leute haben damals gesagt: Dann fahre ich nicht mehr Auto. Sicherlich muss man bei einer Bewertung auch die gestiegenen Einkommen und Lebenshaltungskosten berücksichtigen. Heute sind wir bei ein Euro fünfzig, also bei drei Mark angelangt und sie sehen, dieser Preis hat fast keine Auswirkungen. Ich denke, eine Grenze, bei der ein Umdenken beginnt, liegt so bei zwei Euro fünfzig bis drei Euro. In Deutschland spart man ungern am Autofahren, eher noch am Essen.
sg: Und gibt es neben den Energiekosten noch weitere Einflüsse zu berücksichtigen?
MW: Für den Verkehr wird es interessant werden, welche Auswirkungen die einschneidenden Gesetze der kommenden Jahre haben werden. Seit 2005 gibt es bereits die Feinstaubverordnung. Zwar wussten die Städte schon lange, dass diese Verordnung kommt, aber es wurde nicht vorgesorgt. Und als es soweit war, blieb nur die Zeit für radikale Lösungen: Durchfahrten sperren, Umweltzonen einführen. Bereits 2010 kommt das Gesetz zur Begrenzung von NO2 und 2012 die Verpflichtung zu Lärmschutzplänen. Man wird dann nicht umhinkommen, Verbote, also ordnungspolitische Maßnahmen oder, was wir befürworten, preispolitische Maßnahmen einzuführen.
sg: Was verstehen sie unter preispolitischen Maßnahmen?
MW: Es wird eine Form der PKW-Maut kommen. Ansätze für solche Systeme gibt es u. a. bereits in London und Oslo. Dank der neuen Informations- und Kommunikationstechniken werden wir nicht nur die Möglichkeit haben, den Fahrer zu entlasten und zu informieren, so wie das mit den heutigen Fahrerassistenzsystemen der Fall ist, sondern wir werden diese intelligenten Systeme auch zur Verkehrsorganisation - Verkehrsmanagement ist das Schlagwort – verwenden. Das Befahren der Straßen wird mit Gebühren verbunden sein, wobei die Höhe der Gebühren von unterschiedlichen Aspekten wie beispielsweise Tageszeit, Wochentag oder befahrenem Bereich abhängig sein kann. Dort, wo viel Verkehr ist, wird es teuerer. Wir plädieren für das preisliche System, weil es absolute Verbote vermeidet, aber dennoch steuernd eingreift, Verkehrsspitzen abbaut und die Nutzung umweltschonender Verkehrsmittel fördert.
sg: Ist ein solches Vorgehen sozial zu vertreten?
MW: Ein Argument gegen preisliche Lösungen ist immer das der Zwei-Klassen-Gesellschaft: Ich tue es nicht gern, es ist nicht schön, aber ich sage es trotzdem: Den Pelzmantel bekommt nicht der, der friert, sondern der, der ihn bezahlen kann.. Das ganze Leben richtet sich danach. Mit Vernunft-Appellen erreicht man, zumindest was die Verkehrsmittelwahl angeht, gar nichts.
sg: Haben sie dafür ein Beispiel?
MW: Nehmen sie den Katalysator. Die Einsparungen an Umweltgiften durch ihn sind enorm, etwa 90 Prozent. Die prognostizierten Werte werden aber nicht erreicht, weil in letzter Zeit zunehmend Dieselfahrzeuge verkauft werden, bei denen der Verbrauch zwar günstiger und damit die out-of-pocket-Kosten niedriger sind. Der Einspareffekt bei den Umweltgiften ist jedoch deutlich geringer und damit ist das Diesel-Auto für die Umwelt deutlich schlechter.
sg: Wie lange wird es ihrer Meinung nach noch dauern, bis solche intelligenten Verkehrsmanagementlösungen zum Einsatz kommen?
MW: Es gibt ja bereits Toll Collect, das System für die LKW-Maut, und das funktioniert. Technisch gesehen kann es vermutlich sehr schnell gehen. Und die Städte haben doch gar keine andere Wahl! Der Druck auf die Verantwortlichen wird von allen Seiten hoch sein.
sg: Und wie sieht es mit dem Öffentlichen Verkehr aus?
MW: Vielleicht ein paar Zahlen. 1961 gab es 6 Millionen Berufspendler, also Personen die von einer Gemeinde in eine andere gefahren sind. Davon fuhr ein Drittel, also zwei Millionen, mit dem Auto. 1995 hatten wir – immer auf die alten Bundesländer bezogen - 10 Millionen Pendler, von denen 8 Millionen mit dem PKW gefahren sind, also das Vierfache. Dabei sollte gerade der Berufsverkehr, der täglich dieselben Strecken nutzt, gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abzuwickeln sein, sollte man meinen! Dazu braucht der Fahrgast aber auch eine gute Anbindung an den Öffentlichen Verkehr. Ein Baugebiet aber, das weit entfernt vor den Toren einer Stadt liegt, ist für den Öffentlichen Verkehr wirtschaftlich nicht zu bedienen. Deshalb empfehlen wir, Baugebiete entlang von ÖPNV-Entwicklungsachsen auszuweisen.
sg: Und da, wo es die Anbindung gibt: Wo sehen Sie da Ansatzpunkte?
MW: Wir müssen die Menschen an der Bettkante abholen. Anfang der neunziger Jahre gab es hier einen Vortrag des Entwicklungschefs eines namhaften Automobilkonzerns, der seine Vision für den Verkehr im Jahr 2000 vorstellte. Man fährt erst einmal mit seinem Auto los in die Stadt. Wenn der Stau zu dick wird, dann wird man von einer freundlichen Frauenstimme aus dem Navigationsgerät zum nächsten Parkplatz gelenkt und steigt von dort in ein öffentliches Verkehrsmittel um. Doch ich habe damals schon gefragt, warum muss ich dann überhaupt mit dem Auto losfahren? Am besten wäre es doch, die freundliche Frauenstimme empfiehlt nach Prüfung der aktuellen Verkehrssituation gegebenenfalls gleich mit dem öffentlichen Verkehrsmittel oder mit dem Fahrrad zu fahren.
sg: Wo sehen sie Bereiche im Verkehr, wo umgedacht werden muss?
MW: Mittel- und langfristig denken, nicht kurzfristig! Die Politik ist meist nur an kurzfristigen Lösungen interessiert. Sie will innerhalb einer Wahlperiode Erfolge vorweisen. Der demografische Wandel durch den Pillenknick zwischen 1968 und 1973 beispielsweise wird von uns schon seit Jahren in unseren Prognosen, Plänen und Gutachten berücksichtigt. Die Gesellschaft aber hat scheinbar erst vor drei, vier Jahren festgestellt, dass es da ein Problem, besonders ein Problem mit den Renten, gibt. Wir wissen das seit 1975! Die Politik wusste das auch! Aus Kindern, die nicht mehr geboren werden, können keine Erwachsenen werden.
sg: Wo liegen zur Zeit die Forschungsschwerpunkte?
Studiengang Mobilität und Verkehr
In dem neuen Braunschweiger Studiengang Mobilität und Verkehr wird eine gesamtheitliche Sichtweise auf den Verkehr vermittelt: von psychologischen und bevölkerungsbezogenen Aspekten über Flächenbetrachtungen bis hin zum Fahrzeug. Zur Organisation des Studiengangs müssen fünf Fakultäten zusammenarbeiten! Nähere Informationen zum Studiengang unter www.tu-braunschweig.de/move.
MW: Im Moment ist die Forschung im Verkehr sehr stark konzentriert auf Verkehrsmanagement. Es gibt enorme Forschungsmittel, um die Frage zu klären, wie man die Ampeln in der Stadt so steuern kann, dass es zu möglichst wenigen Staus kommt. Solche Steuerungen funktionieren aber nur dann, wenn auch die Menschen sinnvoll und kooperativ fahren!
Der zweite Forschungsschwerpunkt, hinter dem vor allem die Automobilindustrie steht, aber an dem auch die Hochschulen beteiligt sind, sind die ganzen zusätzlichen Einrichtungen im Auto. Dazu gehören vor allem auch die Fahrerassistenzsysteme. Deren Einsatz hat bis heute schon stark dazu beigetragen, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen.
sg: Auf der anderen Seite, worauf sollte man mehr Aufmerksamkeit lenken?
MW: Wo heute weniger Geld ausgegeben wird, ist beispielsweise zur Erforschung der Frage, ob die Infrastruktur ausreicht, wo sie erweitert werden muss und wie man die Leute zu einem vernünftigen Verkehrsverhalten bringt. Allerdings geht es dabei nicht nur um gute Forschungsergebnisse, sondern auch um deren Umsetzung. Bei der Realisierung gibt es immer Hinderungsgründe. Für die Autobahn A39, das kurze Stück rund um Braunschweig herum, wurde bereits 1971 mit der Planung begonnen und wenn alles gut läuft, dann wird sie nächstes Jahr, also nach fast 40 Jahren, endlich eröffnet werden. Mit der Planung der Regiostadtbahn durch Braunschweig haben wir schon vor 20 Jahren begonnen und heute ist noch nicht einmal die Finanzierung gesichert.
sg: Gibt es einen weiteren Punkt?
MW: Ich glaube, dass der ganze Komplex Gesellschaft – Wohnen, Arbeiten und natürlich Freizeit, die man nicht vergessen darf – als Gesamtbetrachtung gesehen werden muss. Wir haben versucht, dies unseren Studierenden zu vermitteln. Um dies noch besser zu erreichen, gibt es in Braunschweig seit einem Jahr den Studiengang Mobilität und Verkehr.
sg: Eine Frage zum Abschluss: Glauben Sie, dass das Auto uns für die nächsten dreißig, fünfzig Jahre erhalten bleiben wird oder denken Sie, dass es bessere, andere Lösungen geben wird?
MW: Ich glaube nicht, dass es etwas grundlegend Neues geben wird. Die Autos werden immer perfekter werden und ich hoffe sehr, dass die öffentlichen Verkehrsmittel diese Technik übernehmen werden. Ich denke, dass die öffentlichen Verkehrsmittel mehr Image brauchen und auch gewinnen werden. Außerdem: Hat das Auto ein Kratzer, so ist das eine Katastrophe. Aber dass es kaum eine Straßenbahn gibt, in der nicht die Fenster zerkratzt sind, dass interessiert keinen. Dabei bezahlen im Endeffekt wir alle dafür. Doch es ist nicht im Bewusstsein des Bürgers, dass auch die Straßenbahn ihm gehört.
Das eigene Auto wird seinen Platz nicht verlieren. Aber man darf sich nicht zum Sklaven des Autos machen.
Wie funktioniert ein Verkehrsmanagementsystem?
Autofahrer N.N. wohnt im eigenen Häuschen im Grünen. Damit der Besuch in der Stadt nicht zu teuer wird, wählt er einen verkehrsarmen Wochentag außerhalb der morgendlichen und abendlichen Stoßzeiten. Er will am Rande der Innenstadt parken und läuft lieber ein paar Meter, anstatt bis an Ort und Stelle zu fahren. Das spart Geld. Als er feststellt, dass er nächste Woche noch mal in die Stadt muss, beschließt er, alle Besorgungen um ein paar Tage zu verschieben und dann alles mit einer Fahrt zu erledigen. Das spart nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch richtig viel Geld...
Links zum Thema
- Projektbeispiel Bau+Um+Land
- Institut für Verkehr und Stadtbauwesen an der TU Braunschweig
- Link zum Studiengang Mobilität und Verkehr
Zur Person
Birgit Milius ist Redakteurin von sciencegarden.
