Darf ich vorstellen? Europas Wissenschaft

Euroscience Open Forum 2008Fünf Tage lang war Barcelona im Juli Schauplatz des „Euroscience Open Forum“. Sciencegarden hat ein paar Souvenirs vom größten interdisziplinären Treffen der europäischen Wissenschaft mitgebracht.

Ihr Kleid ist bunt und opulent. Sie ist eine Dame mit Ecken und Kanten. Vielleicht ist sie keine Schönheit, aber sie kann sich sehen lassen. Und das tut sie: Europas Wissenschaft präsentierte sich vom 18. bis 22. Juli 2008 in all ihrer Vielfalt im Palau de Congressos von Barcelona. Ihre Bühne war das dritte Euroscience Open Forum (ESOF) – das größte interdisziplinäre Treffen der europäischen Wissenschaft, das im Jahr 2004 in Stockholm erstmals und 2006 in München ein zweites Mal stattfand. Und offenbar wollten wirklich viele Neugierige einen Blick auf Europas Wissenschaft erheischen. Rund 4500 Teilnehmer und damit fast doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor in München waren dabei: Wissenschaftler – glücklicherweise auch viel Nachwuchs! – , Journalisten, Unternehmer und Politiker. Ein kunterbuntes Völkchen, das Lust hatte, dem interdisziplinären Treiben zu folgen und Wissenschaft und Öffentlichkeit einander näher zu bringen.

Die europäische Wissenschaft feiert sich selbst

Eröffnungsveranstaltung
Die große Eröffnungs­veranstaltung von ESOF im Spanischen Dorf, El Poble Espanyol, in Barcelona

Zumindest die Journalisten nahmen das auch sehr ernst, denn fast 500 von ihnen bevölkerten das Pressezentrum. Schlange stehen bei den gefragtesten Wissenschaftlern war insofern vorprogrammiert. Zur Not konnte man sich ja auch gegenseitig interviewen und zuhören, denn das ESOF-Programm bot zahlreiche Panels zum Thema „Wissenschaft kommunizieren“ an: von der Ethik im Wissenschaftsjournalismus und Podcasting war da die Rede, eine Gruppe Inder stellte ihre Wissenschafts-Cartoons, die „Scientoonics“, vor (an denen man merkte, das Humor etwas Kulturspezifisches ist), und die Fallstricke der Kommunikation von Spezialthemen wie Ernährung, Astronomie und Meeresforschung wurden gemeinsam eruiert.

Damit ist auch schon eine Besonderheit von ESOF skizziert: ESOF ist kein reiner Fachkongress, bietet aber Gelegenheit für einen Parforceritt durch die aktuelle Forschungsagenda Europas: Klima und Stammzellen, Energie, Ernährung und Hirnforschung waren nur einige der angebotenen Themen. Doch ESOF will noch mehr, denn zugleich geht es auch darum, die Annäherung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern, wissenschaftspolitische Themen aufzugreifen und zu diskutieren. Dabei steckt hinter ESOF keine EU-Bürokratie, sondern ein Kreis engagierter Forscher, Organisationen und Stiftungen, zusammengeschlossen in Euroscience, einer europäischen Graswurzelorganisation, die auch für interessierte Bürger offen ist. Vorbild für ESOF ist die jährlich stattfindende Tagung der American Association for the Advancement of Science (AAAS) in den USA.

Science in society

Vergnügliche Interviews in der Tapas-Bar: The „x-change“
Vergnügliche Interviews in der Tapas-Bar: The „x-change“

Unterfangen und Anspruch sind also gigantisch, und auch, wenn der eine oder andere die willkürliche Themenwahl kritisierte, das Motto „science for a better life“ ein wenig nichtssagend war oder „so richtig Neues“ doch nicht berichtet wurde: ESOF ist ein einmaliges Projekt, das den Spagat zwischen den Disziplinen, zwischen den Bereichen Wissenschaft, Politik und Medien und sogar zum „interessierten Laien“ wagt und erfolgreich schafft. Auch, wenn es manchmal vielleicht etwas wackelte, wie zum Beispiel bei der überwiegend drögen Eröffnungszeremonie, bei der schätzungsweise acht teils katalanisch brabbelnde Würdenträger und Ingrid Wünning Tschol von der Robert Bosch Stiftung als weiblicher Farbklecks ihren Dank abspulten – und nicht jeder Referent ein Glücksgriff war. Jeder Besucher von Fachkongressen weiß davon erst recht ein Lied zu singen. Aber ESOF ist ein mutiges Konzept, das versucht, die Vorstellung einer „science in society“ ernst zu nehmen und ihr ein Forum zu bieten, das zugleich aktuelle Forschungsthemen in hoher Verdichtung präsentiert.

Ein paar Spotlights aus dem Programm? Sehr gern.

  • Wissenschaft malen
    Gleich ein ganzes Panel war der Frage gewidmet, was Wissenschaft und Kunst miteinander zu schaffen haben. Und das ist eine Menge! Sie können sich gegenseitig inspirieren, lautet eine Antwort; eine andere, dass Kunst das Potenzial hat, Wissenschaft zu vermitteln, indem sie sinnliche Zugänge schafft. Hier konnte man vom Meeresforscher Odd Aksel Bergstad erfahren, wie es dazu kam, dass er den Maler Ornulf Opdahl auf eine Forschungsreise mitnahm – und sehen, wozu es führte: Zahlreiche ästhetisch ansprechende Bilder, die Forschungsergebnisse und -prozesse unmittelbar und intuitiv erfassbar machen. Die Zusammenarbeit ist nachhaltig: Ausstellungsprojekte und Veröffentlichungen dauern an, eine Jazzband lässt sich zu „Underwater“-Musik anregen und eine Bildhauerin entwirft Skulpturen von erdachten Meereswesen.

  • Von eingesperrten Gedanken
    Haben Sie den Film „Schmetterling und Taucherglocke“ gesehen? In ihm geht es um einen Patienten mit Locked-In Syndrom. Nach einem Schlaganfall oder einer schweren Nervenerkrankung ist dieser komplett gelähmt, eine Kommunikation mit der Außenwelt fast nicht mehr möglich, obwohl der Patient kognitiv vollkommen normal funktioniert. Ein hehres Ziel, solchen Patienten helfen zu wollen. Im Film kommuniziert Jean-Dominique Bauby über sein Augenlid, aber manche Patienten können nicht einmal dies. Eine Idee zur Hilfe sind daher Brain-Computer-Interfaces (BCI), Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer – am besten per in die Hirnrinde implantiertem Chip. Erste Testpersonen: Laboraffen. Leicht befangene Gesichter im Publikum, aber: „full house“, der Konferenzraum platzte aus allen Nähten. Und auf die Beklemmung folgte Ernüchterung. Zwar können menschliche Versuchspersonen mithilfe eines BCIs Briefe diktieren, aber ob sie das rein mittels Gedankenkraft tun oder doch durch leichte Muskelanspannung, ist kaum festzustellen. Und: Zu Menschen mit Locked-In Syndrom konnte noch kein Kontakt aufgebaut werden.

  • Eine Lektion in Ethik und Verantwortung
    Heutzutage wird jede Form von Wissenschaft daraufhin durchleuchtet, welchen – nicht zuletzt ökonomischen – Nutzen ihre Erkenntnisse haben könnten. Wer nur trägt für die möglichen „Ausgeburten“ der Grundlagenwissenschaft die Verantwortung? Der Wissenschaftler selbst? Die eingebundenen Ethikkommissionen? Der Verwertende? Wo steckt sie nur, die Verantwortung des Wissenschaftlers? Ulrike Felt von der Universität Wien gab in diesem spannenden Panel eine prägnante Antwort: „Responsibility lost in translation“ betitelte sie ihren Vortrag, der hart mit den neueren Entwicklungen ins Gericht ging: Verantwortung werde durch Agenturen, Kommissionen und Begutachtungsrichtlinien pseudo-professionalisiert und aus-, um- und weggelagert. Zur Antragsprosa gehörten heute auch vielerlei Versprechungen, die nie wieder ernsthaft geprüft werden. Statt fester Regulierungen brauche es einen permanenten Prozess der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftler und Bürger.

  • Glanz, Gloria und… manchmal ein Ausfall
    Umrahmt wurde das abwechslungsreiche, wissenschaftliche Programm von mehreren „Plenary“ und „Keynote Lectures“, die im einzig vollklimatisierten Raum stattfanden und vermutlich schon deshalb immer gut besetzt waren. Die professionellen Leistungen der hohen Herrschaften und einer Dame changierten zwischen versiertem und routiniertem Glanzstück der Unterhaltung (vom Mathematiker Marcus du Sautoy), skurriler bis leicht peinlicher Selbstinszenierung eines Nobelpreisträgers als Rebell (Richard J. Roberts, der „rebel with a cause“…) und unverständlichem zahlentheoretischen Kauderwelsch.

  • Edutainment für die breite Öffentlichkeit

    Die Physik des Tangos: Bei den „outreach activities“ wurde auch das Tanzbein geschwungen
    Die Physik des Tangos: Bei den „outreach activities“ wurde auch das Tanzbein geschwungen

    Trotz der kleinen Schönheitsfehler machte es schlicht und einfach Spaß, sich auf der bunten Streuwiese ESOF zu tummeln: Es war anregend, in einer Veranstaltungspause durch den großen Ausstellungsbereich mit Informationsständen von Förderorganisationen, Verlagen, Informationsdiensten und Zeitschriften zu schlendern; es war unterhaltsam, die zweite Kongresshalle zu besuchen, deren Angebot sich an die breite Öffentlichkeit und vor allem an Kinder richtete: Kleine Theaterstücke, Mitmach-Experimente (etwa um DNA aus Erbsen zu extrahieren), Tanzvorführungen (um Physik zu erklären), Filmchen, Spiele und allerlei lustige Aktion war bei den sogenannten „outreach activities“ zu finden, die den eigentlichen Kongress begleiteten. Und wer während des Tages im wissenschaftlichen Programm etwas verpasst hatte, bekam einen sehr guten Eindruck an jedem Abend um 19 Uhr in der Tapas-Bar. Dann war es dort Zeit für „The x-change“: Mit Witz und Charme – und wirklich interaktiv – trug die britische Wissenschaftsjournalistin Sue Nelson gemeinsam mit drei oder vier Referenten, die sie kurz befragte, eine Stunde lang die Highlights des Tages zusammen.

    Von Barcelona nach Turin

    Der Staffelstab geht weiter: Von Barcelona…nach Turin 2010
    Der Staffelstab geht weiter: Von Barcelona…nach Turin 2010

    Nach einem schwerfälligen Start fand ESOF seinen locker-leichten Abschluss in einer kleinen Übergabezeremonie im Mies van der Rohe Pavillon. Der Staffelstab geht nun weiter an Turin, wo dann im Jahr 2010 das nächste ESOF stattfindet. Und die Aussichten für die nette Dame mit dem Namen „europäische Wissenschaft“ sind gut: Für 2012 gibt es bereits drei Bewerbungen aus Dublin, Wien und Kopenhagen. Und ob Irish Pub, Kaffeehaus oder Tivoli – ins Gespräch wird die alte Lady dank ESOF wieder kommen.

    Beitrag von Claudia Gerhardt
    Bildquellen in Reihenfolge: Claudia Gerhardt (5)

    Links zum Thema

    • Offizielle Seite des „Euroscience Open Forum 2008“ mit allem drum und dran: das Pogramm, viele der gehaltenen Vorträge, Medienberichte, Videomitschnitte und und und...
    • Website der indischen Wissenschaftler, die ihre „scientific cartoons“ bei ESOF vorstellten
    • Blog der britischen Wissenschaftsjournalistin Sue Nelson zu ESOF

    Zur Person

    Claudia Gerhardt ist Redakteurin dieses Magazins.

Kategorien

Themen: Wissenschaft | Wissensgesellschaft
Anzeigen
Anzeige
backprinttop

Newsfeeds

Online-Recherche

Suchmaschinen, Infos, Datenbanken » mehr

Rezensionen

Buchrezensionen der sg-Redaktion » mehr

Wettbewerbe

Forschungswettbewerbe in der Übersicht » mehr

Podcasts

Übersicht wissenschaftlicher Podcast-Angebote » mehr

Newsletter

anmelden
abmelden
?
Mitmachen

/e-politik.de/

Aktuelle Beiträge:

Raumfahrer.net

Aktuelle Beiträge:

Eureka! Science News

Aktuelle News:

Anzeigen