"Helfen Sie mir!"
Wie jeden Morgen steigt Lotte in die S-Bahn, um zur Arbeit zu fahren. Die Bahn ist mal wieder voll besetzt und Lotte erwischt den letzten Sitzplatz. Gelangweilt blickt sie aus dem Fenster. Auf einmal hört sie einen Schrei: "Hey, lass das! Hilfe!" Sie sieht einen Mann, kräftig gebaut und mit wütendem Blick, der mit seinen Armen entschlossen eine zierliche, offensichtlich verängstigte Frau umklammert. Lotte sieht sich in der Bahn um. Alle Fahrgäste beobachten die Szene wie gelähmt. Die Frau, die Lotte gegenüber sitzt, schaut ihr kurz in die Augen und zuckt dann mit den Schultern. Was geht hier vor sich?
An der nächsten Haltestelle geht alles ganz schnell. Der noch immer wütende Mann zieht die schreiende Frau am Ärmel nach draußen, die Türen schließen sich, die S-Bahn fährt weiter.
Erst jetzt kann Lotte wieder einen klaren Gedanken fassen. "Wieso habe ich eigentlich nichts getan?", fragt sie sich. "Warum hat niemand etwas getan?" Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Erklärungen dazu, warum in solchen Fällen häufig niemand hilft.
Ignoranz oder Zivilcourage?
In einer Analyse sind Wissenschaftler der Ruhruniversität Bochum der Frage nachgegangen, was in solchen "Nicht-Helfern" vorgeht. "Als Bystander-Effekt ist das Phänomen zu verstehen, dass die Anwesenheit anderer Personen am Unglücksort die individuelle Hilfsbereitschaft der Zuschauer offenbar hemmt", heißt es darin. Das bedeutet: Je größer die Gruppe der Zuseher, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift.
Problematisch kann dabei sein, dass die Situation von vielen Umstehenden vielleicht gar nicht als Notfall eingeschätzt wird. In Lottes Fall hätte es sein können, dass sie einen "normalen" Streit in einer Beziehung beobachtet. Es blieb dabei unklar, ob sich die mutmaßlichen Opfer kannten oder nicht.
Die Ursachen für den Bystander-Effekt: Verantwortungsdiffusion und Pluralistische Ignoranz.
"Zu einer Verantwortungsdiffusion kann es innerhalb einer Gruppe von Zuschauern kommen, wenn die Verantwortlichkeit zu helfen jeweils "den anderen" zugeschoben wird", so die Bochumer Wissenschaftler in ihrer Analyse. So vermindere sich die Verantwortlichkeit des Einzelnen. Denn dass jemand helfen müsste, ist für Lotte und alle anderen in der Bahn offensichtlich. Aber die Verantwortung für diese Hilfe lehnten alle ab. Hätte das Opfer Lotte mit einem klaren "Hallo, Sie in der weißen Jacke, helfen Sie mir!" angesprochen, hätte sie diese Verantwortung nicht ignorieren können.
Pluralistische Ignoranz liegt dann vor, wenn "hinsichtlich der Situationsbeurteilung in einer Gruppe von Zuschauern zunächst Zurückhaltung herrscht." In der Bahn reagiert niemand auf die Hilferufe des Opfers, so schaut auch die Frau auf dem Sitz gegenüber weg. Hätte sie sich aus der gemeinschaftlichen Ignoranz gelöst und wäre zu Hilfe geeilt, wären ihrem Beispiel sicherlich einige gefolgt. Die viel zitierte "Zivilcourage" beruht also darauf, sich aus dieser Pluralistischen Ignoranz loszulösen und zu handeln.
Unterlassene Hilfeleistung?
Abgesehen davon kann das Nicht-Helfen auch juristische Folgen haben. Artikel 323c im Strafgesetzbuch lautet: "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Eine Vielzahl von Bystandern und einige Einschränkungen (zum Beispiel: War die Situation als Notfall erkennbar? War die Hilfe eindeutig erforderlich?) machen eine Verurteilung in einem Fall wie in der S-Bahn jedoch sehr unwahrscheinlich.
Zur Person
Sonja Riegel, 22, studiert Online-Journalismus in Dieburg. Neben dem Studium schreibt sie als freie Mitarbeiterin für mehrere Redaktionen.
