"Das führt zwangsläufig zu Missverständnissen"
Im Jahr 1969 wurde der amerikanische Soziologe und Journalist William H. Whyte von der New Yorker Stadtplanungskommission mit dem Street Life Project beauftragt. Im Rahmen dieser auf mehrere Jahre angelegten Untersuchung widmete er sich der intensiven Beobachtung der Fußgänger auf New Yorks stark überfüllten Straßen und Bürgersteigen. Dabei förderte er interessante Erkenntnisse zutage, die er später unter dem Titel City veröffentlichte.

Er stellte fest, dass auch in dicht gedrängten Bürgersteigszenarien das Schritttempo der Fußgänger überraschend hoch ist, ohne dass es andauernd zu Zusammenstößen kommt. Der geübte Fußgänger, der sich innerhalb dieses anarchisch erscheinenden Wirrwarrs voran zu winden sucht, legt nach Whytes Beobachtungen eine eigentümliche Art des Gehens an den Tag. Er geht leicht zu einer Seite geneigt, um dem vor ihm Laufenden über die Schulter blicken zu können. Auf diese Weise bewahrt er sich ein möglichst hohes Maß an Manövrierfähigkeit. Den Vordermann nutzt er, um geschützt voran zu kommen. So findet das menschliche Kollektiv der Fußgänger eine Lösung für das Koordinationsproblem auf New Yorks Bürgersteigen. Wobei diese Lösung vom einzelnen Individuum vollkommen unbemerkt bleibt. Jeder geht auf genau die Weise, die ihm selbst sinnvoll und nutzbringend erscheint. Daraus ergibt sich, ob gewollt oder nicht, dass jeder schnell vorankommt.
Zum Zweck der Straßenüberquerung bilden die Menschen wie von selbst und ohne Absprache kleine Zuggruppen. Um sich gegen den natürlichen Feind des Fußgängers, den gemeinen Autofahrer, zu schützen? Sie formieren sich zu eleganten Überholmanövern, laufen schneller, bremsen wieder ab, laufen langsamer, lassen sich überholen und überholen dann selbst wieder. Alles wie von Zauberhand, ohne zentrale Koordination oder Anleitung. Keiner kennt den anderen und doch gehen sie wie Hand in Hand und erzeugen so etwas, das gewollt aussieht. Etwas, dem nur allzu gerne der Stempel Kollektiv- oder Schwarmintelligenz aufgedrückt wird.
Ist der Mensch ein Schwarmtier?

In dem Fußgänger-Szenario treffen Menschen in riesiger Zahl aufeinander, die ein gemeinsames Problem zu bewältigen haben: Wie komme ich am schnellsten durch dieses Gewühl von A nach B? Jeder trifft diese Entscheidung für sich selbst. Und vielleicht gerade dadurch ergibt sich der optimierte Ablauf des Ganzen. Wie bei den Ameisen oder den Vögeln. Wie in einem Schwarm?
Eine Vorstellung, an der sich der ein oder andere stoßen dürfte. Immerhin wird dieser stark biologisch angehauchte Begriff zumeist mit Lebewesen in Verbindung gebracht, denen sich der Durchschnittsmensch mental überlegen fühlt: Vögel, Fische, Bienen, Mücken und Ameisen. Wesen also, deren individuelle Intelligenzbegabung so gering zu sein scheint, dass sie auf das Wirken einer Gruppe angewiesen sind. Erst als Gruppe agieren sie in einer als intelligent zu bewertenden Weise. Die Summe aller Teile ergeben ein Ganzes, dessen Eigenschaften sich nicht aus den jeweiligen Befähigungen seiner Einzelteile erklären lässt.
Der erste Schritt, um der Antwort auf die Frage, ob der Mensch sich in Schwärmen organisiert, näher zu kommen, soll ein direkter Vergleich sein. Mit einem klassischen Schwarmtier, versteht sich. Warum nicht das Verhalten eines bekannten Schwärmers betrachten und überlegen, ob sich die resultierenden Schlüsse auf den New Yorker Fußgänger übertragen lassen? Mögen es in diesem Fall die Stare sein.
Ein Schwarm Stare bewegt sich, als Gesamtkonstrukt gesehen, geschlossen vorwärts. Die einzelnen Tiere jedoch fliegen ohne ersichtliche Ordnung wild durcheinander. Einen Anführer, der an vorderster Stelle die Richtung vorgibt, scheint es nicht zu geben. Diese Position wechselt ständig.
Werden die Stare nun von einem Fressfeind, zum Beispiel einem großen Raubvogel, angegriffen, so stauben sie blitzartig auseinander. Der Räuber stößt ins Leere und der Schwarm schließt sich über ihm sofort wieder zu einer Einheit. Es wirkt wie ein inszeniertes Schauspiel. Doch es gibt keinen Regisseur.
Computersimulationen ergeben: Es gibt keine einheitliche Taktik der Verteidigung oder Fortbewegung, die die Vögel einzuhalten versuchen. Der Trick ist ein anderer. Jeder Star handelt für sich alleine. Dabei befolgt er aber offensichtlich drei einfache Grundregeln, die in der Summe zum Erfolg führen. 1. Bleibe dem Zentrum (des Schwarms) so nahe wie möglich. 2. Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt. 3. Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn. Drei Regeln, die auch die Fußgänger aus New York zu beherzigen scheinen. Jeder handelt für sich, doch in der Summe ergibt sich eine höherwertige Leistung des Kollektivs.
Was lässt sich daraus folgern? Lässt sich der Begriff Schwarm wirklich auf menschliches Verhalten projizieren? Oder ist er nur eine weitere Metapher mit dem Zweck, das Auftreten von Menschen in Gruppen mit blumigeren Ausdrücken zu beschreiben, als negativ klingenden Wendungen wie Masse oder Mob?
Dr. Alfred Kessler unterrichtet an der Hochschule Darmstadt. Er ist Professor für Philosophie und Kulturgeschichte. Im Interview erläutert er, weshalb sich der Begriff der Schwarmintelligenz nicht so einfach auf menschliches Verhalten übertragen lässt.
sg: Herr Professor Kessler, bewegen sich Fußgängermassen tatsächlich als Schwärme?
Alfred Kessler: Um ehrlich zu sein, halte ich den direkten Vergleich zwischen menschlichen und tierischen crowds nicht für wissenschaftlich. Tierische crowds sind immer Organisationsformen und Strategien gegenüber einer Umwelt von Fressfeinden, oder zur erfolgreichen Fortpflanzung. Was meinen Sie, geht es bei ihrem Beispiel mit den Fußgängern auch um Leben und Tod?
sg: Sicher nicht. Es geht wohl eher darum, möglichst schnell wieder nach Hause zu kommen. Das eigene Leben steht dabei zumindest nicht unmittelbar auf dem Spiel – solange man nicht auf der Autobahn spazieren geht.
Kessler: Eine menschliche Masse in diesem Sinne hat gar kein unmittelbares vitales Interesse. Hätte sie eines, wäre sie keine Masse, sondern ein Kollektiv oder eine Gruppe. Eine menschliche Masse ist keine biologische Kategorie, sondern eine soziale. Für die Menschen in einer Masse geht es in der Regel nicht um Überleben. Ein Schwarm ist aber eine Überlebensstrategie in einer prinzipiell feindlichen Umwelt, auch wenn es nur ein scheinbar harmloser Flug von Schwänen nach Süden ist!
sg: Aber woher rührt Ihrer Meinung nach das wissenschafltiche Interesse an Schwarmverhalten?
Kessler: Hauptsächlich die biologischen Wissenschaften haben ein Interesse an Schwärmen. Allerdings auf Umwegen auch die Ökonomie und selbstverständlich die Informatik und Mathematik. Diese Disziplinen haben ihre Methoden, ihre Fragestellungen und insbesondere ihre eigene Terminologie, also das, was man Wissenschaftssprache nennt. Das ist, um es deutlich zu sagen, eines der Hauptprobleme in dieser Sache.
sg: Welches Problem meinen Sie?
Kessler: Diese Wissenschaftssprachen sind, wenn sie nicht in rein mathematischen Formeln zu sprechen versuchen, menschliche Sprache. Sie bedienen sich unserer Metaphern und Begriffe. Das führt zwangsläufig zu Missverständnissen. Warum dort ein konzentriertes Interesse an Schwärmen entsteht, kann viele, möglicherweise gar nicht rational rekonstruierbare Gründe haben.
sg: Welche zum Beispiel?
Kessler: Beobachtungen und Zufälle zum Beispiel. Ich bin allerdings der Meinung, dass es keine so ganz zufälligen Beobachtungen gibt, auch wenn die Forscher das aus methodischen Gründen so sehen mögen. Meiner Meinung nach gibt es auch immer einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Aber ich will das keinesfalls überstrapazieren. Ich will diesen Zusammenhang nicht in Konkurrenz stellen zu innerwissenschaftlichen Entwicklungen! Aber unübersehbar ist, dass ein Interesse an menschlichen crowds aus handfesten Gründen zugenommen und zu sehr ausdifferenzierten Forschungen geführt hat.
sg: Wie erklären Sie sich das?
Kessler: Anlässe sind Paniken in Stadien, oder insbesondere terroristische Angriffe. Es geht um die Frage, wie kann man Menschenmassen im Notfall effektiver in Sicherheit bringen. Ein sehr handfestes Motiv, sich mit der Frage zu befassen: Wie bringe ich Intelligenz in eine panisch flüchtende Masse, oder wie nutze ich die Intelligenz, die diese Masse möglicherweise besitzt?
sg: Kann denn der Begriff Kollektiv- oder Schwarmintelligenz überhaupt auf menschliches Verhalten angewendet werden?
Kessler: Das ist nicht pauschal zu beantworten. Wir Menschen sind es, die einen Schwarm Vögel oder Fische beobachten und uns wundern, was die da machen. Es ist wichtig zu verstehen, was das heißt: Beobachten. Was es vor allem heißt, als Naturwissenschaftler zu beobachten. Der Wissenschaftler würde gern den ganzen Rucksack an Metaphern und Begriffen, den er aus unserer menschlichen Sprache mitbringt (und notwendiger Weise benutzen muss) loswerden. Man sieht es an einem Ihrer eigenen Beispiele. Er wundert sich, was die Stare da machen, sagt sich, die sind ja vielleicht schlau! Aber schlau dürfte er eigentlich nicht sagen.
sg: Warum nicht? Es handelt sich doch, zumindest augenscheinlich, um ein intelligentes, oder schlaues Verhalten.
Kessler: Wir Menschen sind schlau, jedenfalls verstehen wir uns in menschlicher Sprache so. Über diese Sprache kann der Wissenschaftler aber nicht so einfach hinweg. Er versucht es, zum Beispiel durch Reduktion seiner Beobachtung auf Elemente, die eine Mathematisierung erlauben, oder eine Simulation, die ohne schlau auskommt. Jedenfalls fragt er sich: Wie machen die das?
sg: Okay, einen Augenblick. Nur noch einmal zum besseren Verständnis: Warum darf er nicht schlau sagen, oder muss versuchen, ohne diesen Begriff auszukommen?
Kessler: Weil er eigentlich so nicht fragen kann. Er kann überhaupt keine menschlichen Metaphern gebrauchen. Weil unsere menschliche Sprache sich immer darauf bezieht, zu handeln, sich Ziele zu setzen und zu versuchen, sie zu erreichen. Der Fisch aber setzt sich keine Ziele. Machen, tun, handeln – das geht bei Tieren nicht. Der Wissenschaftler muss beschreiben, was geschieht und dann fragen: wie funktioniert das? Und nun kommt der springende Punkt. Er bildet sich, sagen wir mal, eine ad-hoc Hypothese: Ich erkläre mir das so – so funktioniert das. Und aus dieser Hypothese leitet er sich das Wichtigste ab – eine Prognose. Wenn es richtig ist, dass es so und so funktioniert, dann müsste unter den und den Umständen das passieren. Das kann sich nun auf weitere Beobachtung im Rahmen dieser Hypothese und Prognose beziehen. Oder er konstruiert sich ein entsprechendes Experiment.
sg: Das klingt einleuchtend. So stellt sich der Laie wohl gemeinhin wissenschaftliches Arbeiten an einem Thema vor.
Kessler: Sagen Sie bitte nicht, das ist doch trivial, das weiß doch jeder. Da wird ein Modell konstruiert. Das Modell ist weder der Fisch, noch sonst etwas. Das Modell bildet den Mechanismus ab, den ich vermute. Es sollte möglichst wenig Interpretation dabei sein, möglichst wenig metaphernreiche menschliche Sprache. Am liebsten – Mathematik!
sg: Aber sobald der Wissenschaftler ein solches mathematisches Modell gefunden hat, kann er doch versuchen, es auf menschliches Verhalten anzuwenden.
Kessler: Na ja, wenn ich jetzt dieses mathematische Modell auf Menschen anwende, dann ist das Gemeinsame zwischen der tierischen crowd, von deren Verhalten ich es entnommen habe, und den Menschen doch nicht das Tier. Verstehen Sie? Das wäre logischer Blödsinn.
Das Gemeinsame auf der Ebene des Experiments ist die Mechanik, der Mechanismus, den ich vermute. Aber doch nicht der Fisch. Die Formel, in die man die Mechanik vielleicht bringen kann, ist das Gemeinsame. Der Satz: Menschliche crowds verhalten sich wie irgendwelche Schwärme, ist einfach falsch. Richtig ist: wir beobachten gleiche Mechanismen bei tierischen und menschlichen crowds. Jeder weitere Schluss ist erst einmal gar nicht zulässig!
sg: Haben Sie dafür noch ein anderes Beispiel?
Kessler: Nehmen Sie eine Hauswandfarbe mit Lotus-Effekt. Das Wasser perlt von der Farbe ab wie von der Oberfläche eines Lotusblattes. Aber die Farbe verhält sich doch nicht wie die Pflanze. Beide haben einen Mechanismus gemeinsam, in diesem Fall von uns Menschen als Artefakt nachgeahmt. Aber die Erkenntnis ist vom Objekt der Erkenntnis abstrahiert. Bis auf eine Formel abstrahiert. Und der Rückschluss: Also verhält sich die Farbe wie die Pflanze, oder verhalten wir uns wie Fische, stimmt einfach nicht! Aber man kann durchaus Gründe ausfindig machen, warum es doch immer wieder so kolportiert wird.
sg: Und die wären?
Kessler: Zum einen, weil der Weg, der zu dieser Analogie geführt hat, schlicht vergessen wird. Man nimmt das Ergebnis, verschlagwortet es, hüpft über den ganzen Forschungsprozess weg und findet den Fisch in uns. Es ist also nicht die Frage, wieweit ein Tier-Mensch-Vergleich trägt und gehen kann. Der ernsthafte Naturwissenschaftler zieht so einen Vergleich allenfalls, wenn Leute wie Sie ihm das Mikro an den Mund halten. Und er bereut es sogleich!
sg: Da müssen wir uns ja direkt für unsere dummdreiste Fragestellung entschuldigen: Ihre Quintessenz ist also, dass die Frage nach der Übertragbarkeit des Schwarmbegriffs auf menschliches Verhalten nicht ernst zu nehmen ist?
Kessler: Ich will Sie ja nicht um Ihre Pointe bringen. Sicher bleibt die Frage ernsthaft, wenn es um zwei Prinzipien geht – Evolution und Selbsterhaltung, oftmals Überlebenstrieb genannt. Wenn in uns Mechanismen funktionieren, die man auch bei Fischen vermutet, kommen wir noch lange nicht aus dem Wasser. Das wäre diese gern genommene Abkürzung zu scheinbar bedeutsamen Schlussfolgerungen. Aber wir haben an der Evolution teil, wie sollte es auch anders sein? Doch wir sind immer noch Menschen und hoffen, es zu bleiben, oder immer mehr zu werden. Und das ist keine biologische Evolution. Das zeigt auch das zweite genannte Prinzip: Selbsterhaltung. Wir Menschen haben die Chance zu sagen: Überleben ja, aber nicht um jeden Preis. Wir wollen den Sinn unseres Lebens selbst bestimmen. Da funktioniert Darwins Evolution nicht mehr.
Zur Person
Matthias Bastian ist 25 Jahre alt und studiert Online-Journalismus. Neben seiner Vorliebe für Fußgänger ist bei ihm eine gewisse Technikaffinität festzustellen.
Denis Mohr, 23, studiert Online-Journalismus, wird mit nur einem "n" geschrieben und steht auf ausgefallene Recherche-Ideen. Er mag Stare und Literatur aller Art.
