Rufname: Manifestchen
Man stelle sich vor, wir brächten sie miteinander ins Gespräch. Einen Soldaten, einen Ölarbeiter und einen der Einheimischen, in dessen Land beide Dienst tun. Man stelle sich vor, sie erkennten die paradoxe Situation: Dass der Soldat sein Leben aufs Spiel setzt, um die Ölarbeiter vor den Partisanen und Selbstmordattentätern aus der Mitte der Einheimischen zu beschützen. Dass der Ölarbeiter sein Leben aufs Spiel setzt, weil er keine andere Möglichkeit sieht, genug Geld für seine Existenz und die seiner Familie zu verdienen. Und dass der rebellierende Einheimische eigentlich gegen jene Abwesende rebellieren will, von deren Geld und Gutdünken Soldat und Arbeiter abhängen. Der Einheimische fühlt sich beraubt und tötet die, die sich von denselben Abwesenden – Leuten, Kartellen, Gegebenheiten – betrogen fühlen.
Nach dem Erkennen kommt die Tat: Ändern können die Betroffenen an der Situation nur etwas, wenn viele Arbeiter mit vielen Soldaten mit vielen Beraubten zusammenstehen. Man stelle sich vor, eine internationale Organisation würde dafür sorgen.
„Die Biologin ist Sozialistin, aber keine von der sentimentalen Sorte, der die Armen leid tun und die es gut mit allen Menschen meint. Sie gehört zu denen, die ihren Idealismus auf den nüchternsten Befunden der Naturwissenschaften errichtet haben, ihren Sozialismus auf dem Eigeninteresse und ihre Freiheit auf der Notwendigkeit. Radikal demokratisch denken; nicht aus Jux und Humanismus, sondern weil Gesellschaften, in denen die Mehrheit unmündig erzogen ist, dazu neigen, beim erstbesten Engpaß in blutige Angstbeißerei abzurutschen.“
Im Dienste des Erkennens hat Dietmar Dath „Maschinenwinter geschrieben. Die internationale Organisation ist das Fernziel, für das er mit seiner Streitschrift motivieren will – mit dem „Manifestchen“, wie Freunde des Textes ihn rufen. 130 Seiten, die neben Programm, Kritik und Analyse unserer Gesellschaft viel Witz enthalten. Hinter Leichtigkeit und Sarkasmus aber stecken – ziemlich geballt – ernste und komplexe Sachverhalte. Der Untertitel „Streitschrift“ provoziert – und man sollte genau lesen, bevor man dagegen anstreitet. Denn es sind feine Unterschiede, die diesen Autor unterscheiden von platter populistischer Links-Rhetorik.
Der Text ist streitbar, der Autor ist es. Genie oder Scharlatan ist die Frage, die sich Meinungsführer der Kritikerszene stellen, seit sie Dietmar Dath nicht mehr übersehen können; weil es der Suhrkampverlag ist, der seit 2005 Daths 14.,15., 16., 17. und mit ‚Maschinenwinter’ das 20. Buch herausbringt.
Dietmar Dath ist als kommunistischer Schriftsteller bekannt; ‚Maschinenwinter’ ist nach einigen Romanen eine programmatische Schrift, ein Aufruf, den Sozialismus neu zu denken.
Raus aus den Denkschubladen
Als Ross auf dem Weg dahin hat Dietmar Dath sich und seinen Lesern Darwins Evolutionstheorie gesattelt. Der Steigbügel ist geschmiedet aus rationalem Denken, Notwendigkeit, Verstand. Der Text ist ein personifizierter Dialog der Wissenskulturen. Zwischen ihm, der aus der politischen Philosophie und der Physik Argumentierenden, und seiner Dialogpartnerin, einer Biologin, die ihm die Darwin’sche Evolutionstheorie als Argumente tragendes Reittier heranführt.
„Die Behauptung, daß die Idee (…) sich mit dem Debakel des Ostblocks erledigt habe, gleicht einer Kunstkritik, die aus der Tatsache, daß es schlechte moderne Malerei und miese moderne Lyrik gibt, ableiten wollte, daß nichts über den röhrenden Hirsch oder den Knittelvers hinausgehen soll. Wirksame Mittel sind erfunden. Sie aufzugeben kann kein Fortschritt sein.“
Auf dem ersten Teil der Buchstrecke geht es vor allem um Erkennen: Hier werden die Mühlen des Systems beschrieben, welche Marx bereits mahlen sah und deren gegenwärtige Gestalt das Büchlein drastisch und deutlich schildert. Was auch immer man vom Sozialismus halten mag: Daths Argumentation ist in sich geschlossen.
Die Stolperfallen für Vorschnelle sind Denkschubladen à la „Aber ich kenne doch den XY-Diskurs“. Der Autor beschreibt so, dass jeder im Sattel bleibt, sprich: seinen Argumenten folgen kann. Dies gilt auch für Leser, die nicht das Kommunistische Manifest noch irgendeine linke andere Schrift je in der Hand hatten. Wer aber hinein tappt in die Denkschubladenfalle, wird das Gemeinte falsch verstehen. Wird das Neue nicht sehen; wird nicht sehen, dass es dem Verfasser um die Neu-Erfindung einer besseren Organisation der Gesellschaft geht. Um die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, Sozialismus, außer immer nur historisch, auch mal wieder programmatisch zu erwägen.
Es geht nicht um die Wieder-Einführung eines schon dagewesenen Systems, das sich kommunistisch oder sozialistisch nannte. Alte Schlagworte finden sich viele in „Maschinenwinter“, doch sind sie gemeint in ihrer nicht durch Geschichte überformten Rohfassung. Dath verwendet die alten Worte mit neuem Impetus: das Wieder darf nicht automatisch mitgedacht werden.
Die Maschinen sind nicht böse
Nicht die Maschinen sind das Problem, nicht die Technik, die alles beschleunigt und den Menschen das Gefühl gibt, instrumentalisiert zu werden. Es sind immer noch Menschen, die die Maschinen bedienen, betont Dath. Das Problem ist, dass wir die Autonomie, jenes Versprechen, das die maschinelle Arbeitserleichterung dem modernen Menschen gab, aus der Hand gegeben haben; delegiert an einige Wenige, die sie nun ausnutzen, um viele zu unterdrücken (und wer da steuert, sind höchstens am Rande noch die Politiker). Ergo: „Wer nicht überwacht werden will, polemisiere nicht gegen Chromosomenuntersuchungen und digitale Minikameras, sondern sorge, dass er oder sie nicht beherrscht werde. Das einzige, was den Umschlag von Produktivkraftfortschritten in beschleunigte Zerstörung und Entrechtung verhindern kann, ist Freiheit.“
Definition der Linken
„Vorbürgerliche Arten der Machtausübung wie die Folter werden von ehemals bürgerlichen Systemen wiedereingeführt. Schon bröckelt hier und da die Schulpflicht. In Deutschland, wo man beim Marsch ins Atavistische und Archaische meist besonders eifrig voranschreitet, wird bereits im Ernst vorgeschlagen, zeugungsstarken Familienvätern zusätzliche Stimmen zu verleihen (weiß Wotan, beim Frühmittelalter machen sie nicht halt; es geht direkt zum Stammeswesen zurück).“
Was man in einer linken Streitschrift weniger erwarten würde, ist ein Lob des Bürgertums. Die als bürgerlich bekannten Ideale aber spielen in „Maschinenwinter“ eine tragende Rolle.
Dath will zeigen, wie relevant Marx heute ist. Genauso sind es die ‚alten’ Ideale der Französischen Revolution. Der Maschinenwinter-Text hält sich an die ‚Alten’ und rüstet sie auf, soweit sie für die veränderten Umstände herhalten. Dath will zurück zu den Rohideen. Von Parteirangelei und Positionsstreben unabhängige Christ- und Sozialdemokraten dürfen sich freuen; sie finden ihre Grundsätze, vielleicht unerwartet, in „Maschinenwinter“ gut aufgestellt. Die Betroffenheitskaste unter denen, die sich links nennen, sollte in diesem Büchlein dagegen nicht auf Streicheleinheiten hoffen. Diejenigen, welche unter dem Etikett ‚links’ in machtlosem Entsetzen über die Ungerechtigkeit der Welt die Arme in die Luft zu werfen pflegen, dürften bei der Lektüre kleinlaut werden. Dath verlangt Zur-Tat-Schreiten, kein planloses Empörungsgeschrei.
Die Antwort: Demokratie und Planung
Das Gegenteil von Planlosigkeit, nämlich Planung, sei die Antwort auf die Furcht vor der Komplexität eines Gemeinwesens, das durch einen Umsturz im Chaos versinken würde. Der anderen großen Furcht – Verlust der (individuellen) Freiheit in einer durchgeplanten Gesellschaft – könne durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begegnet werden, ohne Staats- und Zwangscharakter. Dietmar Dath: „Wo Maßnahmen von allen oder doch der großen Mehrheit beschlossen und getragen werden, sind sie, in endlicher Einlösung des Rousseauschen Anspruchs, am Ende einfach Vereinbarungen nicht Hoheitsakte.“
Wofür Dath streitet, wohin der Ritt geht, ist das große Ganze. Die Menschheit im Politischen, das Gattungswesen Mensch im biologischen Sinne. Auf lange Sicht werde die vielbeschworene ‚unsichtbare Hand des Marktes’ durchaus sichtbare Konsequenzen haben. Auf sehr lange Sicht, so der Ausblick von Dath und der Biologin, könnten diese sich sogar biologisch manifestieren. Dann, wenn aus Klassen Arten werden. Ein Ausdifferenzieren der Menschen in Besitzende einerseits und nicht Besitzende andererseits; Muße-Mangel bei den Gestressten, Muse-Mangel bei den Arbeitslosen; Schönoperierte Klassen, welche ihren Mangel durch Geld zu kompensieren versuchen auf der einen und auf der anderen Seite die kränkeren, kürzerlebigen aber sich stärker reproduzierenden Menschenmassen, bei denen das Kompensieren über das Fernsehen oder billigere Drogen läuft. Herren und Knechte. Glücklich wird keiner dabei.
Vom Wünschen zum Wollen
Nun kommt hier der Aufruf zur Revolution. Dath gibt die Sporen: Den Schritt vom Wünschen zum Wollen tun. „Nicht ,so kann es nicht weitergehen‘, sondern ,so soll es nicht weitergehen‘; (…) nicht das archaische Glück ist das Ziel, sondern das erst herzustellende.“ Mildere Mittel als die Revolution werden angesprochen und für unwirksam befunden (Reformismus); beziehungsweise als nicht in Frage kommend abgewatscht (Reaktionismus, die Rückkehr zu vorkapitalistischen Zuständen).
Der Text richtet sich erst einmal an intellektuell Interessierte. Nicht, weil der Autor andere nicht ansprechen wollte, sondern weil er genug Realitätssinn besitzt zu wissen, dass die edition-unseld-Büchlein selten in Spinden von Bauarbeitern liegen werden. Da wohl weder der Ölarbeiter, noch der Soldat „Maschinenwinter“ selbst lesen, ist sein Text ein Aufruf an die Lesenden, uns, die Inhalte weiter zu verbreiten.
Schlussgalopp
Um noch einmal Ross und Reiter zu benennen. Daths Ziel ist, den – auch durch Marktwirtschaft gewonnenen – allgemeinen Reichtum, „als einen Gewinn an Freiheit, nicht bloß an Gebrauchskrempel zu erleben.“ Wissen und Technik – moderne Produktivkräfte wie Computer, Biotechnologie etc. - können Mittel zur Freiheit sein, wenn sie nicht von einigen wenigen Menschen dergestalt genutzt werden, andere Menschen zu unterdrücken.
Unter dem Etikett Sozialismus sind in jüngerer Zeit einige Staaten kollabiert, was der Anhängerschaft des konkurrierenden Systems, der freien Marktwirtschaft, Zulauf und ein Totschlagargument verschafft hat: ‚Das hat doch schon mal nicht geklappt’. Die linke Sprache ist ausgeblutet, die ‚roten Wörter’ wollen viele vernünftige Menschen nicht mehr hören, weil die ‚roten Bilder’ im Kopf nicht so schön sind (Rote Armee, keine Bananen).
Der von Dietmar Dath geschilderte Sozialismus erhebt allerdings Anspruch auf Zukunft und Perspektive – das hat nichts mit den genannten Bildern, die aus der Vergangenheit stammen, oder deren Folgen sind, zu tun.
Ein zukunftsfähiger Sozialismus kann nicht national beschränkt geplant werden, sondern muss universal sein, weil sich die von Dath ausgemachten Unterdrücker aus Staatsgrenzen nicht viel machen.
Von Universalem aber traut sich heute keiner mehr reden. Weil Universales immer Utopisches in sich trägt, das in Zeiten von Empiriefrömmigkeit keine Deutungshoheit mehr hat. Dath redet vom Universalen. Dath will Revolution, nicht Reform. Er wird für „Maschinenwinter“ deshalb auch Unverständnis ernten und für seine Streitschrift streiten müssen.
edition unseld
Die edition unseld ist eine neue Reihe des Suhrkamp-Verlags. Die Autoren der Reihe beleuchten Fragen unserer Zeit aus einer wissenschaftsdialogischen Sicht, natur-geisteswissenschaftlich quasi. Die acht Büchlein der ersten Auflage wurden geschrieben von: Durs Grünbein, Wolf Singer, Bernard Stiegler, Josef H. Reichholf, Rolf Landua, Robert B. Laughlin, Sandra Mitchell und Dietmar Dath. Sie kosten je 10 Euro.
Dietmar Dath
Dietmar Dath ist 1970 nahe Freiburg im Breisgau geboren. Er studierte Physik und Literaturwissenschaften, arbeitet als Übersetzer, Journalist (ehemals Chefredakteur von Spex, Feuilletonredakteur der FAZ) und Schriftsteller. Und wen interessiert, was aus dieser Gesellschaft in einigen hundert Jahren geworden sein könnte, wenn wir die Revolution nicht anzetteln, lese: Das versteckte Sternbild . Im Mai verlieh Peter Sloterdijk den Lessing-Förderpreis an Dietmar Dath.
Links zum Thema
- Suhrkamp über Dietmar Dath
- Interview mit Dietmar Dath zu ‚Maschinenwinter’.
- Ein Audio-Kommentar von Dietmar Dath zu einem anderen Buch (Schicht!), aber zum selben Thema.
- Interessantes Sammelsurium von und über Dietmar Dath.
- Suhrkamp über die neue Reihe ‚edition unseld’
- Der Tagesanzeiger aus Zürich über die ‚edition unseld’.
- Wikipedia über Dietmar Dath, inklusive Aufzählung aller Bücher und interessanten Links
Zur Person
Annekathrin Ruhose studiert in Jena Politik/Soziologie, Literatur, Öffentliches Recht und Medienwissenschaften. Ihre Journalistenausbildung erhielt sie bei der katholischen Journalistenschule „Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses“ (ifp).
Literatur
- Dietmar Dath (2008): Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift. Frankfurt/M., 10 Euro.