"Ein obrigkeitsgesteuertes Europa verspielt sein Erbe"
sg: Nach ihrer Entscheidung gegen den „Lissabon-Vertrag“ sind die Iren der Buhmann Europas. Zu Recht?
Roman Huber: Auf keinen Fall! In Irland müssen internationale Verträge per Referendum ratifiziert werden. Dies müssen alle politischen Akteure akzeptieren. Kommentare à la „die Iren haben sich gegen 500 Millionen Europäer entschieden“ sind absolut fehl am Platze. Die Irischen Wähler haben sich gegen den Vertrag von Lissabon entschieden und dies aus guten Gründen. Sie haben sich somit nicht gegen Europa, sondern gegen ganz bestimmte Vertragsinhalte gewandt.
sg: Welches Szenario halten Sie denn nach dem negativen irischen Referendum für wahrscheinlich?
RH: Wahrscheinlich werden die Eliten der europäischen Politik nun in ein altes Muster europäischer Einigungspolitik zurück verfallen und durch marginale Zugeständnisse an die Kritiker des Reformvertrages ein weiteres Mal versuchen, den Lissabon-Vertrag wie zuvor schon den Verfassungsvertrag durchzusetzen. Möglich ist auch ein opting-out – eine nicht bindende Wirkung von bestimmten Teilen des Vertrags. Dies hat man im Falle Irlands schon beim Nizza-Vertrag und auch bei der Ablehnung des Maastricht-Vertrags durch Dänemark getan. Man wird versuchen den Bürgern ein altes, bereits mehrfach abgelehntes Konzept als eine Neuerung und Verbesserung zu verkaufen.
sg: Befürworter von „Lissabon“ betonen, dass Demokratie und Transparenz durch den „Reformvertrag“ deutlich gestärkt werden.
RH: Das geht völlig an der Realität vorbei. Grundlegende Ursachen des Demokratiedefizits bleiben vom Lissabonner Vertrag unberührt. Dem Parlament, dem am besten legitimierten Organ der EU, wird weiter das Initiativrecht für Gesetze vorenthalten. Somit ist die Politikgestaltungsfunktion des Parlamentes stark eingeschränkt. Auch das zweite zentrale Parlamentsrecht – das Haushaltsrecht – ist beschnitten, der Militärhaushalt ist der Kontrolle des Parlaments entzogen.
sg: Immerhin kann das EU-Parlament die „EU-Regierung“, die Kommission, berufen.
RH: Ja, so wie heute. Das Parlament kann aber nicht selbstständig Kandidaten vorschlagen, sondern kann nur über die Kandidaten, die ihm vom Europäischen Rat vorgesetzt werden, abstimmen. Es kann nicht selbst auf die Zusammensetzung der Kommission Einfluss nehmen. „Lissabon“ bricht nicht mit der Dominanz der demokratisch ungenügend legitimierten Exekutivorgane der EU.
sg: Ist der Lissabon-Vertrag tatsächlich nur der neu aufgegossene Verfassungsvertrag von 2005?
RH: Ja. Der Text des Vertrages stimmt zu 95% mit dem des abgelehnten EU-Verfassungsvertrages überein. Die Referenden der Franzosen und Niederländer, die 2005 diese Verfassung ablehnten, werden ad absurdum geführt. Auch durch den neuen Vertrag erhält die EU weitere Kompetenzen, ohne dass die Bürger darüber entscheiden könnten, ob sie dies wollen. Die zentralistischen Entscheidungsstrukturen in der EU würden endgültig zementiert werden.
sg: Ist es richtig, dass demnächst die Regierungen der Mitgliedstaaten im Alleingang den Vertragstext ändern könnten?
RH: Zum Teil. Durch das „vereinfachte Änderungsverfahren betreffend der internen Politikbereiche der Union“ ist es möglich, einen Großteil der Politiken der EU - insgesamt betrifft dies 170 Artikel - ohne eine Regierungskonferenz und ohne Zustimmung des Europäischen Parlamentes zu ändern, sofern es nicht zu einer Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union kommt. Das ist allerdings eine hohle Phrase. Denn diese Zuständigkeitserweiterung bezieht sich auf die Politikbereiche. Dabei ist die Union aber jetzt schon für fast alles zuständig. Auf jeden Fall ist für eine solche Vertragsänderung ein einstimmiger Ratsbeschluss nötig, es müssen also alle Mitgliedstaaten zustimmen. Im Unterschied zum ordentlichen Verfassungsänderungsverfahren wird allerdings nicht von einer „Ratifikation“, sondern lediglich einer „Zustimmung“ gesprochen. Es ist daher unklar, ob die Zustimmung der nationalen Parlamente überhaupt erforderlich ist.
sg: Gibt es dann eigentlich überhaupt noch Kontrollmöglichkeiten dieser Exekutiventscheidungen?
RH: Die Kontrollfunktion des EU-Parlamentes greift auf jeden Fall nicht, und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Staaten eine Zustimmung durch die nationalen Parlamente als notwendig ansehen, könnte kann man aufgrund der „Durchwinkmentalität“ der Parlamentarier und ihren oft geringen Kenntnissen der komplexen EU-Politik wahrscheinlich nicht von einem effektiven Kontrollmechanismus sprechen. Wir müssen daher befürchten, dass die nationalen Regierungen wohl relativ unkontrolliert Änderungen der EU-Verträge vornehmen werden. Zwar könnten die Völker ihrem Staatschef vorschreiben, dass er nur zustimmen darf, wenn etwa das Parlament oder gar das Volk den Vertragsänderungen zugestimmt hat. Deutschland aber sieht zum Beispiel eine solche Zustimmungspflicht nicht vor. Bundestag und Bundesrat werden zwar mit jedem Rechtsakt der Union befasst, können aber lediglich eine Stellungnahme abgeben, die von der Bundesregierung berücksichtigt werden soll. In der Praxis bleiben diese Stellungnahmen völlig bedeutungslos.
sg: Sie sprechen also von der Entmachtung des Bürgers?
RH: In der Tat. Diese Ermächtigung führt zu einer dramatischen Entdemokratisierung: Die europäischen Staatschefs könnten weit gehende und verbindliche Änderungen in Feldern wie zum Beispiel der Währungspolitik, der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, der Verkehrspolitik, der Innenpolitik, der Justizpolitik, der Polizeipolitik und vielen weiteren vornehmen, ohne dass nach dem Lissaboner Vertrag die Bürger Europas zustimmen müssten.
sg: Wenn „Lissabon“ derart dramatische und demokratiewidrige Änderungen mit sich bringt : Warum hat eigentlich eine öffentliche Debatte im Prinzip nie stattgefunden?
RH: Das kann man als durchaus politisch gewollt ansehen. Die europäische Integration war von jeher ein Projekt der politischen Eliten, in dem eine Beteiligung der Bürger höchstens in marginaler Form vorgesehen war. Man kann von einer Art Europaverdrossenheit sprechen, der Bürger hat nicht mehr das Gefühl, überhaupt etwas verändern zu können. Die Vertragstexte sind oft undurchschaubar und die Entscheidungen auf EU-Ebene für den Bürger kaum mehr nachvollziehbar. Zudem waren die Bürger am Entwurf des Verfassungsvertrags beziehungsweise des Lissabon-Vertrags nicht beteiligt. Selbst unter den Mitgliedern des Deutschen Bundestages herrschte zum Großteil erschreckende Unwissenheit über die Inhalte des Vertrages.
sg: Wie sah es denn in den wenigen Ländern aus, wo die Bürger um ihre Zustimmung gefragt wurden?
RH: In Frankreich, den Niederlanden und Irland gab es sehr heftige und kontroverse Debatten über den Verfassungs- sowie über den Reformvertrag. Viele gesellschaftliche Gruppen diskutierten das Für und Wider des Vertrages. Dort wo der Bürger gefragt wird, setzt er sich auch mit komplexen Thematiken auseinander. Eine von uns in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage zeigt, dass auch in Deutschland die Bürgerinnen und Bürger die Ausarbeitung eines Verfassungsvertrages selbst in die Hand nehmen wollen. Nur 9 Prozent der Befragten sind der Meinung, die Staats- und Regierungschefs sollten mit der Aufgabe der Ausarbeitung eine Verfassung für Europa betraut werden. Mehr Berechtigung bekamen die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament mit 15 beziehungsweise 20 Prozent zugesprochen. Das mit Abstand größte Vertrauen aber hatten die Befragten mit 43 Prozent in eine von den EU-Bürgern eigens für diese Aufgabe gewählte verfassunggebende Versammlung.
sg: Und das wäre auch Ihr Vorschlag?
RH: Die Berufung eines Verfassungskonvents durch die Bürger wäre ein erster Schritt. Dessen Vertragsentwurf müsste dann durch Referenden in den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Die EU benötigt eine föderalere Struktur mit klaren Kompetenzabgrenzungen. Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo sie auch ihre Auswirkung entfalten. Das ist das eigentliche Subsidaritätsprinzip, das gestärkt werden muss.
sg: Was ist mit den EU-Institutionen?
RH: Neben einer weit gehenden Stärkung des Europäischen Parlamentes durch ein Gesetzesinitiativrecht und das volle Haushaltsrecht wäre etwa die Schaffung einer Staatenkammer sinnvoll, die die Interessen der Mitgliedsstaaten vertritt. Sie würde dann den Ministerrat ersetzen. Um das Übergewicht der Exekutive auf Europäischer Ebene zu brechen, würden die Vertreter in dieser Kammer nicht von den Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern von den nationalen Parlamenten entsandt werden. Wie dem Parlament käme auch der Staatenkammer ein Gesetzesinitiativrecht zu, für die Gesetzgebung wären also beide zuständig. Zusätzlich könnte diese Staatenkammer, die Aufgabe übernehmen, das Subsidaritätsprinzip zu wahren. Europa kann nur demokratisch gelingen. Ein undemokratisches, obrigkeitsgesteuertes Europa verspielt das Erbe, auf das es gegründet ist – und über kurz oder lang auch die Unterstützung seiner Bürger. Ein demokratisches Europa dagegen hat sie verdient und wird sie auch gewinnen.
Links zum Thema
- Internetseiten von Mehr Demokratie e.V.
- Dokumentationen von Mehr Demokratie zum Lissabon-Vertrag, zum irischen Referendum und Materialien mit eigenen Vorschlägen für ein demokratisches Europa
- Das Ende der Demokratie? sciencegarden-Artikel zum Reformvertrag von Lissbon
Zur Person
Joachim Jachnow ist Redakteur dieses Magazins.

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Die EU-kommission betreibt die Renaissance der Atomenergie, ist daher nicht demokratisch, weil die Gesundheit der Menschen gefaehrdet ist/ geschaedigt wird.