Feyerabend-Lektüre

Paul Feyerabend: ZeitverschwendungDie Autobiographie des 1994 verstorbenen Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend ist ein akademischer Schelmenroman allererster Güte und eine Inspirationsquelle für angehende Akademiker, die fröhliche Wissenschaft betreiben wollen, sich aber nicht recht trauen.

Er war ein schräger Vogel und ein Außenseiter, der an den renommiertesten Universitäten Europas und Amerikas lehrte. Berühmt wurde er in den 1960er- und 70er-Jahren, als er die Wissenschaftstheorie unter dem Motto „Anything goes“ vom Kopf auf die Füße stellte. Doch das Wichtigste im Leben war ihm am Ende – die Liebe. Ein Jahr vor seinem Tod 1993 hat er darüber und über seine Wiener Jugend, den Krieg, der ihn zum Krüppel machte, seine rastlosen Wanderjahre und den Zauber der Oper einen akademischen Schelmenroman geschrieben, der an Souveränität, Ironie und Zärtlichkeit kaum zu überbieten ist.
Die Rede ist von Paul Karl Feyerabends Autobiographie, die vor dreizehn Jahren im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Schon der Titel – Zeitverschwendung (im Original: Killing Time) – ist Provokation. Und die beherrschte der Schüler des ebenfalls berühmten Wieners und Wissenschaftstheoretikers Sir Karl Raimund Popper wie kein zweiter.

Paul Feyerabend
Paul Feyerabend

Nach einer Phase quasi religiöser Hingabe an die ,harten‘ Naturwissenschaften geißelte Feyerabend bald ausgiebig die arrogante und irreführende „PR der Wissenschafts-Mafia“, die hehre Maßstäbe wie Rationalität und Objektivität in seinen Augen bloß vorgaukelte. Für ihn, der unter anderem in Bristol, später in Berkeley und schließlich in Zürich an der Eidgenössischen Technischen Hochschule lehrte, gab es nämlich nicht ,die‘ eine, beste, wahre wissenschaftliche Methode, um zu ,objektiven‘ Ergebnissen zu kommen. In Methodenfragen, so stichelte er, sei vielmehr ,alles erlaubt‘, die meteorologische Wettervorhersage ebenso valide wie die Regentänze des Schamanen. Erkenntnisgewinn und Wissenschaftsfortschritt folgten eher anarchistischen und irrationalen Anti-Regeln als einer präzisen und soliden Logik der Forschung, wie sein Lehrer Popper annahm. Und zwischen Wissenschaft und Kunst sah er mehr Schnittpunkte als mancher Biologe oder Physiker mit seinem Fachkollegen.

Für die Mehrheit der Wissenschaftler war das im Jahr 1974, als Feyerabend sein Hauptwerk Against Method (zu Deutsch: Wider den Methodenzwang) veröffentlichte, ein gewaltiger Schock. Die narzisstische Kränkung durch Feyerabends radikale Kritik, die am innersten Selbstverständnis der Forscher rührte, hatte wütende Gegenangriffen zur Folge, die so verletzend gewesen sein müssen, dass der ansonsten für seine Unbekümmertheit bekannte Renegat wünschte, er hätte sein „fucking book“ nie geschrieben.

Ein Glück für uns, dass er es doch getan hat. Mit seiner Autobiographie hat er seinen Fans ein letztes großes Geschenk gemacht. Wissenschaftshistoriker und Literaturliebhaber, Philosophen, interessierte Laien und Menschenfreunde werden mit einer Lebenserzählung belohnt, die im Gegensatz zur Biographienschwemme unserer Tage echte Tiefe hat und Funken schlagenden Witz – und nebenbei eine Persönlichkeitsbildungsreise darstellt, zu deren Stationen nicht bloß Astronomie und Logik, Philosophie und Physik, sondern auch Kabarett, Theater, Oper, Sex und Wrestling gehörten. Zutaten für einen Menschen und akademischen Lehrer, den man gerne näher gekannt hätte.

Feyerabends Stil, sein trockener Humor, seine berührende Melancholie sind so außergewöhnlich (für einen homo academicus), dass man sie kaum beschreiben kann. Wenn Feyerabend seine Wiener Kindheit skizziert, die er zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr als eifriger Beobachter am Küchenfenster verbrachte, dann liest sich das beispielsweise so: „Am Freitag erhielten die Arbeiter ihren Wochenlohn, gingen ins nächste Wirtshaus und betranken sich. Zwischen zwei und drei Uhr nachts – ich schlief, aber der Lärm weckte uns alle auf – erschienen die Ehefrauen, um ihre Männer heimzuholen. Es war ein eindrucksvoller Anblick: riesige Frauen hielten winzige Männer am Kragen und brüllten mit polternder Stimme: „Du Trachinierer! Du Scheißer! Du Oasch! Wo san die Moneten?“ Sogar der Postbote landete in der Gosse [...]. Drinnen schlugen die Frauen ihre Ehemänner (und umgekehrt), Eltern schlugen ihre Kinder (und umgekehrt), Nachbarn schlugen sich gegenseitig.“
Über seine schwere Kriegsverletzung, die dem jungen Feyerabend lebenslange Schmerzen, eine Krücke und Impotenz bescheren, spricht er so lakonisch wie John Cleese in einen Monty Python-Sketch: „Plötzlich brannte mein Gesicht. Ich griff an meine Wange. Blut. Dann spürte ich etwas an meiner rechten Hand. Ich sah sie an. In meinem Handschuh klaffte ein großes Loch. Das gefiel mir gar nicht. Die Handschuhe waren aus hervorragendem Leder und ich hätte sie gerne durch den Krieg gerettet.“

Immerhin rettete er sich. Der ziel- und manchmal zügellose Bursche, den die Nazizeit und der Selbstmord der Mutter ziemlich kalt gelassen hatten, stürzte zunächst, getrieben von grenzenloser Neugier, Adrenalin und Sendungsbewusstsein, kopfüber in die Wissenschaft und in die geliebte Musiktheaterszene (die er ausführlich beschreibt), reiste um die ganze Welt, war ängstlich und manchmal lebensmüde, lernte die Berühmtheiten verschiedenster Fächer kennen, hatte zahllose Affairen und schluckte – nach Erscheinen des Methodenbuchs – aus lauter Verzweiflung monatelang starke Schlafmittel. Die tief verwurzelte Ambivalenz und Rastlosigkeit, der „Zirkel aus Abhängigkeit, Isolation und erneuter Abhängigkeit“, der Feyerabend mit den meisten Frauen und vielleicht mit Menschen überhaupt verband, löste sich erst in seinen letzten Jahren.
Nun fühlte er sich nicht mehr „ohne allgemeines Ziel“, vorläufig und unfertig. Seine letzte Frau, Grazia Borrini-Feyerabend, hatte daran entscheidenden Anteil. Sie habe ihn, so seine berührende Einsicht, „aus einem eisigen Egoisten in einen Freund, Gefährten und Ehemann verwandelt“. Für sie wollte der Pensionist, der froh war, dem akademischen Betrieb entkommen zu sein („Ich vergaß die 35 Jahre meiner akademischen Karriere fast so schnell, wie ich meinen Militärdienst vergessen hatte“), einfach nur das Abendessen zubereiten und den Abwasch besorgen, wenn sie, die Jüngere, von der Arbeit kam; mit ihr wollte er seine Vortragshonorare auf Reisen verbraten. Der Krebs hat ihm diesen – größten – Wunsch verwehrt, so wie die Schüsse im Krieg eigene Kinder.

Auch wenn der letzte Satz des Buches lautet: „Das ist es, was ich mir wünsche: nicht daß mein Geist weiterlebt, sondern allein die Liebe“, kann man für die Wissenschaft nur hoffen, dass ein Schuss Feyerabendscher Lebenskunst in ihren Köpfen erhalten bleibt – oder besser wieder auflebt! Gegen den Publikationswahn beispielsweise, die akademische Unsitte, „daß jemand um so besser vorankommt, je mehr Texte er verbricht“, die Heiligenverehrung der Professoren, die manchmal selber dümmer sind als erlaubt, den Unsinn öder Vorlesungen („Ich habe meinen Studenten oft geraten, nach Hause zu gehen, weil die offiziellen Skripten alles enthielten, was sie wissen mußten“) und gegen Seminare, in denen Angst herrscht, statt freier Rede – kurz: gegen zu viel Zeitverschwendung und zu viel ernste Beflissenheit im Intellektuellenzirkus. Dann wird die Verheißung der „fröhlichen Wissenschaft“ eines Tages vielleicht doch noch wahr.

Für alle, die sich den Spaß auch in der Zwischenzeit nicht verderben lassen wollen, noch ein letzter Feyerabend-Tipp: „Ich rate dringend allen Autoren, die ihren Mitmenschen etwas mitteilen wollen, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen, und wenn sie es schon tun, sich nicht von Obskuranten wie Derrida einschüchtern und beeinflussen zu lassen, sondern statt dessen Schopenhauer oder Kants volkstümliche Schriften zu lesen.“ In diesem Sinn: Gute Feyerabend-Lektüre!

Beitrag von Christian Dries
Bildquellen in Reihenfolge: Suhrkamp-Verlag, Grazia Borrini-Feyerabend

Links zum Thema

  • Paul Feyerabend in der Stanford Encyclopedia of Philosophy
  • Karl Popper bei Wikipedia

Zur Person

Christian Dries ist Chefredakteur dieses Magazins und mag Wissenschaft, weil und solange Menschen wie Paul Feyerabend dazu gehören.

Literatur

  • Paul Feyerabend (1995): Zeitverschwendung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 250 S., geb., 9,45 bis 19,90 Euro (auch als Taschenbuch erhältlich)
  • Ders. (2007): Wider den Methodenzwang. 10. Aufl. Frankfurt/M.
  • Ders. (1984): Wissenschaft als Kunst. Frankfurt/M.

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Themen: Philosophie | Wissenschaft
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