Schwarm – Temporär entfremdet

Kein EntkommenIndividualismus gilt in unserer Gesellschaft als hohes Gut. Kaum einer wird zugeben wollen, sich fremdbestimmt durch Zeit und Raum zu bewegen. Und doch: Freier Wille ist eine Illusion. Jedenfalls öfter als man denkt!

Was glauben Sie, ist ein Schwarm? Glaubt man der gerafften Definition, dann ist ein Schwarm eine Bande von alleine wenig begabten Individuen, die zur selben Zeit am selben Ort auftauchen. Und zwar um dort einigermaßen zielgerichtet das Selbe zu tun. Etwas, das mehr ergibt als die bloße Summe der einzelnen Teile. Wenn sich das irgendwie nach NPD-Aufmarsch anhört, wäre das mehr als nur haarscharf am Phänomen vorbei analysiert. Sie denken, mit dem Konzept "Schwarm" haben Sie, als freier Geist, nichts zu tun?

Sie werden staunen. Denn ihres freien Willens enthobene Individuen werden anonym geleitet. Von einer unpersonalen Instanz, die die Massen an ihr Ziel führt, ohne wahrgenommen zu werden. Massen folgen Führern und Vorbildern, Schwärme brauchen so etwas eigentlich nicht. Und am Ende wird keiner glauben, dass er irgendetwas anderem gefolgt ist, als dem eigenen Radar.

Im Milieu "Supermarkt" ist der "Temporär entfremdete Schwarm" in seiner reinsten Gestalt anzutreffen. (Bild 2) Glauben Sie nicht? Na, Sie möchte ich mal beim Einkaufen erleben. Haben Sie es schon einmal geschafft, genau das mitzunehmen, was Sie sich vorgenommen hatten? Und sonst nichts? Keinen Kaugummi? Keine Schokolade? Keine Extratüte Milch? Ha? Erwischt? Na also... Aber seien Sie beruhigt: Sie sind nicht alleine, beinahe jeder von uns gibt beim Betreten eines Konsumtempels seine Selbstkontrolle am Eingang ab – und wird vom Schwarm assimiliert.

Einer nach dem anderen wird ab jetzt gelotst und folgt einem übergeordneten Ziel. Konsum! Konsum, Konsum, Konsum und nichts anderes. Wie alle ihre Mit-Primaten vor und hinter Ihnen. Sie sind jetzt Schwarm und lassen sich dem Ziel zutreiben. Es beginnt mit dem kollektiven Tempo. Das Geheimnis ist, dass der Schwarm schon im Eingangsbereich auf ein gemäßigtes Tempo gebremst wird. Gerne gilt es hier bereits, eine Kurve zu meistern. Der Schwarm muss sich orientieren und links und rechts schauen. Es ist zu vermeiden, dass einzelne Lebewesen mit angelegten Ohren im Stechschritt durch die Umwelt fräsen.
Der Supermarktwissenschaftler Paco Underhill nennt das "Landezone". Rechts und links türmen sich Schutzwälle auf, bestehend aus Bäckerei, Wurst- und Käsetheke und einem perfide platzierten Sammelsurium aus Gängen, Brems- und Beschleunigungselementen.

Alternativtext
Volle Tüten trotz leerer Taschen?

Sie taumeln nur noch durch den Markt, schon längst gesteuert und aller Sorgen entledigt. Sie machen das, was so viele vor Ihnen und noch viele mehr nach Ihnen auch tun. Die Artikel des täglichen Bedarfs sind so angeordnet, dass der Schwärmer wider Willen an exakt jedem einzelnen Produkt im gesamten Markt vorbeigeschleust wird. Und das unter ständiger musikalischer Berieselung. Und die ist, zählen sie mal die Takte, langsamer als ihr Herzschlag. Wetten? Oder wurden sie schon mal von wummernden Techno-Beats durch einen Discounter gescheucht?
Langsame Musik bremst sie automatisch, wenn Sie nicht sowieso schon durch die Landezone zwangsparalysiert wurden. Sie greifen die teurere Milch, weil die immer in angenehmer Greifhöhe steht und nicht etwa den Discountvertreter in den unteren Regionen der Regale. Denn die Tiefpreisprodukte sind rückenschädigend angeordnet.
Wären Sie nicht schon Schwarm, wäre Ihnen das als sonst so kritischem Verbraucher sicher schon mal aufgefallen. Der Mensch ist außerdem eine rechtsdrehende Kultur. Immer rechts rum, so will's der Trieb eigentlich. Und dennoch geht’s bei REWE und Co. in aller Regel links rum. Zufall?
Sie dürfen also noch nicht mal mehr so laufen, wie Sie wollen. Und Sie glauben immer noch, dass Sie ein autonomer Kunde sind? Schauen Sie mal in Ihre Tüte. Kaugummi, Schokoriegel, Fernsehzeitung und ein Topf mit diesen Verrecklingen von Supermarkt-Primeln.
Und spätestens beim Auspacken werden Sie es gemerkt haben: Sie sind Schwarm!

Beitrag von Till Erdenberger
Bildquellen in Reihenfolge: flickr/ martinroell, flickr/ spuz, Eva Heidenfelder

Zur Person

Till Erdenberger, 25, studiert Online-Journalismus und mag Sarkasmus, Zynismus und schöne Künste. Er schreibt im Kategorischen Imperativ, um anschließend auf das "Prinzip Hoffnung" zu setzen.

Literatur

  • Paco Underhill (2000): Warum wir kaufen. München.

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Themen: Schwärme
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