Schwärmen und schwärmen lassen – gemeinsam ans Ziel
My amazing Fish
"Ein seltsames Geräusch im Nebenzimmer machte mich hellhörig. Es kam aus meinem Aquarium. Einer meiner Fische knallte ständig gegen den Deckel. Wo aber war der andere Fisch? Da – eingeklemmt unter einem Stein. Ich glaube, der erste Fisch wollte mich um Hilfe rufen, um ihn zu retten. Ist das nicht erstaunlich? In Liebe, Ihr WeloveFish."
Solche Zuschriften bekommt er ständig – Jens Krause, Verhaltensbiologe an der Universität in Leeds. "Lieber WeloveFish, ich kenne Ihren Fisch nicht und kann es daher nicht genau beurteilen. Aber ich vermute, dass er nicht helfen wollte, sondern flüchten. Beste Grüße, Jens Krause."
Er hat Leeds auf den Schwarm gebracht. Zusammen mit seinem Team versucht er nicht der Intelligenz des einzelnen Fisches auf die Spur zu kommen, sondern der Intelligenz der Gruppe. "Die Natur liefert viele Beispiele, dass Tiere in der Gruppe Leistungen vollbringen, die dem einzelnen Tier nicht möglich sind", sagt der Wissenschaftler. Der Schwarm löst in erster Linie die Überlebensprobleme des Individuums: Fressen finden, Feinde rechtzeitig erkennen und sich fortpflanzen. Die Biologen in Nordengland sehen sich ganz genau an, wie Tiere im Schwarm zusammen leben, wie sie Informationen beschaffen, weitergeben und verarbeiten, um gemeinsam das Ziel zu erreichen: möglichst viel Leben in die kommenden Generationen weiterzutragen.
Anführer auf Schienen
Anfangs war es ein Stück Knete am Stöckchen, das die Forscher im Stichlingsaquarium zu Wasser ließen. Heute sieht er dem echten Fisch zum Verwechseln ähnlich: der Roboterfisch. (Bild 2) Und er scheint als Gruppenführer akzeptiert zu werden. Ein Magnet macht es möglich, dass er wie auf einer Schiene fährt. Er startet unten rechts, fährt geradeaus und dann eine harte Kurve nach links. Die Stichlinge folgen ihm. Jede Verfolgungsfahrt wird per Kamera festgehalten, die über dem flachen Aquarium angebracht ist. Später werten die Wissenschaftler die Bilder aus. Ihre Annahme: ein paar wenige Individuen einer Fischgruppe eignen sich Informationen an – wie zum Beispiel die Richtung, in der Futter zu finden ist – und lotsen den Schwarm dorthin. Dabei setzen sie offenbar keine Signale ein, jedenfalls keine, die für das wissenschaftliche Auge erkennbar wären.
In Leeds finden sich Aquarien mit Stichlingen und Guppys, die sich aufgrund ihrer "Kontaktfreudigkeit" für die Forschung besonders gut eignen. Die nächste Generation an "Robofischen" ist schon in Arbeit, diesmal als Guppy.
Der Kreis schließt sich
Acht Studenten laufen im Kreis in Reih und Glied im Uhrzeigersinn. Ein Mädchen mit einer rosa Schärpe versucht nach 12 Uhr auszubrechen, reiht sich aber sofort wieder in die Gruppe ein. Sie laufen weiter im Kreis. Und dann – ein neuer Versuch, sie bricht aus, aus dem Kreis heraus – und ja, die anderen folgen! Geschafft!
Die Doktoranden Jolyon Faria und John Dyler zeigen die Kamera-Aufnahmen der vergangenen Versuche, die überprüfen sollen, ob ihre Vorhersagen zutreffen: dass sich auch Menschen ähnlich einem Fischschwarm verhalten. Dazu ließen sie ihre Versuchspersonen in einer Halle oder im Freien umherlaufen. Nur eine Person erhielt bestimmte Informationen. Diesmal war es das Mädchen mit der rosa Binde um den Oberkörper. Sie wusste, dass sie ein Anführer ist und die anderen zu einem bestimmten Ziel lotsen soll. Die Gruppe folgte – sie liefen der rosa Schärpe hinterher, ohne zu sprechen oder zu gestikulieren. Dabei hielten sie sich nur an die "Spielregeln", die sie vorher bekamen: "Bleib beim Schwarm, eine Armlänge von deinem Nachbarn entfernt, bleib immer in Bewegung und bewege dich solange, bis wir Stopp rufen". Dass das Mädchen mit der rosa Schärpe die Gruppe hinter sich herzog, war für die Forscher der Beweis: Die Gruppe hat sich selbst organisiert und sich einvernehmlich für eine Richtung entschieden – ohne sich bewusst zu entscheiden.
Die Versuche werden ständig wiederholt, mit verschiedenen Teilnehmern verschiedener Altersklassen und unterschiedlichen Informationen. Der Vorteil beim Menschen: unter ihnen kann man einen Gruppenführer identifizieren beziehungsweise im Experiment bestimmen und Informationen in Form von Spielregeln vergeben, was bei Tieren nicht möglich ist. Auf diese Weise haben die Biologen herausgefunden: wenn keine Informationen vergeben wurden, bewegen sich die Versuchspersonen fast pausenlos im Kreis, sogar in zwei Kreisen – einem innerern Torus, der in die eine Richtung rotiert, und außen einem weiteren Torus, mit entgegengesetzter Laufrichtung.
Die Biologen gingen einen Schritt weiter. In einem Versuch ernannten sie zwei Gruppenanführer und verteilten gegensätzliche Informationen: das Individuum A lief daraufhin nach rechts und das Individuum B nach links. Die Versuchsleiter erwarteten, dass es einen Konflikt geben würde: Die Gruppe trenne sich in zwei Lager. Schließlich kann es auch im Tierschwarm dazu kommen, dass sich ein Individuum zwischen mehreren Anführern entscheiden muss. Und die Entscheidung muss schnell gehen – denn der Fressfeind wartet nicht. Und was machte die menschliche Gruppe in dieser Situation? Sie blieb als eine Gruppe zusammen, eine Straße zwischen den Anführern A und B entstand, ähnlich einer Ameisenstraße. Die Teilnehmer wanderten also ständig zwischen A und B hin und her.
Die Wissenschaftler waren überrascht, erkannten aber den Nutzen dabei: die Gruppe prüft auf diese Weise, wo für sie das bessere Ziel ist. Und sollte wirklich ein Fressfeind auftauchen, würde sich die Gruppe augenblicklich trennen, sich aber hinter dem Angreifer sofort wieder zusammenschließen.
Den ersten großen Versuch mit Menschen hatten die Wissenschaftler zusammen mit der Magazinsendung des WDR Quarks & Co gemacht. 200 Leute beteiligten sich daran. Die Wissenschaftler fanden dabei heraus, dass es ausreicht, wenn fünf Prozent der Leute eine Richtungsinformation besitzen, um die ganze Gruppe zu leiten, ohne dass sich 95 Prozent darüber bewusst sind. "Eine Erkenntnis, die besonders in Gefahrensituationen hilfreich sein kann, in denen die Kommunikation schwierig ist", hoffen die Wissenschaftler. Wenn beispielsweise Menschen aus Gebäuden evakuierten werden müssen.
Warum aber folgen die anderen? Wenn sie nicht miteinander durch Sprache oder Gesten kommunizieren – nach welchen Mechanismen verständigen und entscheiden sie sich dann? Diese Frage wird die Wissenschaftler auch in den folgenden Projekten beschäftigen. Um der Antwort einen Schritt näher zu kommen, wird der Robofisch demnächst an den PC angeschlossen und der Versuch aus der Mitte des Aquariums heraus gestartet. Die Vermutung der Biologen: dass räumliche Begebenheiten und die Position der Anführer das Gruppenverhalten beeinflussen.
Ein hilfreiches Werkzeug dabei ist der Computer. "Simulationen sind eine äußerst spannende Form, nach Phänomenen zu suchen", sagt Jens Krause. "Wir wissen, mathematisch tritt ein Phänomen auf. Aber kommt es auch in der Natur vor? Und vor allem – ist es relevant?"
In Simulationen werden einem Objekt beliebige Eigenschaften zugeschrieben und Regeln festgelegt. Hunderte von Szenarien an Beziehungs- und Interaktionsmodellen zwischen Individuen können so an einem Tag durchgespielt werden, die experimentell nicht möglich sind. Computersimulationen liefern zudem die Werte für die Versuche. Zum Beispiel wie viele Gruppenteilnehmer benötigt werden, und wie groß ein Kreis sein muss, in dem sie sich bewegen. Erst dann folgt die Praxis: das Überprüfen im Labor, auf dem Feld und am Menschen. Denn die Realität folgt gerne ihren eigenen Gesetzen und überrascht die Biologen immer wieder. Im schlimmsten Fall müssen sie von Vorne beginnen – zurück an den Computer oder ans Aquarium.
Zurück zum Ursprung
Die Doktoranten sitzen auf gepackten Koffern. Sie machen sich auf nach Trinidad, wo Guppys in Hülle und Fülle leben. John und Jolyon werden sich dort die Fischschwärme genau ansehen. Wie sich die Schwärme bilden und soziale Netzwerke entstehen: welches Einzeltier sich zu welchen Gruppen gesellt, und wie oft sich Gruppen aus einzelnen Tieren bilden. Die Doktoranden werden diese "Begegnungen" protokollieren und eine Statistik führen. An sozialen Netzwerken ist vor allem die Frage interessant, wie sie zustande kommen. Weitere Ansätze der Forschung ergeben sich auch beim Menschen, nicht nur in Bezug auf bewusst geknüpfte menschliche Netzwerke im Internet, sondern auch auf andere Arten der Vernetzungen: der Mensch als Knotenpunkt zur Übertragung von Krankheitserregern.
Das Interesse an Schwarmintelligenz allgemein ist groß, und die Möglichkeiten der Anwendung scheinen unendlich. "Wenn wir das Prinzip wirklich verstanden haben, dann lassen sich auch Anwendungen dafür finden", sagt Jens Krause. Er und sein Bruder Stefan, Professor der Informatik und Elektrotechnik an der Fachhochschule Lübeck, verbindet die Faszination Schwarm von klein auf. Für ein Exponat der Ausstellung Prototypen in Berlin stellten sie sich die Frage "wie weit kann die Schwarmintelligenz gehen, und wo gerät die Weisheit der Gruppe an ihre Grenzen?". Eine Frage, die sie bis heute nur im Ansatz beantworten können: wenn andere Informationen gebraucht werden, als sie der Gruppe zur Verfügung stehen – dann kommt das Expertenwissen zum Tragen.
Sie werden also weiter forschen, zusammen mit zig Fußgängern die Straße überqueren, wenn die Ampel rot zeigt, oder sich mit verbundenen Augen führen, um neue Beobachtungen zu machen und diese in der Gruppe zu diskutieren. Denn auch in der Wissenschaft sind die einzelnen Wissenschaftler sowohl auf das Kollektiv als auch auf das Expertenwissen angewiesen. Bloß nicht stehen bleiben. Kontakte knüpfen, sich verständigen, sich zu Hilfe kommen. Nicht den Schwarm aus den Augen lassen, und schon gar nicht das Ziel. Wer wird da schon flüchten?
Die Brüder Krause
Die Brüder Krause gehen gemeinsam dem Schwarmverhalten auf den Grund – ein erfolgreiches Beispiel für die interdisziplinäre Kooperation von Biologie und Informatik.
Jens Krause (links im Bild)
ist Professor und Leiter des Lehrstuhls für Verhaltensökologie an der University of Leeds, Nordengland.
Stefan Krause (rechts im Bild)
ist Professor im Fachbereich Informatik und Elektrotechnik an der Fachhochschule Lübeck.
Prototypen – Bionik und der Blick auf die Natur.
Eine Ausstellung der Stiftung Brandenburger Tor im Max Liebermann Haus in Berlin. Vom 24. Mai bis 24. August 2008.
Eine Audiobeitrag über den Ausstellungsbeitrag von Stefan und Jens Krause, einem Schätzprogramm zur Frage: Wie weit kann die Schwarmintelligenz gehen, und wo gerät die Weisheit der Gruppe an ihre Grenzen?
Links zum Thema
- Ausstellung der Stiftung Brandenburger Tor: Prototypen – Bionik und der Blick auf die Natur
Zur Person
Susanne Wegner, 29, studiert Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt. Auf den Spuren der Schwärme ist sie bis nach Leeds und Berlin gereist.
