Wir sind berechenbar – Wie sich das Verhalten von Menschenmassen voraussagen lässt.
Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Er will dahin, wo alle hin wollen und hat so das Sprichwort "Der Mensch ist ein Herdentier" erfunden. Aus dieser Neigung ergibt sich allerdings ein Problem: Wir stehen uns gegenseitig im Weg. Jeder will möglichst schnell ans Ziel und deshalb sind am Ende alle später dort. Das ist ein geringes Problem, solange wir uns nur frühmorgens am Eingang der neuen Ikea-Filiale stauen. Mehr als die gute Laune und der Erwerb der superbilligen Stövärd-Schreibtischlampe stehen dabei nicht auf dem Spiel. Wenn aber ein Schiff zu sinken droht oder ein Brand wütet, können verstopfte Notausgänge viele Leben kosten. Um das zu vermeiden, beschäftigen sich Wissenschaftler seit einigen Jahren mit dem Verhalten von Menschenströmen und der Frage, wie darauf abgestimmte Architektur aussehen muss.
Einfach gestrickt
Im Grunde, so fanden Forscher um den Züricher Professor Dirk Helbing heraus, folgen wir als Fußgänger recht einfachen Prinzipien. Erstens: Wir wählen gerne den direkten Weg, Umwege kosten schließlich Zeit und Energie. Zweitens: Wir gehen genau so schnell, wie es uns am genehmsten ist. Und Drittens: Wir halten bei aller Geselligkeit gerne etwas Abstand zu anderen Menschen und Hindernissen. Diese einfachen Grundregeln führen etwa in Fußgängerzonen zu einer Selbstorganisation der Menschenmasse. Es bilden sich aneinander vorbeifließende Ströme von Menschen, die in die gleiche Richtung unterwegs sind. Der Einzelne muss dadurch weniger Hindernissen ausweichen und die Masse kommt insgesamt schneller ans Ziel.
Wollen aber viele Menschen durch einen schmalen Korridor, wird es schon schwieriger. Wir blockieren uns gegenseitig, denn jeder will als Erster durch. Man denke nur an den Kaufhaus-Eingang am Samstagnachmittag: Eigentlich wäre die Tür breit genug, um zwei gegenläufige Ströme von Kaufwilligen und bereits erfolgreichen Käufern durchzulassen. Aber nein, wir latschen uns auf die Füße und rammen dem anderen die Glastür ins Gesicht.
Gefährliches Chaos
Wenn wir in Gefahr sind, wird unser Verhalten zusätzlich chaotisch. Wer Angst hat, neigt dazu, die Richtung zu wechseln und sein Heil woanders zu suchen. Auch verstärkt sich die Tendenz, dem Nebenmann zu folgen in der Hoffnung, der andere wisse einen Ausweg. Selbst in Gängen, in denen bei entspannter Atmosphäre der Menschenstrom ungehindert fließen würde, entstehen nun Staus. Wir überholen uns gegenseitig, wechseln unvermittelt die Richtung und machen ein Nebeneinander der Ströme unmöglich. An Ausgängen bilden sich durch den Druck der Flüchtenden Verstopfungen in Form eines Halbkreises, sodass gar nichts mehr geht. Diese entleeren sich oft nicht gleichmäßig durch den Ausgang, sondern plötzlich und schwallartig. Wer jetzt stürzt, ist in Lebensgefahr. In der Pilgerstadt Mekka etwa starben schon über tausend Menschen am Eingang zu einer Brücke, weil sie von ihren Religionsbrüdern totgetrampelt wurden. In den Medien ist dann von Massenpaniken zu lesen. Ein griffiges Wort, das der Forscher Prof. Dr. Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen allerdings für Blödsinn hält. "Panik ist ein Mythos", sagt er, "Menschen handeln selbst in sehr bedrohlichen Situationen noch rational." Den Zustand der Panik, bei dem sämtliche Sicherungen durchknallen, gebe es nicht. Es handele sich schlicht um Angst, was Hirnuntersuchungen im Kernspin-Tomographen bewiesen hätten. Die Entscheidung, in Richtung des Ausgangs zu drücken und zu drängeln, mag zwar in einer solchen Situation keine besonders weitsichtige sein, eine bewusste Entscheidung bleibt sie dennoch.
Hindernisse hindern nicht
Ausgehend von diesen Erkenntnissen, die Schreckenberg, Helbing und eine Reihe anderer Forscher durch empirische Beobachtung von realen Ereignissen erlangt haben, können Simulationen erstellt werden. "Der Mensch wird dabei quasi zu einem Teilchen, das nach bestimmten Eigenschaften und Wahrscheinlichkeiten agiert", erklärt Dirk Helbings Mitarbeiter Prof. Anders Fredrik Johansson von der Technischen Hochschule Zürich. Eine seltsame Vorstellung, möchte man den Menschen doch als Individuum begreifen. Aber es funktioniert. Für die Simulation einer Paniksituation am Kaufhauseingang braucht es zum Beispiel nicht allzu viel: Eine festgelegte Anzahl Punkte und einen in seiner Größe realistischen Durchgang. Die Punkte werden so programmiert, dass sie zu einem Ziel streben und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit unterschiedlich handeln, also zum Beispiel die Richtung verändern oder dem Nachbarpunkt folgen. Solche Simulationen haben erstaunliche Erkenntnisse gebracht. Postiert man zum Beispiel Säulen vor einem Ausgang, verhindern diese den Aufbau von halbkreisförmigen Verstopfungen. Die Menschenmasse passiert den Durchgang schneller. Verrückt, schließlich hat man ihr ein Hindernis in den Weg gestellt.
Simulation: 200 Menschen verlassen einen Raum in entspannter Atmosphäre
Simulation: 200 Menschen fliehen panikartig aus einem Raum
Simulation: 200 panische Menschen verlassen einen Raum durch einen Ausgang mit einer Säule davor
Simulationen in der Praxisanwendung
Die Simulation von Menschenmengen in einer bestimmten Umgebung kann also Leben retten, wenn kluge Fluchtwege das Verhalten des Menschen berücksichtigen. Entsprechende Simulationssoftware kann mit einem handelsüblichen Computer betrieben werden. In der Planung von neuen Gebäuden und Verkehrsmitteln, sagt Schreckenberg, werden entsprechende Programme auch durchaus angewandt, allerdings sei "viel Schund auf dem Markt".
Gerne würden unseriöse Simulationsprogramme zur Rechtfertigung von allzu knapper Planung benutzt. Nach dem Motto "Guck mal, den Gang kannste noch enger machen". Denn was fehlt, sind die Richtlinien und Vorschriften. Weder die Parameter einer solchen Software sind gesetzlich geregelt, noch muss bei der Planung eines Gebäudes überhaupt eine Simulation durchgeführt werden. Anders als etwa bei Passagierschiffen, bei denen Simulationen gesetzlich vorgeschrieben sind.
Um das zu ändern, hat Schreckenberg gemeinsam mit anderen Forschern das Projekt Rimea (Richtlinie für mikroskopische Entfluchtungs-Analysen) gestartet, das sich für die Durchsetzung einer gesetzlichen Regelung von Einsatz und Gestaltung von Simulationssoftware einsetzt. Im Normen-Dschungel Deutschland dürfte das doch kein Problem sein. Denn wenn wir schon so leicht zu berechnen sind, sollten wir das auch ausnutzen.
Zur Person
Nike Bodenbach, 22, studiert Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt.
