Wenn Beute trickst – und Jäger hungrig bleiben

Zackenbarsch im Silverside-SchwarmFressen und gefressen werden: Das ist der natürliche Kreislauf des Lebens. Doch was, wenn die Beute nicht im Magen des Räubers landen will. Und deshalb mit „fiesen“ Tricks arbeitet? Denn viele Organismen wissen: In der Masse liegt die Klasse. Und bilden Schwärme. Für sie ein Segen, für den Jäger aber ein Fluch.

Jeder Muskel im Körper des Riesenzackenbarschs ist gespannt – er hat Hunger und lauert auf seine Beute. Auf dem heutigen Speiseplan: Ährenfische, besser bekannt als „Silversides“. Im seichten Gewässer vor der Küste Australiens schwebt der Barsch nur knapp über dem sandigen Meeresboden.

Was ist ein Schwarm?

Es antwortet Prof. Dr. Ralph Tollrian, Evolutionsökologe und Experte für Biodiversität (biologische Vielfalt) an der Ruhr-Universität:
Ein Schwarm ist eine Ansammlung von Organismen. Wobei diese Organismen sehr groß oder sehr klein sein können: Elefantenherden verhalten sich genauso nach den Prinzipien des Schwarms, wie Gruppen von Einzellern, beispielsweise die Pantoffeltierchen. Vor allem die simultane Bewegung ist typisch für den Schwarm.
Im Walt Disney-Film „Findet Nemo“ wird dieses Phänomen jedoch sehr überspitzt dargestellt: Fischschwärme, die sich blitzschnell zu einem Hummer, einem Segelschiff oder einem Wegweiser nach Sydney formieren, gibt es nicht.

Durch feinste Sinnesborsten an seinem Körper, den „Mechanorezeptoren“, spürt er: Sein Mittagessen ist nicht weit. Denn die winzigen Fische bewegen sich und versetzen so ihre Umgebung in Schwingung. Diese mechanische Kraft setzen die Rezeptoren am Körper des Barsches in Nervenerregung um. Die feinen Vibrationen der Silversides, die knapp unter der Wasseroberfläche tanzen, kommen immer näher. Der Barsch öffnet sein mächtiges Maul - jetzt oder nie! Doch was ist das? Die Vibrationen werden immer stärker, sie kommen von allen Seiten. Der Barsch ist verwirrt: Das sind zu viele Fische auf einmal, ein ganzer Schwarm. Er ist umzingelt, kann die einzelnen Tiere kaum mehr orten, schnappt wahllos zu. Etliche Silversides lassen ihr Leben – doch die Mehrheit kann entkommen.

Ihr instinktives Verhalten, einen Schwarm zu bilden, hat viele Silversides davor gerettet, zwischen den scharfen Zähnen des Barsches und schließlich in seinem Magen zu landen. Der Räuber bleibt hungrig – hätte er die Silversides einzeln verfolgt, wäre der Aufwand zwar höher, die Ausbeute aber möglicherweise besser gewesen. Den kleinen Fischen ist es gelungen, durch ihre bloße Masse den Barsch zu verwirren. Diese Taktik nennt man „Konfusionseffekt“. Sie verwirrt vorzüglich den Jäger. Und vermindert so dessen Attackeneffizienz, sprich: Seine Beute fällt geringer aus.

Den Konfusionseffekt untersucht Prof. Dr. Ralph Tollrian, Evolutionsökologe und Experte für Biodiversität (die Vielfalt der Arten) an der Ruhr-Universität Bochum. „Das Schwarmverhalten ihrer Beute hat für viele Räuber Nachteile“, weiß Tollrian. Schon in den einfachen Versuchen mit Molch und Wasserfloh, die er mit seinem Team durchführt, zeigt sich: Die Bildung eines Schwarmes bringt Individuen, die allein eine schnelle Beute wären, enorme Vorteile.

Fluch und Segen zugleich

Zackenbarsch im Silverside-Schwarm
Zackenbarsch im Silverside-Schwarm

Der Schutz vor Fressfeinden, den das Schwarmverhalten den Tieren bietet, ist vielfältig. So reduziert sich zum einen der „Retationsdruck“, der Raubdruck. Denn das Geheimnis des Schwarms liegt im Verdünnungseffekt, der „safety in numbers“ also: der Sicherheit, die eine große Zahl von Artgenossen bietet. Je mehr Tiere sich im Schwarm tummeln, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen, gefressen zu werden.

Auch ein Vorteil des Schwarms ist sein Frühwarnsystem. Denn „mehr Augen sehen auch mehr“, so Tolllrian. Bei grasenden Gazellen in der afrikanischen Steppe kann man beobachten, wie immer wieder einzelne Tiere den Kopf heben, um nach Feinden Ausschau zu halten. Sieht es den Löwen anschleichen, macht es sich davon – und die anderen Tiere laufen instinktiv mit. Und bei Erdmännchen führt das zu dem drollig anmutenden Effekt des ständigen nickenden Kopfes.

Erdmännchen-Gruppe
Im Schwarm lässt sich’s besser nach Feinden Ausschau halten

Manche Tiere wehren sich auch mit Gift gegen Fressfeinde. Wespen beispielsweise verteidigen ihr Nest gegen Räuber, indem sie ihn stechen. Bei diesem Stich werden Alarmpheromone, also Botenstoffe, freigesetzt, die andere Wespen des Schwarms anlocken und ebenfalls zum Stechen animieren. So bekommt der Feind die vielfache Ladung des ätzenden Stoffes verpasst. Nicht zuletzt sparen die einzelnen Tiere im Schwarm auch viel Energie: Sie wenden weniger Zeit für die Nahrungssuche auf. Schützen sich gemeinsam gegen physikalische Faktoren wie Kälte oder Witterung. Und bewegen sich effektiver fort, zum Beispiel in der typischen V-Formation der Zugvögel. Ähnlich wie bei Radfahrern während des Mannschaftszeitfahrens, fliegen die Tiere im Windschatten des Leitvogels. Wird dieser müde, lässt er sich ans Ende des Schwarms zurückfallen und der nächste rückt nach. So haben Tiere mehr Kraft, sich gegen ihre Jäger zu wehren.

Des einen Freud ist des anderen Leid. Denn dem Räuber, auf dessen Speiseplan die Tiere stehen, machen deren Schutzmechanismen oft schwer zu schaffen. Ihre Angriffe werden entweder schon frühzeitig erkannt und die Beute kann flüchten. Oder der Jäger ist schier überwältigt von der Masse der Tiere und kann sich nicht mehr auf einzelne Opfer konzentrieren.

Schwarm oder nicht Schwarm

jagender Orca
Ein kräftiger Hieb mit der Fluke und die Beute des Orca ist erledigt

Doch nicht nur das Raubtier, dessen bevorzugtes Nahrungsmittel sich gern im Schwarm tummelt, leidet unter diesem Verhalten. Auch dem einzelnen Tier selbst können aus dem Schwarmverhalten seiner Gattung Nachteile entstehen. Wird beispielsweise das Futter knapp, muss es im Schwarm durch viele Organismen geteilt werde. Für das Individuum fällt dann mitunter weniger ab, als wenn es allein auf Nahrungssuche gehen würde.

Viele Räuber machen sich die Schwarmbildung ihrer Beute auch zunutze. Delfine oder Orcas sind darauf spezialisiert, Massen zu orten. Haben sie einen Fischschwarm entdeckt, setzt es einen kräftigen Schlag mit der Schwanzflosse mitten hinein. Wenig zielgerichtet, aber effektiv: Die Fische treiben betäubt oder tot im Wasser und müssen nur noch aufgesammelt werden. Und auch der größte Jäger der Erde, der Mensch, schlägt aus der Schwarmbildung vieler Fische Kapital. Denn so gehen ihm auf einen Schlag tausende Tiere ins Treibnetz. So kann er schon auf kleiner Fläche fette Beute machen.

Doktorfisch
Vertrieben von der eigenen Tierfamilie: Der Doktorfisch auf der Suche nach neuem Territorium

Manchmal werden einzelne Tiere dem „großen Ganzen“ geopfert: Es gibt Fischschwärme, die bei Feindkontakt zwei Botschafter aussenden, um die Lage zu erkunden Einer nähert sich vorsichtig dem Feind, dann zieht der andere wieder nach und so fort – haben sie Pech, landen sie im Verdauungstrakt des Jägers. Warum die Fische dies tun, ist allerdings noch unklar. Forscher vermuten jedoch, dass diese Tiere bei der Fortpflanzung eher zum Zug kommen. In Schwärmen höher entwickelter Tiere, beispielsweise einem Wolfsrudel, dürfen sich nur die Stärksten fortpflanzen. Das bedeutet: Nur Sex für die Alpha-Tiere, der Rest kann seine Gene nicht weitergeben – und geht in der Evolution unter.

Ist der Schwarm von Krankheiten, etwa Parasiten oder Viren befallen, können sich diese von Tier zu Tier rasend schnell verbreiten. Das gilt im Übrigen auch für den Menschen: Schnieft und keucht in der Grippesaison die ganze Straßenbahn, wird sich der einzelne das Virus schneller einfangen, als wenn er allein mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Erkrankt ein einzelnes Tier, kann in seltenen Fällen der Schwarm auch zur Falle werden. Denn dann sticht es im Vergleich zu seinen gesunden Artgenossen stärker hervor und wird eher Opfer eines Fressfeindes.

Tiere können sogar unter der Schwarmbildung der eigenen Familie leiden. So gibt es zwei Gattungen des Doktorfisches, der in warmen Meeresgewässern beheimatet ist. Eine davon bildet Schwärme, die andere lebt allein oder im Paar. Beide ernähren sich hauptsächlich von Makroalgen, die auf Steinen wachsen. Während der Doktorfisch im Schwarm überall auf Nahrungssuche geht, erobert sich der Einzelgänger ein eigenes Revier, in dem seine Leibspeise besonders gut gedeiht. Doch genau darauf haben es auch seine Artgenossen abgesehen und plündern mit Vorliebe das Territorium des einzelnen Doktorfischs. Auch wenn seine Gattung größer und kräftiger ist: Ab diesem Moment hat er keine Chance mehr und muss sich ein neues Revier erobern.

Die biblischen Plagen

Heuschrecke
Gefräßiger Geselle: Heuschrecken vernichten im Schwarm ganze Ernten

Auch der Mensch hat unter dem Schwarmverhalten mancher Tiere zu leiden: Schon in der Bibel ist die Rede von der Heuschreckenplage, die Ägypten befällt. Wenn sich der Himmel über den Feldern verdunkelt, wissen die Bauern: Die gefräßigen Gesellen sind wieder im Anflug. Wanderheuschrecken fressen ganze Landstriche in China, Südamerika und Afrika leer, vernichten dort komplette Ernten. Denn eine Wanderheuschrecke vertilgt pro Tag ihr eigenes Gewicht an Pflanzen. Die Schwärme dieser Spezies können mehrere Milliarden Tiere umfassen und Millionen Hektar Ackerland schädigen. In Mauretanien etwa vernichteten die Heuschrecken 2004 achtzig Prozent der Ernte des Landes. Ist diese „Naturgewalt“ erst einmal entfesselt, hat der Mensch ihr wenig entgegenzusetzen: Selbst das Versprühen von Insektiziden erweist sich als wirkungslos. Nur eine Trockenperiode kann dann die Plagegeister noch stoppen.

Auch die Menschen im Süden Europas und Norden Afrikas haben mit Schwärmen zu kämpfen. Ihr Feind: Der Star. Bauern sind nahezu machtlos, wenn ein Schwarm mit über einer Million Vögeln ihrem Weinberg, der Kirschplantage oder ihrem Olivenhain einen Besuch abstattet - und ihn restlos plündert. Das millionenstimmige Gezwitscher der Stare geht vielen Anwohnern gehörig auf die Nerven, von tonnenweise anfallenden Kotmengen ganz zu schweigen. Weder Dynamit noch Nervengifte konnten den Starmassen viel anhaben, von Schreckschüsse oder blinkende Lappen ganz zu schweigen. Heute behilft man sich mit riesigen Netzen, die über die gesamten Plantagen gespannt werden – ein riesiger Aufwand für die Bauern.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es jedoch für alle, die einem Schwarm oft „machtlos“ gegenüberstehen: Die Evolution. Denn bei der Jagd auf Schwärme machen in ein und derselben Tierart meist jene fette Beute, die über die besten sensorischen Fähigkeiten, also die effektivsten Sinnesorgane, verfügen. Damit sparen sie Energie, die sie verstärkt in ihre Fortpflanzung stecken können. Und tragen so mehr zum Genpool ihrer Nachfahren bei – die dann auch bessere sensorische Fähigkeiten „erben“. So wird die Natur dem Zackenbarsch vielleicht eines Tages feinfühligere und weniger störungsanfällige Mechanorezeptoren schenken. Irgendwann kriegt er alle Silversides – bestimmt.

Beitrag von Eva Heidenfelder
Bildquellen in Reihenfolge: Ralph Tollrian, flickr/M. Kuhn, flickr/pntphoto, flickr/themonnie, flickr/ullaegino, Jenny Sterzing

Zur Person

Eva Heidenfelder, 24, aus Miltenberg. Studiert Online-Journalismus in Dieburg. Weiß seit der Lektüre von Schätzings „Der Schwarm“, dass der auch zur Katastrophe führen kann. Wollte deshalb zeigen, dass das tierische Schwarmverhalten auch negative Effekte hat. Privat schwärmt sie für Patenkind Charlotte, ein Jahr alt. Und fürs Fotografieren.

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Themen: Biologie | Schwärme
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